History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

Infolge dieser Meldung ließen diese die Nacht verstreichen, weil ihnen gar nicht einfiel, es könne sich dabei um eine Täuschung handeln. Und da sie bei alledem nicht gleich auf­ brachen, beschlossen sie, auch noch den folgenden Tag zu warten, damit die Soldaten Zeit hätten, womöglich wenigstens das Notwendigste zusammenzupacken, dann aber alles übrige im Stich zu lassen und sich nur mit dem für die Leibesnotdurft Unentbehrlichen auf den Weg zu machen. Inzwischen waren Gylippos und die Syrakuser mit dem Landheere ausgerückt, hatten die Wege, welche die Athener vermutlich einschlagen mußten, durch Verhaue gesperrt, die Übergänge der Flüsse und Bäche besetzt und die ihrer Meinung nach geeigneten Stellungen eingenommen, um das athenische Heer zu empfangen und ihm den Weg zu verlegen. Mit ihren Schiffen aber fuhren sie an die Schiffe der Athener heran und holten sie vom Strande;

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denn die Athener hatten nur wenige ihrem Plane gemäß selbst schon in Brand gesteckt; die übrigen nahmen sie, sowie sie flott geworden, in Schlepptau und brachten sie, ohne auf Widerstand zu stoßen, in aller Ruhe an die Stadt.

Darauf, als Nikias und Demosthenes glaubten, daß alles so weit sei, erfolgte dann endlich am dritten Tage nach der Schlacht der Aufbruch des Heeres. Es war entsetzlich, nicht nur der ganze Vorgang an sich, wie sie so nach Verlust ihrer sämtlichen Schiffe abzogen und die glänzenden Hoffnungen für sich und ihre Stadt zunichte geworden waren, sondern auch was jeder einzelne beim Abzüge aus dem Lager an herzzerreißenden Auftritten mit ansehen mußte. Denn die Toten waren noch nicht begraben, und jeden, der einen seiner Angehörigen so da­ liegen sah, überkam Schmerz und Grauen. Die Verwundeten aber und die Kranken, die man liegen ließ, waren in den Augen der Überlebenden noch beklagenswerter als die Toten und in der Tat schlimmer dran als die schon Umgekommenen. Vor ihrem Flehen und Wehklagen wußte man sich nicht zu lassen. Wenn einer von ihnen einen seiner Freunde oder An­ gehörigen erblickte, so rief er ihn an und bat, ihn doch mitzu­ nehmen, klammerte sich an die abziehenden Zeltgenossen und schleppte sich ihnen nach, so weit er konnte, bis ihm dann die Kräfte ausgingen und er nach allem Jammer und Beschwören schließlich liegen blieb. So kam das Heer vor lauter Tränen und Schwierigkeiten kaum von der Stelle, obwohl es auS Feindesland abzog, wo es bisher schon schwere Leiden bis zum Übermaß ausgestanden und auch in Zukunft gewiß noch weiter zu befürchten hatte. Niedergeschlagen und verdrossen, wie sie waren, überhäuften sich die Leute selbst mit Vorwürfen. Es sah aus wie die Flucht der Einwohner aus einer eroberten Stadt, und keiner kleinen Stadt, denn die ganze sich fort­ wälzende Masse betrug mindestens vierzigtausend. Dabei schleppte jeder möglichst alles mit sich, was er brauchen konnte, und auch die Hopliten und die Reiter mußten, was sie sonst nicht gewohnt waren, neben ihren Waffen ihre Lebensmittel selbst tragen, weil sie entweder keine Diener mehr hatten oder ihnen

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nicht trauten; denn die waren ihnen meist schon längst oder eben jetzt entlaufen. Aber auch was sie an Lebensmitteln bei sich hatten, reichte nicht aus, da die Vorräte im Lager alle ge­ worden waren. Und wenn es sonst ein gewisser Trost im Unglück ist, daß man es nicht allein trägt, sondern mit vielen Leidensgefährten teilt, so wurde es darum doch in diesem Augenblick nicht minder schwer empfunden, zumal wenn man bedachte, wie diese anfangs so stolze und glänzende Unter­ nehmung so kläglich endete. Denn in der Tat war dies der größte Glückswechsel, den ein griechisches Heer jemals erlebt hatte. War man gekommen, um andere zu unterjochen, so mußte man jetzt, um nicht selbst zugrunde zu gehen, das Weite suchen, statt freudiger Gebete und Schlachtgesänge, mit denen man in See gegangen, nur Unkenrufe hören, statt zu Schiff zu Lande abziehen, statt des Matrosen jetzt den Hopliten spielen. Gleichwohl erschien das alles noch erträglich gegenüber der Größe der noch weiter drohenden Gefahren.

Als Nikias das Heer so entmutigt und völlig verwandelt sah, schritt er die Reihen ab und suchte die Leute möglichst zu beruhigen und ihnen Mut einzusprechen, wobei er, wie er von einem zum andern kam, im Eifer und um möglichst weit verständlich zu werden, die Stimme immer lauter erhob.

„So schlimm es auch augenblicklich mit uns steht, Athener und Bundesgenossen, die Hoffnung dürfen wir darum nicht aufgeben. Auch in schlimmeren Lagen ist mancher noch glück­ lich durchgekommen. Auch über die Niederlagen und das un­ verdiente Mißgeschick, das euch jetzt betroffen, braucht ihr euch keine Vorwürfe zu machen. Ich selbst bin ja nicht besser dran als einer unter euch; ihr seht ja, wie ich durch meine Krank­ heit von Kräften gekommen bin. Während mich das Glück bisher sowohl in meinen eigenen Angelegenheiten wie auch sonst zu begünstigen schien, schwebe ich jetzt in derselben Gefahr wie der geringste Mann. Und doch habe ich meine Pflichten gegen die Götter nie verabsäumt und mich gegen meine Mit­ menshcen stets rechtschaffen und vorwurfsfrei benommen. Des­ halb sehe ich auch jetzt mit vollem Vertrauen in die Zukunft,

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und unsere Unglücksfälle schrecken mich nicht so, wie sie sonst wohl sollten. Auch werden sie gewiß bald ein Ende nehmen. Denn die Feinde haben schon Glück genug gehabt, und wenn wir etwa durch den Zug hier ins Land den Neid eines Gottes erregt, so haben wir dafür bereits reichlich gebüßt. Sind doch schon manche andere in fremde Länder eingefallen und, da das eben menschlich, dabei leidlich weggekommen. Wir haben also guten Grund zu hoffen, daß die Gottheit von nun an gnädiger mit uns verfahren wird, da wir jetzt denn doch eher das Mit­ leid als den Neid der Götter verdienen; und wenn ihr auf euch selbst seht, wie ihr in Wehr und Waffen so zahlreich in Reih und Glied eure Straße zieht, so braucht ihr euch wahrlich nicht zu fürchten und nicht daran zu zweifeln, daß ihr, wo immer ihr euer Lager schlagt, gleich selbst eine Stadt seid und keine andere in Sizilien so leicht imstande sein wird, euren Angriff aufzunehmen oder euch aus eurer Stellung zu vertreiben. Nur müßt ihr selbst darauf halten, daß euer Marsch in guter Ordnung vor sich geht, und alle davon durchdrungen sein, daß jedem der Fleck Erde, wo er zu fechten gezwungen ist, wenn er siegt, zur Stadt und Festung werden wird. Bei alledem müssen wir unseren Weg ohne Aufenthalt Tag und! Nacht fortsetzen; denn unsre Lebensmittel sind knapp. Haben wir aber erst befreundetes Gebiet der Sikeler erreicht, die aus Furcht vor Syrakus noch zu uns halten, so dürft ihr euch bereits als geborgen ansehen. Wir haben ihnen auch schon Befehl geschickt, uns entgegenzukommen und Lebensmittel mit­ zubringen. So viel aber kann ich euch sagen, Leute, ihr müßt alle euern Mann stehen; denn wolltet ihr Fersengeld geben, so ist hier in der Nähe kein Ort, wohin ihr euch retten könntet. Gelingt es euch aber durchzukommen, so werdet ihr alle das wiedersehen, wonach euch das Herz steht; ihr aber, Athener, werdet auch die jetzt schwer erschütterte Macht eurer Vaterstadt wieder aufrichten. Denn Männer machen die Stadt, nicht Mauern und leere Schiffe."

Auf diese Weise suchte Nikias, während er die Reihen entlang ging, seine Leute zu ermutigen, und wo er sah, daß

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Unordnung oder Lücken entstanden waren, ließ er sie wieder aufschließen und die Ordnung herstellen. Ebenso machte es Demosthenes, indem er ähnliche Worte an die Seinigen richtete. Das Heer bildete auf dem Marsche ein längliches Viereck, vorn die Abteilung des Nikias, dahinter die des Demosthenes. Die Packträger und den zahlreichen Troß hatten die Hopliten in die Mitte genommen. Als sie an die Brücke des Anapos kamen, fanden sie den Fluß von Truppen der Syrakuser und ihrer Verbündeten besetzt. Nachdem sie diese geworfen und sich des Übergangs bemächtigt hatten, setzten sie ihren Marsch fort. Die Syrakuser aber ließen ihnen keine Ruhe, ihre Reiter waren ihnen beständig zur Seite, und das leichte Volk beschoß sie mit Wurfspeeren. Die Athener legten an dem Tage etwa vierzig Stadien zurück und blieben die Nacht am Fuße eines Hügels unter freiem Himmel. Am folgenden Tage brachen sie in der Frühe auf, rückten etwa zwanzig Stadien weiter vor und ge­ langten dann in eine Ebene hinunter, wo sie ein Lager schlugen, um sich dort, da das Land bewohnt war, etwas zu essen zu verschaffen und mit Wasser zu versorgen. Denn in dem Land­ strich, den sie vor sich hatten, gab es auf viele Stadien nicht Wasser genug. Unterdessen gewannen ihnen die Syrakuser einen Vorsprung ab und verschanzten den Weg, auf dem sie weiterziehen mußten. Er führte über einen schwierigen Höhen­ zug mit steilen Abhängen auf beiden Seiten, den sogenannten Akraiischen Klint. Am anderen Tage zogen die Athener weiter. Die Reiter und die Speerschützen der Syrakuser und ihrer Verbündeten aber, die in großer Menge zur Stelle waren, suchten sie daran zu hindern, drangen von beiden Seiten auf sie ein und beschossen sie mit Wurfspeeren. Nach längerem Kampfe gingen die Athener wieder in ihr altes Lager zurück, konnten sich aber hier keine Lebensmittel mehr holen, da sie sich der Reiter wegen nicht vom Lager entfernen durften.

Frühmorgens brachen sie von neuem auf und dachten, sich mit Gewalt den Weg über den verschanzten Höhenzug zu bahnen. Hinter der Verschanzung aber sahen sie sich dem feindlichen Fußvolk, welches bei der Enge des Raumes in

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tiefen Gliedern stand, in Schlachtordnung gegenüber. Nun versuchten die Athener das Schanzwerk zu tsürmen. Da sie aber von der steilen Höhe mit Geschossen überschüttet wurden, die, da sie von oben kamen, um so besser trafen, und deshalb nicht durchdringen konnten, so zogen sie sich wieder zurück, um auszuruhen. Zufällig stellten sich auch einzelne Donnerschläge mit heftigem Regen ein, wie das, wenn es schon auf den Herbst geht, nichts Ungewöhnliches ist. Infolgedessen aber verloren sie vollends den Mut und glaubten, daß alles das nur zu ihrem Untergange dienen solle. Während die Athener ausruhten, schickten Gylippos und die Syrakuser einen Teil ihres Heeres ab, um ihnen im Rücken auch den Weg, auf dem sie gekommen waren, durch Vershcanzungen zu versperren. Dagegen schickten die Athener jedoch ebenfalls eine Anzahl ihrer Truppen ab und verhinderten es. Darauf zogen sie sich mit dem ganzen Heere wieder mehr in die Ebene zurück und blieben dort über Nacht. Am folgenden Tage setzten sie sich wieder in Marsch; nun aber griffen die Syrakuser sie an, umringten sie von allen Seiten und verwundeten viele. Gingen die Athener vor, so wichen sie aus, zogen sie sich zurück, so drangen sie auf sie ein, wobei sich besonders auf den Nachtrab warfen, um das Heer bei kleinem zu schlagen und womöglich ganz aufzureiben. Nach­ dem die Athener den Kampf auf diese Weise längere Zeit aus­ gehalten und dabei fünf bis sechs Stadien zurückgelegt hatten, machten sie in der Ebene halt, um auszuruhen. Aber auch die Syrakuser ließen jetzt von ihnen ab und gingen in ihr Lager zurück.

Angesichts der bedenklichen Lage des Heeres, da es gänzlich an Lebensmitteln fehlte und in den beständigen Gefechten mit dem Feinde schon so viele verwundet nnd kampfunfähig ge­ worden waren, beschlossen Nikias und Demotshenes, in der Nacht so viele Feuer wie möglich anzuzünden und mit dem Heere abzuziehen, aber nicht auf dem Wege, den sie eigentlich nehmen wollten, sondern in entgegengesetzter Richtung nach der See, wo ihnen die Syrakuser nicht aufpaßten. Dieser Weg führte also überhaupt nicht nach Katana, sondern nach der

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anderen Seite Siziliens, auf Kamarina und Gela und die übrigen griechischen und nichtgriechischen Städte in jener Gegend. Auch zogen sie in der Nacht, nachdem sie viele Feuer ange­ zündet hatten, wirklich ab. Und wie es in allen, namentlich in großen Heeren manchmal vorkommt, daß sie plötzlich in Furcht und Schrecken geraten, so ging es hier auch den Athenern, zumal sie bei Nacht und in Feindesland und in unmittelbarer Nähe des Feindes abzogen. Die Abteilung des Nikias, welche die Spitze bildete, hielt allerdings zusammen und gewann einen großen Vorsprung, von der des Demosthenes aber blieb etwa die Hälfte, ja mehr noch als die Hälfte, hinter den übrigen weit zurück und hielt auf dem Marsche keine Ordnung. In­ dessen gelangten sie doch bei Tagesanbruch an die See und schlugen nun die sogenannte Elorische Straße ein, um, wenn sie den Kakyparis erreicht, längs des Flusses landeinwärts zu ziehen, wo sie die von ihnen benachrichtigten Sikeler zu treffen hofften. Allein als sie an den Fluß kamen, fanden sie auch hier einen syrakusischen Posten vor, der ihnen den Übergang durch Mauern und Verhaue zu verwehren suchte. Nachdem sie den über den Haufen geworfen, überschritten sie den Fluß und zogen dann gleich weiter nach einem anderen.Flusse, dem Erineos; denn so hatten ihre Führer ihnen den Weg ange­ geben.