History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

Als die Nachricht nach Athen kam, wollte man dort auch den angesehensten Kriegern, die selbst nur mit genauer Not davongekommen waren und zuverlässige Nachrichten vom Kriegsshcauplätze mitbrachten, lange nicht glauben, daß die ganze Unternehmung so völlig gescheitert sei. Nachdem man sich endlich doch davon überzeugt, richtete sich die Erbitterung gegen die Redner, die dazu geraten, als ob man nicht selbst auch dafür gestimmt hätte, aber auch gegen die Zeichendeuter, Wahrsager und alle, welche damals durch Prophezeiungen die Hoffnung erregt hatten, daß man Sizilien erobern würde. All und jedes trug dazu bei, den Athenern das Herz schwer zu machen, und das eingetretene Mißgeschick versetzte sie aufs äußerste in Schrecken und Bestürzung. Denn nicht nur emp­ fanden sie die Verluste der einzelnen und den so unersetzlichen Verlust, den die Stadt an Fußvolk, Reiterei und junger Mann­ schaft erlitten, mit tiefstem Schmerz, sondern sie sahen auch, daß sie aus den Werften nicht Schiffe genug, im Staatsschatze kein Geld und für die Flotte keine Seeleute mehr hatten, und gaben alle Hoffnung auf, sich unter diesen Umständen noch weiter behaupten zu können. Außerdem fürchteten sie, die Feinde in Sizilien würden nach einem solchen Siege mit ihrer Flotte sogleich vor dem Peiraieus erscheinen, ihre hiesigen, nunmehr ja doppelt so starken Feinde aber ihnen die Bundesgenossen abtrünnig machen und mit diesen zu Lande und zur See über sie hersallen. Gleichwohl beschlossen sie, soweit es ihre Mittel gestatteten, nicht nachzugeben, womöglich eine neue Flotte aus­ zurüsten und dazu Holz und Geld zusammenzubringen, auch sich der Bundesgenossen und namentlich Enboias zu versichern. In der Stadt aber sollte auf die größte Sparsamkeit Bedacht genommen und eine Behörde von älteren Männern eingesetzt werden, um die jeweilig zu ergreifenden Maßregeln vorher zu begutachten. Wie immer im ersten Schrecken, so war das ganze Volk auch jetzt willig und bereit, seine Pflicht zu tun.

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Und wie sie beschlossen, so gingen sie dann auch ans Werk. Damit endete der Sommer.

Infolge der großen Niederlage der Athener in Sizilien standen die Griechen im nächsten Winter gleich alle gegen sie ans. Die Neutralen glaubten sich jetzt auch ohne besondere Aufforderung am Kriege beteiligen und von selbst gegen die Athener auftreten zu müssen, da sie sämtlich überzeugt waren, daß diese nach einem Siege in Sizilien unfehlbar über sie hergefallen sein würden. Überdies nahmen sie an, der Krieg würde nicht lange mehr dauern, ihnen aber zur Ehre gereichen, auch daran teilgenommen zu haben. Die Bundesgenossen der Lakedämonier wiederum sehnten sich jetzt alle mehr noch als schon bisher danach, der ewigen Mühen und Plagen je eher je lieber überhoben zu werden. Besonders eilig aber hatten es die Untertanen der Athener damit, deren Herrschaft abzu­ schütteln, auch wenn ihre Kräfte dazu nicht ausreichten, da sie die Verhältnisse mit Leidenschaft beurteilten und nicht berück­ sichtigten, ob sie auch nur imstande sein würden, den Sommer über auszuhalten. Das alles diente dazu, die Politik der Lake­ dämonier um so zuversichtlicher zu machen, zumal sie darauf rechnen konnten, daß ihre Bundesgenossen aus Sizilien mit ansehnlicher Macht, zu der im Dränge der Not nun auch noch die Flotte gekommen war, im Frühjahr zu ihnen stoßen würden. Bei diesen in jeder Beziehung günstigen Aussichten hielten sie es für unbedenklich, den Krieg nachdrücklich aufzunehmen, in der Hoffnung, wenn sie ihn glücklich beendigt, solchen Ge­ fahren, wie sie ihnen von den Athenern nach der Unterwerfung Siziliens gedroht, überhoben zu sein und nach Vernichtung ihrer Macht selbst in den unbestrittenen Besitz der Hegemonie über ganz Griechenland zu gelangen.

Ihr König Agis brach dann auch gleich in diesem Winter mit einer Anzahl Truppen von Dekeleia auf, um bei den Bundesgenossen Geld für die Flotte aufzubringen. Den Oitaiern, jenen alten Feinden dort am Melischen Meerbusen, trieb er die Herden weg und preßte ihnen Geld ab. Die Achäer in der Phtiotis und die übrigen tkessaliscken Untertanen in jener

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Gegend nötigte er, trotz aller Einwendungen und Proteste der Thessaler, ihm Geld und Geiseln zu geben, die er nach Korinth in Gewahrsam brachte, und suchte sie zu bewegen, dem Bunde beizutreten. Die Lakedämonier aber bestimmten, die Bundes­ staaten sollten hundert Schiffe stellen, und zwar sie selbst und die Böotier je fünfundzwanzig, Phokier und Lokrer fünfzehn, Korinth fünfzehn, Arkadier, Pellene und Sikyoner zehn, und Megara, Epidauros, Troizeu und Hermione zehn. Überhaupt richteten sie sich darauf ein, den Krieg gleich bei Beginn des Frühjahres zu eröffnen.

Aber auch die Athener waren, wie sie das beschlossen hatten, in diesem Winter darauf bedacht, Schiffe zu bauen, und ver­ sahen sich dazu mit Holz, auch befestigten sie Sunion, damit ihre Getreideschiffe dort sicher vorbeikommen könnten. Den festen Platz an der lakonischen Küste, den sie auf der Fahrt nach Sizilien angelegt hatten, gaben sie auf und schränkten auch sonst aus Sparsamkeit alle unnötigen Ausgaben möglichst ein. Hauptsächlich hatten sie ein wachsames Auge auf die Bundesgenossen, um deren Abfall zu verhüten.

Während beide Teile so am Werk waren und sich wie zum erstenmal von neuem zum Kriege rüsteten, ershcienen in diesem Winter zuerst Gesandte der Euboier bei Agis, um wegen ihres Abfalles von den Athenern mit ihm zu verhandeln. Er ging auf ihre Anträge ein und ließ Alkamenes, Stenela'idas' Sohn, und Melanthos zur Übernahme des Befehls auf Euboia aus Lakedämon kommen. Die kamen auch mit etwa dreihundert Neodameden bei ihm an, und er machte schon Anstalt, sie nach der Insel überzusetzen. Inzwischen aber fanden sich auch Lesbier bei ihm ein, die ebenfalls abfallen wollten. Da die Böotier sich für sie verwandten, ließ Agis sich bereden, Euboia vorläufig aufzugeben, um zunächst den Aufstand der Lesbier zu unterstützen. Er gab ihnen Alkamenes, der eben nach Euboia abfahren wollte, zum Statthalter, die Böotier aber und Agis selbst versprachen ihnen je zehn Schiffe zu schicken. Bei alle­ dem war die lakedämonische Regierung nicht zugezogen worden. Denn so lange Agis mit seinem Heere bei Dekeleia stand,

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war er selbständig befugt, Truppenteile zu verschieben oder zusammenzuziehen und Gelder einzutreiben. Auch hörten die Bundesgenossen zu der Zeit im Grunde mehr auf ihn als auf die Regierung in Lakedämon; denn er mit seinem Heere war jeden Augenblick in der Lage, ihnen auf die Kappe zu kommen. So nahm er sich auch jetzt der Lesbier an. Die Chier und Ery­ thraier dagegen, welche ebenfalls abfallen wollten, wandten sich nicht an Agis, sondern nach Lakedämon. Zugleich mit ihnen erschien dort ein Gesandter des Tissaphernes, der da­ mals Satrap des Königs Dareios, Artaxerxes' Sohn, im Küstengebiete war; denn auch Tissaphernes wünschte mit den Peloponnesiern anzuknüpfen und versprach, ihnen Lebensmittel zu liefern. Der König hatte nämlich kürzlich die Steuern aus seiner Provinz von ihm gefordert, die er der Athener wegen von den griechischen Städten nicht erheben konnte und noch schuldig war. Nun hoffte er, nach Demütigung der Athener eher zu jener Steuer zu gelangen, zugleich aber die Lakedämonier zu Bundesgenossen des Königs zu machen, auch Amorgos, den natürlichen Sohn des Pissuthnes, der sich in Karien unab­ hängig gemacht hatte, dem ihm erteilten Befehle des Königs gemäß lebendig ausliefern oder hinrichten lassen zu können. Die Chier und Tissaphernes zogen also hierin einen Strang.

Um dieselbe Zeit kamen Kalligeitos, Laophons Sohn, auS Megara, und Timagoras, Athenagoras' Sohn, aus Kyzikos, welche beide aus ihrer Heimat verbannt waren und bei Pharna­ bazos Aufnahme gefunden hatten, als dessen Abgesandte nach Lakedämon, um für die Sendung einer Flotte nach dem Helles­ pont zu wirken. Denn wie Tissaphernes, so wünschte auch Pharnabazos die Städte in seiner Provinz der Steuern wegen zum Abfall von Athen zu bestimmen und von sich selber ein Bündnis der Lakedämonier mit dem König zustande zu bringen. Da beide, die einen für Pharnabazos, die anderen für Tissa­ phernes, unabhängig voneinander verhandelten, kam es unter ihnen in Lakedämon zu heftigem Streit, indem diese darauf drangen, Schiffe und Truppen zuerst nach Chios und Ionien, jene dagegen, sie zuerst nach dem Hellespont zu schicken. Die

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Lakedämonier waren jedoch überwiegend für Chios und Tissa­ phernes, zumal auch Alkibiades dafür eintrat, der mit dem dortigen Ephoren Endios von alters her durch Gastfreundschaft eng verbunden war, wie denn auch seine Familie dieser Gast­ freundschaft wegen den lakonischen Namen übernommen hatte. Denn Endios' Vater hieß Alkibiades. Indessen sandten die Lakedämonier Phrynis, einen Periöken, doch zunächst mal nach Chios, um sich an Ort und Stelle zu überzeugen, ob man dort wirklich so viel Schiffe hätte, wie man versicherte, und die Stadt überhaupt so leistungsfähig wäre, wie die Angaben darüber glauben machen wollten. Als dieser dann bei seiner Rückkehr bestätigte, daß es damit seine Richtigkeit habe, nahmen sie Chios und Erythrai sogleich in ihren Bund auf und be­ schlossen, ihnen vierzig Schiffe zu schicken, da nach den Ver­ sicherungen der Chier mindestens sechzig dort schon vorhanden waren. Anfangs wollten sie selbst ihnen unter Melankridas, dem Befehlshaber ihrer Flotte, gleich zehn davon schicken. Nachdem jedoch ein Erdbeben eingetreten war, beschlossen sie, nicht Melankridas, sondern Chalkideus hinzuschicken und statt der zehn Schiffe in Lakonien nur fünf anszurüsten. Damit endete der Winter und das neunzehnte Jahr des Krieges, welchen Thukydides beschrieben, hat.

Gleich im Beginn des nächsten Frühjahres drangen die Chier aus Furcht, die Athener könnten von den Abmachungen Wind bekommen, auf unverzügliche Absendung der Schiffe. Alle jene Verhandlungen waren nämlich hinter dem Rücken der Athener geführt. Infolgedessen schickten die Lakedämonier drei Spartiaten nach Korinth mit der Weisung, man solle die i Schiffe von drüben schleimigst in die athenische See holen und mit allen, sowohl den von Agis für Lesbos bestimmten wie den übrigen, sofort nach Chios abgehen. Im ganzen zählte die dortige Bundesflotte neununddreißig Segel.