History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

Unterdessen merkten die Syrakuser und ihre Verbündeten, als es Tag geworden, daß die Athener abgezogen waren, und im Heere hatte man Gylippos in Verdacht, er habe sie ab­ sichtlich entkommen lassen. Auch nahmen sie die Verfolgung der Athener in der Richtung, in welcher sie abgezogen waren, die sie unshcwer feststellen konnten, unverzüglich auf und holten sie um die Frühstückszeit wieder ein. Als sie auf die Truppen des Demosthenes stießen, welche Hintennach zogen und noch infolge des nächtlichen Schreckens nur langsam und ohne Ord­ nung von der Stelle kamen, fielen sie sofort über sie her, und es kam zum Gefecht. Die syrakusischen Reiter konnten sie um so leichter umfassen und auf einen Fleck zusammendrängen, da sie von den übrigen getrennt waren. Das Heer des Nikias

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war schon fünfzig Stadien voraus. Denn Nikias war schneller marschiert, da er glaubte, daß es in solcher Lage nicht darauf ankomme, unbedingt standzuhalten und zu kämpfen, sondern heilsamer sei, so rasch wie möglich weiterzuziehen und sich nur im äußersten Notfall auf eine Schlacht einzulassen. De­ motshenes dagegen mit dem Nachtrabe hatte die ganze Zeit einen schweren Stand gehabt, da die Feinde ihren Angriff immer zuerst auf ihn richteten. Als er sah, daß die Syrakuser hinter ihm her waren, hielt er es für richtiger, statt den Rück­ zug fortzusetzen, seine Leute zur Schlacht zu ordnen, verlor darüber aber so viel Zeit, bis er von ihnen eingeholt und um­ ringt wurde und er mit seinen Athenern in eine verzweifelte Lage geriet. Sie waren nämlich auf ein Feld zusammen- gedrängt, das mit vielen Älbäumen bestanden und rings mit einer Mauer umgeben war und auf beiden Seiten einen Ans­ gang hatte, wo sie nun von allen Seiten beschossen wurden. Auf diese Weise fochten die Syrakuser natürlich lieber als Mann gegen Mann in offener Schlacht. Denn in einem Kampfe auf Leben und Tod gegen Verzweifelte konnten die Athener eher auf Sieg rechnen als sie. Außerdem wollten sie ihre Kräfte schonen, da sie offenbar auch so schon gewonnen Spiel hatten, und glaubten, daß ihre Gegner auch durch solchen Kampf mürbe werden und sich ihnen ergeben würden.

Nachdem sie die Athener und ihre Verbündeten den ganzen Tag von allen Seiten beschossen hatten, und nun sahen, wie diese durch Wunden und sonstige Leiden bereits völlig erschöpft waren, ließen Gylippos und die Syrakuser und ihre Ver­ bündeten ihnen zunächst durch einen Herold ankündigen, die Jnselleute könnten, wenn sie wollten, unter Zusicherung der Freiheit zu ihnen übergehen. Wirklich ging auch die Mann­ schaft aus einigen, wenn auch nur wenigen Städten zu ihnen über. Darnach kam es auch mit den übrigen zu einer Über­ einkunft, wonach das ganze Heer des Demotshenes die Waffen streckte unter der Bedingung, daß niemand gewaltsam oder durch Einkerkerung oder Entziehung der nötigen Nahrung ums Leben gebracht werden solle. Im ganzen waren es sechstausend

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Mann, die sich ergaben. Alles, was sie an Geld bei sich hatten, mußten sie abliefern und in umgekehrte Schilde werfen. Es wurden vier Schilde voll, die man sogleich nach der Stadt brachte. Nikias aber erreichte mit seinem Heere an dem Tage den Erineos, ging über den Fluß und ließ es auf einer An­ höhe ein Lager beziehen.

Als die Syrakuser ihn am folgenden Tage einholten, teilten sie ihm mit, daß Demotshenes sich mit dem ganzen Heere ergeben habe, und forderten ihn auf, das ebenfalls zu tun. Er wollte das aber nicht glauben und erwirkte sich die Erlaubnis, erst einen Reiter abzuschicken, um sich davon zu überzeugen. Als dieser zurückkam und bestätigte, daß das Heer sich in der Tat ergeben habe, ließ Nikias Gylippos und den Syrakusern sagen, er sei bereit, ein Abkommen mit ihnen zu treffen und sich im Namen der Athener zur Erstattung der den Syrakusern erwahcsenen Kriegskosten zu verpflichten, wenn man ihm mit dem Heere freien Abzug gewähre. Bis zur Zahlung des Geldes würde er ihnen Athener als Geiseln stellen, und zwar je einen auf ein Talent. Gylippos und die Syra­ kuser gingen jedoch auf sein Anerbieten nicht ein, sondern griffen die Athener an, umringten sie auch hier von allen Seiten und beschossen sie bis in die Nacht. Beim Mangel an Lebensmitteln waren die Athener in schlimmer Lage. Gleich­ wohl beschlossen sie, die Stille der Nacht wahrzunehmen und abzuziehen. Auch nahmen sie wirklich schon die Waffen auf, als die Syrakuser das merkten und ihren Schlachtgesang an­ stimmten. Da die Athener einsahen, daß die Sache ausgekommeu war, legten sie die Waffen wieder ab, bis auf etwa dreihundert Mann, welche sich durch die feindlichen Feldwachen durch- schlugen und in der Nacht aufs Geratewohl das Weite suchten.

Als es Tag wurde, brach Nikias mit seinen Leuten auf. Die Syrakuser aber waren gleich hinter ihnen her und be­ schossen sie auch jetzt wieder mit Pfeilen und Speerwürfen. Die Athener suchten nun so schnell wie möglich den Assinaros zu erreichen, teils weil sie hofften, den beständigen Angriffen

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der Reiterei und des übrigen Kriegsvolks weniger ausgesetzt zu sein, wenn sie den Fluß erst hinter sich hätten, teils weil sie aufs äußerste erschöpft waren und sich nach Trinkwasser sehnten. Als sie an den Fluß kamen, stürzten sie ohne alle Ordnung hinein, und jeder wollte zuerst hinüber, auch drangen die Feinde schon- auf sie ein und ershcwerten ihnen den Über­ gang. Denn da sie gezwungen waren, sich in dichter Masse vorwärts zu schieben, so fielen sie ein übereinander, traten sich unter die Füße, und von Spießen und scharfen Gerätschaften durchbohrt kamen viele von ihnen gleich auf der Stelle um, oder wurden, ineinander verwickelt, von der Strömung fort­ getrieben. Inzwischen waren die Syrakuser auf das andere, abschüssige Ufer des Flusses vorgedrungen und beschossen die Athener von oben, während diese im Flusse tranken und sich in dem tiefen Flußbette selbst im Wege waren. Die Pelo­ ponnesier aber stiegen von oben in den Fluß hinunter und richteten hier unter ihnen ein furchtbares Blutbad an. Das Wasser wurde sogleich ungenießbar; trotzdem wurde es, mit Schlamm und Blut vermischt, wie es war, immer noch von vielen getrunken, und einer machte es dem anderen streitig.

Endlich, als im Flusse die Toten schon massenhaft über­ einanderlagen, und die Leute teils im Flusse, teils, soweit sie etwa entkommen, von der Reiterei zusammengehauen wurden, ergab sich Nikias an Gylippos, dem er sich lieber anvertrauen wollte als den Syrakusern. Er überließ es ihm und den Syrakusern, mit ihm zu machen, was sie wollten, bat aber, das Morden gegen seine Leute einzustellen. Hierauf befahl Gylippos, sie leben zu lassen und gefangen zu nehmen. Bis auf die, welche man schon heimlich beiseite geschafft hatte, wurden sie denn auch lebend eingebracht. Auch die dreihundert, welche sich in der Nacht durchgeschlagen hatten, wurden ver­ folgt und ebenfalls zu Gefangenen gemacht. Doch war die Zahl der öffentlich eingebrachten Gefangenen nicht sehr bedeutend, um so größer dagegen die Menge derer, welche heimlich weg­ geschafft und über ganz Sizilien verstreut wurden, da sie nicht wie die Leute des Demosthenes auf Grund einer Übereinkunft

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in Gefangenschaft geraten waren. Zudem war ein großer Teil des Heeres auf dem Platze geblieben Denn im ganzen sizilischen Kriege war keine Schlacht so blutig gewesen wie diese, und auch in den anderen zahlreichen Gefechten, welche das Heer auf dem Marsche zu bestehen gehabt hatte, waren nicht wenige gefallen. Immerhin gelang es vielen, durch die Flucht zu entkommen, entweder sogleich, oder hinterher aus der Sklaverei, wobei ihnen Katana als Zufluchtsort diente.

Nachdem die Syrakuser und ihre Verbündeten sich ge­ sammelt, nahmen sie alles, was ihnen an Gefangenen in die Hände gefallen war, sowie die erbeuteten Waffen mit und zogen wieder nach der Stadt zurück. Die Athener und deren Bundesgenossen, welche in Gefangenschaft geraten waren, brachten sie in die Steinbrüche, Nikias und Demosthenes aber ließen sie hinrichten, obgleich Gylippos damit nicht einverstanden war. Gylippos hoffte nämlich, hohen Ruhm damit einzulegen, wenn er den Lakedämoniern nun obendrein auch die feindlichen Feldherren mit einbringen könnte. Zufällig aber war der eine grade ihr gefährlichster Feind, der es ihnen auf der Insel und bei Pylos angetan, der andere der Mann, der sich ihrer dieser­ halb aufs wärmste angenommen hatte. Denn Nikias war damals, als er die Athener zum Abschluß des Friedens bewog, für die Herausgabe der auf der Insel gefangenen Lakedämonier lebhaft eingetreten. Dafür waren die Lakedämonier ihm freund­ lich gesinnt, und hauptsächlich aus diesem Grunde hatte auch er sich vertrauensvoll an Gylippos ergeben. In Syrakus aber fürchteten manche, die früher, wie erwähnt, Verbindungen mit ihm unterhalten hatten, er möchte darüber auf der Folter Aus­ sagen machen, die ihnen den Hals kosten würden, während andere, namentlich die Korinther, besorgten, bei seinem Reich­ tum könnte er vielleicht Leute finden, die ihm für ein Stück Geld zur Flucht verhülfen, und ihnen später von neuem zu schaffen machen. Die brachten die Bundesgenossen auf ihre Seite, und man ließ ihn hinrichten. Diese oder auch ähnliche Rücksichten wurden die Ursache, daß er durch Henkershand endete, obwohl grade er, dem zeitlebens die Tugend Richtschnur

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seines Handelns gewesen war, unter allen Griechen meiner Zeit ein solches Schicksal denn doch am wenigsten verdient hatte.

Die Gefangenen in den Steinbrüchen wurden von den Syrakusern die erste Zeit mit großer Grausamkeit behandelt. In enger, tiefer Schlucht massenhaft eingepfercht und nicht unter Dach, litten sie erst entsetzlich von Sonne und Hitze; dann wieder brachen infolge des mit dem Eintritt der kalten Herbstnächte verbundenen Temperaturwechsels Krankheiten unter ihnen aus, zumal sie bei der Enge des Raumes alles an dem­ selben Orte verrichten mußten und die Leichen der an ihren Wunden, den durch den Temperaturwehcsel verursachten Krank­ heiten oder aus anderen Gründen Gestorbenen haufenweis da­ lagen und einen unerträglichen Geruch verbreiteten. Außerdem wurden sie von Hunger und Durst gequält; denn sie erhielten acht Monate lang täglich jeder nur eine Kotyle Wasser und . zwei Kotylen Mehl. Dazu kamen alle möglichen, mit einem solchen Aufenthalt unausbleiblich verbundenen Beschwerden. Auf diese Weise brachten sie an die siebzig Tage alle zusammen zu. Dann behielt man nur die Athener und die sizilischen und italischen Griechen, welche den Feldzug mitgemacht hatten, dort zurück und verkaufte die übrigen als Sklaven. Im ganzen betrug die Zahl der Gefangenen, wenn es auch schwierig ist, sie genau festzustellen, doch mindestens siebentausend. Es war dies das folgenschwerste Ereignis, von dem Griechenland nicht nur in diesem Kriege, sondern meiner Ansicht nach im Verlauf der griechischen Geschichte überhaupt jemals betroffen worden ist, ebenso glänzend für die Sieger wie verhängnisvoll für die Besiegten. Denn diese hatten in jeder Hinsicht eine vollständige Niederlage und die schwersten Verluste erlitten und sozusagen den letzten Mann, ihr Heer und ihre Flotte verloren. Auch kamen von so vielen nur wenige wieder nach Hause. So viel über die Ereignisse in Sizilien.