History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

Nun schickten die Lakedämonier Brasidas zwar haupt­ sächlich auf seinen eigenen Wunsch hinaus, aber auch die Chalkidier hatten um ihn gebeten, weil er in Sparta für einen unternehmenden und besonders tatkräftigen Mann galt, wie

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re sich denn auch in diesem Feldzuge große Verdienste um die Lakedämonier erwarb. Durch sein gerechtes und maßvolles Auf­ treten den Städten gegenüber brachte er sie meist gleich auf seine Seite oder gewann sie durch Verrat, so daß die Lake­ dämonier in der glücklichen Lage waren, wenn sie Frieden schließen wollten und später wirklich schlossen, solche Plätze gegen andere auszutauschen und sich des Krieges im Peloponnes zu entledigen. Auch war es besonders der damals bewiesenen Tüchtigkeit und Klugheit des Brasidas zu verdanken, die den Bundesgenossen der Athener aus Erfahrung oder doch von Hörensagen bekannt war, daß diese sich in der Zeit nach dem sizilischen Kriege zu den Lakedämoniern hingezogen fühlten. War er doch der erste, der zu ihnen kam, und in jeder Be­ ziehung ein so prächtiger Kerl, daß sie fest glaubten, die Lake­ dämonier müßten alle so sein.

Damals, als die Athener von seiner Ankunft an der thrakischen Küste hörten, meinten sie, Perdikkas habe ihn zu dem Zuge veranlaßt, und behandelten diesen als Feind, hatten seitdem auch ein wachsameres Auge auf ihre dortigen Bundes­ genossen.

Sobald Brasidas mit seinem Heere zu ihm gestoßen war, zog Perdikkas gegen Arrhibaios, Bromeros' Sohn, den König der makedonischen Lynkester, zu Felde, seinen Grenzn ach baren, mit dem er in Streit lag und den er unterwerfen wollte. Als er und Brasidas im Begriff waren, mit dem Heere nach Lynkos einzurücken, erklärte Brasidas, er wolle sich vor Beginn der Feindseligkeiten erst selbst zu Arrhibaios begeben und ihn wo­ möglich in Güte zu einem Bündnis mit den Lakedämoniern zu bewegen suchen. Arrhibaios hatte ihm nämlich schon durch einen Herold seine Bereitwilligkeit andeuten lassen, sich seiner schiedsrihcterlichen Entscheidung zu unterwerfen, und die chalki­ dischen Gesandten, die dabei zugegen gewesen, hatten empfohlen, Perdikkas die Sache nicht gar zu leicht zu machen, damit er auch für ihre Zwecke zu haben wäre. Außerdem hatten auch die Gesandten des Perdikkas in Lakedämon sich dahin geäußert, er werde den Lakedämoniern in seiner Nachbarschaft zahlreiche

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Bundesgenossen verschaffen, so daß Brasidas schon mit Rück­ sicht darauf den Streit mit Arrhibaios lieber durch eine persön­ liche Zusammenkunt sbeizulegen wünschte. Perdikkas aber er­ klärte,^ er habe ihn nicht als Schiedsrichter gerufen, sondern damit er ihm die Leute, die er ihm als seine Feinde bezeichne, bezwingen helfe, und es sei unrecht von ihm, während er seinerseits das Heer zur Hälfte ernähre, sich mit Arrhibaios in Verhandlungen einzulassen. Trotzdem begab sich Brasidas gegen den Willen des Perdikkas nach diesem Wortwechsel zu Arrhibaios und verständigte sich mit ihm, zog auch, noch bevor es zum Einfall in dessen Land kam, mit seinem Heere ab. Perdikkas aber fühlte sich dadurch gekränkt und zahlte seitdem statt der Hälfte nur noch ein Drittel der Verpflegungskosten.

Gleich nahcher in demselben Sommer kurz vor der Ernt rückte Brasidas mit seinem durch Chalkidier verstärkten Heere vor Akanthos, die Kolonie von Andros. Hier kam es zwischen dem Volke und der Gegenpartei, die ihn und die Chalkidier ge­ rufen hatte, darüber zum Streit, ob man ihn einlassen sollte. Aus Furcht für die noch draußen stehende Ernte ließ sich das Volk jedoch von Brasidas überreden, ihn allein einzulassen, um ihn zunächst mal zu hören und darnach weiter zu beschließen, und so wurde er eingelassen. Nun trat er vor der Volksversammlung auf, - für einen Lakedämonier war er nämlich kein schlechter Redner, - und redete sie also an:

,Ich bin mit dem Heere von den Lakedämoniern heraus- geschickt, Akanthier, um den Krieg in Wahrheit zu dem zu machen, was er nach unserer Erklärung zu Beginn desselben von vornherein sein sollte, ein Krieg gegen die Athener für die Freiheit Griechenlands. Wenn wir erst jetzt kommen, nachdem wir uns in der Erwartung getäuscht sahen, auch ohne euch in Mitleidenschaft zu ziehen, im Kriege mit den Athenern dort allein bald fertig zu werden, so mache man uns daraus keinen Vor­ wurf; sind wir doch jetzt, sobald es uns möglich war, erschienen und wollen versuchen, mit euch vereint sie zu bezwingen. Es wundert mich, daß ihr die Tore vor mir verschließt, statt mich mit Freuden aufzunehmen. Denn wir Lakedämonier glaubten

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hier Leute zu finden, die unS als Bundesgenossen willkommen heißen und. sich, auch schon bevor wir wirklich da, als solche fühlen würden. Deshalb haben wir auch die Gefahr nicht ge­ scheut, viele Tage lang durch fremdes Land zu ziehen, und dabei alle Beshcwerden willig ertragen; solltet ihr jedoch die Sache anders ansehen und von eurer Freiheit und der Freiheit Griechenlands nichts wissen wollen, so wäre das ein wahres Unglück. Denn nicht nur, daß ihr mir das Tor verschlößt, sondern auch andere, zu denen ich käme, würden Bedenken tragen, sich mir anzuschließen, wenn ihr, die ersten, zu denen ich komme, die Bürger einer so ansehnlichen Stadt, die ihr für verständige Leute geltet, mich nicht aufgenommen hättet. Und ich wüßte wirklich nicht warum. War es etwa ein Unrecht, euch die Freiheit bringen zu wollen, oder meint ihr, ich wäre mit ungenügenden Kräften gekommen und zu schwach, euch gegen Angriffe der Athener zu schützen? Als ich mit diesem meinem Heere vor Nisaia ershcien, haben die Athener trotz ihrer Über­ zahl ja nicht gewagt, es mit mir aufzunehmen, und es ist doch nicht wahrscheinlich, daß sie euch zu Schiff ein Heer ins Land schicken werden, das auch nur so stark wäre, wie sie bei Nisaia waren.

,Ich bin meinerseits ohne alle Hintergedanken lediglich zur Befreiung der Griechen hierhergekommen und habe überdies die Regierung in Lakedämon vorher mit den heiligsten Eiden verpflichtet, den Bundesgenossen, die ich gewinnen würde, ihre Unabhängigkeit zu lassen. Weit entfernt, euch durch List oder Gewalt zum Bunde mit uns nötigen zu wollen, sind wir viel­ mehr nur hier, um euch behilflich zu sein, die Knechtschaft der Athener abzuschütteln. Meiner Meinung nach habt ihr also weder Grund, nach solchen Bürgschaften, die ich euch gegeben, mir böse Absichten zuzutrauen, noch mich zu eurem Schutz für zu schwach zu halten, und könnt deshalb dreist auf unsere Seite treten. Und wenn etwa einer vom Standpunkte seiner Partei befürchtet, ich würde hier gewisse Herren in den Sattel setzen, und deshalb bedenklich sein sollte, so kann er sich auch darüber völlig beruhigen. Denn ich bin nicht hier, um Parteipolitik zu

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treiben, und denke nicht daran, euch eine so fadenscheinige Freiheit anzubieten, auf die es doch hinauslaufen würde, wenn ich ohne Rücksicht auf hergebrachte Verfassungszustände der Minderheit über die Mehrheit oder der Masse über die Minderheit zur Herrschaft verhelfen wollte. Denn das wäre ja noch schlimmer als Fremdherrschaft, und wir Lakedämonier würden damit für unsere Mühe keinen Dank ernten und uns statt Ruhm und Ehre nur Verwünschungen zuziehen. Was man den Athenern vor­ wirft, und weshalb wir sie bekämpfen, würde sich bei uns noch häßlicher ausnehmen als bei ihnen, denen es auf den guten Namen nicht ankommt. Für einen angesehenen Mann ist es schimpflicher, mit ehrlichem Gesicht auf krummen Wegen seinem Vorteil nachzugehen, als mit offener Gewalt; denn hierbei macht er nur vom Recht des Stärkeren Gebrauch, das ihm das Schicksal gegeben, dabei aber geht er mit Lug und Trug zu Werke. So sehr sind wir gewohnt, bei Abwägung unserer politischen Interessen mit der äußersten Vorsicht zu verfahren.

„Außer jenen Eiden könntet ihr keine bessere Bürgschaft haben, als wenn ihr mir Gelegenheit gäbt, meine Worte wahr zu machen und euch die verheißenen Vorteile wirklich zu ver­ schaffen. Sagt ihr mir aber, ihr könntet auf meine Anerbietungen nicht eingehen, hofftet indes, daß es euch bei eurer Freundschaft für uns nicht zum Schaden gereichen würde, wenn ihr sie ab­ wiest, die Freiheit habe denn doch auch ihre Gefahren, und man dürfe sie niemand anbieten oder aufnötigen, der nicht in der Lage sei, sie anzunehmen, so werde ich Götter und Heroen des Landes zu Zeugen anrufen, daß ich trotz der besten Absicht, in der ich gekommen, in Güte nichts bei euch erreicht habe, euer Land verheeren und euch zu zwingen suchen. Und ich bin mir bewußt, damit kein Unrecht zu tun, sondern halte mich dazu aus zwei triftigen Gründen für berechtigt: Einmal dürfen die Lakedämonier, wenn ihr euch trotz aller Freundschaft uns nicht anschließen wollt, wenigstens nicht darunter leiden, daß ihr Steuern an die Athener zahlt, sodann aber die Griechen durch euer Verhalten nicht gehindert werden, ihr Joch ab­ zuschütteln. Sonst würden wir allerdings dazu kein Recht haben;

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denn wir Lakedämonier sind nicht dazu bestellt, soweit es das Interesse der Gesamtheit nicht erheischt, jemand gegen seinen Willen zu befreien. Wir streben auch nicht nach Herrschaft, aber grade weil wir anderen in dieser Beziehung das Hand­ werk zu legen suchen, wäre es unrecht gegen alle übrigen, wollten wir uns in dem Augenblick, wo wir als deren Befreier kommen, von euch Hindernisse in den Weg legen lassen. Nun also, entschließt euch und begeht keine Torheit. Laßt euch die Ehre nicht nehmen, den Griechen auf der Bahn der Freiheit voranzugehen und euch für immer mit Ruhm zu bedecken. Dann wird keinem von euch ein Haar gekrümmt werden und der Name eurer Stadt den schönsten Klang haben."

So Brasidas. Die Akanthier aber entschieden sich nach vielem Für- und Widerreden, teils unter dem Eindruck seiner Worte, teils aus Furcht für ihre Ernte, in geheimer Abstimmung mit großer Mehrheit für den Abfall von den Athenern. So ließen sie ihn denn mit seinem Heere ein, nachdem sie ihn auf die bei seiner Aussendung von der lakedämonischen Regierung geleisteten Eide auch selbst noch ausdrücklich verpflichtet hatten, wonah cden Bundesgenossen, die er gewinnen würde, ihre Un­ abhängigkeit belassen werden sollte. Bald nachher fiel auch Stageiros, eine Kolonie von Andros, von den Athenern ab. Das waren die Ereignisse dieses Sommers.

Gleich im Beginn des folgenden Winters, wo die böo­ tischen Pläne der athenischen Feldherren Hippokrates und Demotshenes ins Werk gesetzt werden sollten, hätte Demotshenes mit der Flotte bei Siphai und Hippokrates bei Delion eintreffen müssen. Infolge eines Mißverständnisses über den Tag, an welchem beide aufbrechen sollten, war jedoch Demosthenes mit seiner Flotte mit Akarnaniern und zahlreichen Bundesgenossen jener Gegend an Bord nach Siphai in See gegangen, hatte hier aber nichts ausgerichtet, da sein Plan von NikomachoS, einem Phokier aus Phanoteus, den Lakedämoniern und von diesen den Böotiern gesteckt war. Die Böotier hatten auch alle gleich zu den Waffen gegriffen, und da Hippokrates ihnen im Lande noch nichts zu schaffen machte, sowohl Siphai wie

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Chaironeia rechtzeitig besetzt. Als ihre Landsleute, welche die Sache betrieben, einsahen, daß sie mißlungen, gaben sie ihre Pläne auf, und von Verfassungsänderungen war weiter keine Rede.

Hippokrates aber, der ganz Athen, Bürger, Schutzverwandte, ja selbst zeitweilig sich dort aufhaltende Fremde, auf die Beine gebracht hatte, kam erst später bei Delion an, als die Böotier von Siphai schon wieder abgezogen waren. Bei Delion, dem Heiligtum des Apollon, blieb er mit dem Heere stehen und ließ es befestigen, und zwar auf folgende Weise. Rings um das Heiligtum und den Tempel selbst wurde ein Graben aus­ geworfen und das ausgehobene Erdreich statt einer Mauer aufgeschüttet. Auch wurden Pfähle eingerammt aus Reben, die man in den Weinbergen beim Tempel gehauen, sowie Steine und Ziegel aus den in der Nähe befindlichen Trümmern eingefallener Gebäude draufgeworfen, um das Werk auf jede Weise hoch zu bringen. An geeigneten Stellen und wo von Tempelbauten nichts mehr vorhanden war, - eine Halle, die früher dort gestanden, war nämlich eingestürzt, - brachte man hölzerne Türme an. Am dritten Tage nach dem Aufbruch von Athen hatte man sich an die Arbeit gemacht und an diesem und am vierten sowie am fünften bis zum Essen weitergearbeitet. Darauf, als das Werk in der Hauptsache fertig war, zog das Heer wieder ab. Nachdem es auf dem Wege nach Hause ungefähr zehn Stadien von Delion zurückgelegt, machten die Hopliten halt, um auszuruhen, während die nur leicht und not­ dürftig bewaffnete übrige Masse gleich weiter zog. Hippokrates selbst aber blieb in Delion zurück, um wegen der Bewachung des Platzes und der dort noch erforderlichen Arbeiten das Nötige anzuordnen.

In diesen Tagen aber sammelten sich die Böotier bei Tanagra. Nachdem sich die Mannschaften aus allen Städten eingefunden hatten, hörten sie, daß die Athener schon wieder abzögen. Nun waren die Böotarchen, deren es im ganzen elf gibt, fast alle gegen eine Schlacht; denn als die Athener haltmachten, waren sie beinah schon auf der Grenze bei

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Oropos. Nur Pagondas, Aioladas' Sohn, der mit Arianthidas, Lysimachidas' Sohn, Böotarch aus Theben war, wollte gern schlagen, solange er den Oberbefehl hatte, wie er es auch wirklich für besser hielt, eine Schlacht zu liefern. Er ließ also die Mannschaften, damit sie nicht alle zugleich ihre Stellungen verließen, abteilungsweise einzeln vortreten und setzte ihnen aus­ einander, man müßte den Athenern jetzt zu Leibe gehen und den Kampf mit ihnen ausnehmen, indem er sie also anredete:

„Hätte es doch keinem unserer Feldherren in den Sinn kommen sollen, Böotier, daß wir uns mit den Athenern nicht zu schlagen brauchten, wenn wir sie nicht mehr in Böotien träfen. Sind sie uns doch über die Grenze ins Land gekommen, haben hier eine Festung gebaut und wollen Böotien zur Wüste machen. Folglich sind sie unsere Feinde, kommen sie als solche, woher sie wollen, wo immer wir sie antreffen. Und wer es früher auch für richtiger gehalten, sie ziehen zu lassen, möge sich jetzt eines besseren besinnen. Wenn man sich im eigenen Lande seiner Haut wehren muß, hat man nicht Zeit zu langer Überlegung wie der habgierige Nachbar, der sich zu Hause in aller Ruhe auf einen Raubzug vorbereitet. Seit den Tagen unserer Väter ist es bei uns immer Grundsatz gewesen, einem auswärtigen Feinde, der uns angreift, gleichviel ob im eigenen oder in fremdem Lande unbedingt zu Leibe zu gehen. Und unseren Nachbarn, den Athenern, gegenüber haben wir um so mehr Grund, darnach zu verfahren. Die Widerstandskraft den Nachbarn gegenüber ist ja doch für alle die erste Bedingung der Freiheit. Und wie sollten wir nicht im Kampfe mit ihnen, die nicht nur ihre Nachbarn, sondern auch ferne Länder zu unterjochen suchen, unsere letzte Kraft einsetzen? An Euboia hier gegenüber haben wir ja das Beispiel; wie sieht eS da aus, und was herrschen in Griechenland auch sonst fast überall für Zustände! Und wenn andere mit ihren Nachbarn um Landesgrenzen Krieg führen, so müssen wir uns klarmachen, daß, wenn wir besiegt werden, unserem Lande unwiderruflich nur eine Grenze gezogen werden wird; denn haben sie sich unseres Landes erst bemächtigt, so werden sie es ganz behalten.

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Darum sind die Athener unsere allergefährlichsten Nachbarn. Ein Feind, der, wie jetzt die Athener, im Vertrauen auf seine Macht seinen Nachbar angreift, wird, wenn dieser sich zugibt und höchstens im eigenen Lande wehrt, nun immer anspruchs­ voller auftreten, wenn man ihm aber schon jenseits der Grenze entgegengehkund bei Gelegenheit selbst den Angreifer macht, schon eher klein beigeben. Wir haben das ja an ihnen selbst erlebt; denn seitdem wir sie damals, wo sie hier infolge unserer inneren Zwistigkeiten Herren im Lande waren, bei Koroneia besiegt, haben sie uns bis jetzt in Ruhe gelassen. Eingedenk dessen müssen wir Alten wieder so tapfer draufgehen wie da­ mals, die Jüngeren aber als Söhne ihrer mutigen Väter sich bestreben, der alten böotischen Tapferkeit keine Schande zu machen, und so wollen wir im Vertrauen auf den Beistand des Gottes, dessen Tempel sie sich so ruchlos zur Festung ge­ macht haben, und auf unsere Glück verheißenden Opfer ihnen zu Leibe gehen, um ihnen zu zeigen, daß sie sich, wenn sie Eroberungen machen wollen, Leute suchen müssen, die nicht zu fechten verstehen, sich aber bei uns, die wir zwar nicht dabei hergekommen sind, fremde Länder zu unterjochen, wohl aber die Freiheit unseres eigenen Landes mit den Waffen in der Hand zu verteidigen, nur blutige Köpfe holen."

Durch diese zündenden Worte bewirkte Pagondas, daß die Böotier sich zum Angriff auf die Athener entschlossen. Er brach auch sofort auf und setzte sich mit dem Heere in Marsch; denn es war schon spät am Tage. Nachdem er in die Nähe ihres Heeres gelangt war, machte er halt an einer Stelle, wo sie einander wegen eines dazwischen liegenden Höhenzuges nicht sehen konnten, wies den einzelnen Truppenteilen ihre Stellungen an und machte sich zur Schlacht bereit. Als Hippokrates, der sich noch bei Delion befand, gemeldet wurde, daß die Böotier im Anzüge seien, sandte er seinem Heere den Befehl, sich in Schlachtordnung zu stellen, traf dann aber bald darauf auch selbst bei ihm ein. Bei Delion ließ er un­ gefähr dreihundert Reiter zurück, sowohl um den Platz gegen einen etwaigen Angriff zu decken, als auch um den Böotieru

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wahrend der Schlacht im rechten Augenblick in den Rücken zu fallen. Um sie in Schach zu halten, ließen die Böotier eine Anzahl Truppen ihnen gegenüber stehen, kamen dann aber, als alles fertig war, über die Höhe zum Vorschein und stellten sich, ungefähr siebentausend Hopliten, über zehntausend Leicht­ bewaffnete, tausend Reiter und fünfhundert Peltasten, den aus­ gegebenen Befehlen gemäß auch ihrerseits in Schlachtlinie. Den rechten Flügel bildeten die Thebaner und ihre Untertanen, die Mitte die Mannschaften aus Haliartos, Koroneia, Kopai und den übrigen um den See gelegenen Orten, den linken Flügel die aus Thespiai, Tanagra und Orchomenos. Die Reiterei und das leichte Fußvolk befand sich auf beiden Flügeln. Die Thebaner standen fünfundzwanzig Mann tief, die übrigen wie es sich grade traf. Dies die Stärke und die Aufstellung der Böotier.

Auf seiten der Athener stand das ganze schwere Fußvolk, woran sie den Gegnern an Zahl gewachsen waren, acht Mann tief, die Reiterei auf beiden Flügeln. Feldmäßig ausgerüstete leichte Truppen hatten sie an dem Tage nicht, waren in der Stadt überhaupt nicht vorhanden. Freilich war die Zahl derer, die den Zug mitgemacht, weit größer als die der Gegner, aber die meisten waren ohne Waffen mitgegangen, da eben die ganze Stadt, Einheimische und Fremde, sich angeschlossen hatte. Auch waren sie ja größtenteils gleich weiter nach Hause ge­ zogen und deshalb nur wenige davon hier zur Stelle. Als beide Heere in Schlachtordnung standen und der Kampf be­ reits beginnen sollte, schritt Hippokrates die Reihen der Athener ab und feuerte sie an mit folgenden Worten:

„Athener! Wenige Worte nur, die ich an euch richte, aber mehr ist auch nicht nötig für tapfere Männer; es ist auch nur zur Erinnerung, nicht zur Ermutigung. Glaubt nicht, es hätte keinen Zweck, hier im fremden Lande eine Schlacht zu wagen; denn wir kämpfen hier für unser Land. Wenn wir siegen, so haben die Peloponnesier keine böotische Reiterei mehr und werden unS nie wieder ins Land kommen, und durch diese eine Schlacht werdet ihr nicht nur dies Land erobern, sondern auch [*]( I )

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unser Land von den Drangsalen des Krieges befreien. Also drauflos und macht der Stadt Ehre, die ihr alle mit Stolz die erste Stadt Griechenlands nennt, und zeigt euch eurer Väter wert, die unter Myronidas dies Gesindel bei Oinophyta früher schon besiegt und sich Böotien unterworfen haben."

Während Hippokrates seine Leute also anfeuerte, dabei aber erst bis an die Mitte seines Heeres gelangt war, kamen die Böotier, welche Pagondas hier nochmals kurz angesprochen hatte, unter Schlachtgesang von der Höhe herab. Nun gingen auch die Athener vor, und beide trafen im Lauftritt auf­ einander. Die äußersten Flügel beider Heere konnten jedoch in das Gefecht nicht eingreifen; aber dabei waren beide in gleicher Verdammnis, denn hüben und drüben bildeten tiefe Runsen ein unüberwindliches Hindernis. Auf der übrigen Linie aber entspann sich ein heißer Kampf, und die Schilde prallten aneinander. Auf dem linken Flügel und bis zur Mitte wurden die Böotier von den Athenern besiegt, die hier namentlich den Thespiern hart zusetzten; denn da deren Nebenleute nicht standhielten, wurden sie rings umfaßt und im Handgemenge gutenteils von ihnen niedergemacht. Aber auch von den Athenern, die sich in der bei der Umfassung ent­ standenen Verwirrung nicht erkannten, fielen manche unter den Streichen ihrer eigenen Landsleute. Hier also wurden die Böotier geschlagen und auf ihren noch fechtenden rechten Flügel zurückgedrängt. Dieser aber, wo die Thebaner tsanden, war den Athenern gegenüber im Vorteil und trieb sie, wenn auch anfangs nur langsam, vor sich her. Nun aber schickte Pagondas nach der Niederlage seines linken Flügels zwei Abteilungen seiner Reiter aus dem Versteck um die Höhe herum, bei deren plötzlichem Auftauchen auf dem siegreichen Flügel der Athener eine Panik entstand, weil man glaubte, es sei ein zweites Heer im Anzüge. So gerieten die Athener, hier infolge dieses blinden Lärms, dort infolge des stürmischen Vordringens der Thebaner, auf ihrer ganzen Linie in die Flucht. Zum Teil flohen sie nach Delion und an die See, zum Teil nach Oropos, wieder andere suchten Zuflucht im Parnesgebirge oder wo sie sonst

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Sicherheit zu finden hofften. Die Böotier aber, namentlich ihre und die lokrischen Reiter, welche grade in dem Augenblick eintrafen, wo die Flucht einsetzte, hieben auf der Verfolgung alles nieder, was ihnen vor die Klinge kam. Die Nacht machte jedoch der Verfolgung ein Ende und erleichterte es der Masse der Flüchtigen, mit dem Leben davonzukommen. Am folgenden Tage wurden dann die nach Oropos und Delion Entkommenen von hier, wo man eine Besatzung zurückließ und sich auch weiter behauptete, zu Schiff nach Hause befördert.

Die Böotier aber errichteten ein Siegeszeichen. Nachdem sie ihre Toten geborgen und den gefallenen Feinden die Waffen abgenommen, auch eine Nachhut auf dem Schlachtfelde zurück- gelassen hatten, zogen sie nach Tanagra ab, in der Absicht, sich nunmehr gegen Delion zu wenden. Einem Herolde, den man aus Athen der Toten wegen abgesandt hatte, begegnete unter­ Wegs ein böotischer Herold, der ihn aufforderte, nur wieder Umzukehren; denn bevor er selbst zurück sei, würde er doch nichts ausrichten. Den Athenern aber erklärte er dann, als er bei ihnen vorgelassen wurde, im Namen der Böotier, sie hätten sich gegen Recht und Sitte der Griechen schwer ver­ gangen, da es bei ihnen ein allgemein anerkannter Grundsatz sei, daß man sich bei einem Einfall in ein anderes griechisches Land an den dort vorhandenen Heiligtümern nicht vergreifen dürfe. Sie aber hätten Delion befestigt, sich dort häuslich eingerichtet und trieben ihr Wesen dort wie an einem un­ geweihten Orte. Auch daS Wasser, welches sie selbst nur an­ gerührt, um eS als Weihwasser zu gebrauchen, würde jetzt wie gewöhnliches Wasser geschöpft und verbraucht. Um ihrer selbst und des Gottes wegen, bei den gemeinsamen Göttern und bei Apollon, forderten die Böotier sie deshalb auf, aus dem Heilig­ tum abzuziehen und, was ihnen gehöre, mitzunehmen.

Nach dieser Erklärung des HeroldS schickten auch die Athener einen Herold an die Böotier und ließen ihnen sagen, sie hätten sich an dem Heiligtum nicht vergriffen und würden daS auch künftig ohne Not nicht tun; seien sie doch auch von vornherein keineswegs in solcher Absicht gekommen, sondern

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nur um sich von dort gegen ihre widerrechtlichen Angriffe zu verteidigen. Nach griechischem Recht gehörten dem, der ein Gebiet erobert, sei es groß oder klein, auch die darin befind­ lichen Heiligtümer, und er habe sie, soweit es ihm eben möglich sei, in herkömmlicher Weise zu pflegen. Besäßen doch auch die Böotier und viele andere in den eroberten Ländern, aus denen sie die früheren Herren verdrängt, die ursprünglich fremden Heiligtümer jetzt zu eigen. Auch sie würden, wenn sie in ihrem Lande noch weitere Eroberungen machen könnten, diese behalten und seien auch jetzt nicht gewillt, das Stück, welches sie bereits besäßen und als ihr Eigentum ansähen, zu räumen. Das Wasser hätten sie nur in der Not angerührt, in die sie nicht durch eigenen Übermut geraten seien; vielmehr hätten sie sich nur im Kampfe gegen die Böotier, die ihnen zuerst ins Land gefallen, gezwungen gesehen, es zu gebrauchen. Alle Ungebühr aber, zu der man sich im Kriege oder in der . Not gezwungen sähe, sei selbstvertsändlich auch in den Augen der Gottheit verzeihlich, wie man ja auch bei unfreiwilligen Verfehlungen an den Altären Zuflucht finde. Not kenne kein Gebot, und eine im Notstande begangene Handlung Zsei kein Verbrechen. Und wenn die Böotier ihnen die Toten nur gegen Räumung des Tempels herausgeben wollten, so sei das ein größerer Frevel als ihre Weigerung, die den Toten gebührende Ehre durch Herausgabe des Tempels zu erkaufen. Sie ver­ langten also die bestimmte Zusage, daß ihnen die Abholung der Toten unter Waffenstillstand in herkömmlicher Weise, nicht aber unter der Bedingung vorheriger Räumung böotischen Gebiets gestattet sein solle; überdies seien sie gar nicht mehr auf böotischem, sondern einem nach Kriegsrecht ihnen gehören­ den Gebiete.

Die Böotier antworteten, wenn sie in Böotien wären und aus ihrem Lande abzögen, so könnten sie mitnehmen, waS sie wollten; wären sie aber im eigenen Lande, so müßten sie selbst wissen, was sie zu tun hätten, um damit anzudeuten, wenn das Grenzgebiet von Oropos, wo die Schlacht statt­ gefunden und die Toten lagen, wirklich den.Athenexn gehörte,

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so würden diese wider ihren Willen die Toten doch nicht mit­ nehmen, sie aber über fremdes Land keine Verträge schließen können. Die Antwort: „Wenn sie aus ihrem Lande abzögen, so könnten sie mitnehmen, was sie wollten", hielten sie für besonders geschickt. Nach dieser Antwort mußte der athenische Herold unverrichteter Sache wieder abziehen.i

Die Böotier aber ließen sich gleich vom melischen Meer­ busen noch Wurfschützen und Schleuderer kommen, und da sie nach der Schlacht durch zweitausend korinthische Hopliten und die aus Nisaia abgezogene peloponnesische Besatzung und die zu ihr gestoßenen Megarer verstärkt worden waren, rückten sie vor Delion und griffen die Festungswerke an. Dabei bedienten sie sich unter anderem auch einer von ihnen ausgedachten Vorrichtung, vermittelst deren es ihnen dann auch gelang, sie zu nehmen. Sie sägten nämlich einen mächtigen Balken der Länge nach in zwei Teile und fügten ihn, nachdem sie ihn ausgehöhlt, genau wieder zusammen, so daß er eine Röhre bildete. An einem Ende hingen sie an Ketten ein Becken auf, in daS sie aus dem Balken ein am unteren Ende eisernes Blasrohr leiteten, wie denn auch der Balken selbst noch ein gutes Stück mit Eisen beschlagen war. Diese Vorrichtung brachten sie von weitem auf Wagen an die Mauer heran da, wo sie hauptsächlich aus Holz und Reben hergestellt war, und wenn sie damit dicht dran waren, bliesen sie mittelst großer, auf ihrem Ende des Balkens angebrachter Blasebälge Luft hinein. Dann fuhr der Luftstrom durch die Röhre in das mit Pech und Schwefel und glühende Kohlen gefüllte Becken, ent­ fachte dort eine mächtige Flamme und setzte die Mauer in Brand, so daß es niemand dort aushalten konnte, sondern alles davonlief, und das Werk auf diese Weise genommen wurde. Ein Teil der Besatzung kam ums Leben, zweihundert wurden gefangengenommen; die Mehrzahl schiffte sich ein und kam glücklich nach Hause.