History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

So Kleon. Nach ihm trat Diodotos auf, der Sohn des Eukrates, der sich schon in der ersten Versammlung am ent­ schiedensten gegen die Hinrichtung der Mytilener ausgesprochen hatte, und sagte:

„Ich finde nichts dabei zu erinnern, daß man uns heute noch einmal über Mytilene verhandeln läßt, und kann mich keineswegs damit einverstanden erklären, wenn man eine wieder­ holte Beratung über eine so wichtige Angelegenheit für un­ zulässig erklären will. Meiner Meinung nach ist dem Zustande-

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kommen eines vernünftigen Beschlusses nichts hinderlicher als Übereilung und Leidenschaft; jene ist in der Regel die Folge von Unverstand, diese von Beschränktheit und Mangel an Bildung. Wer es für überflüssig erklärt, sich, bevor man handelt, durch Reden belehren zu lassen, ist entweder ein Tor oder ein Schelm, der seinen Zweck dabei hat, ein Tor, wenn er glaubt, sich über die Dinge, die im Dunkel der Zukunft liegen, auf andere Weise Rats erholen zu können, ein Schelm, wenn er eine schlechte Sache durchsetzen will und in der Über­ zeugung, daß es ihm nicht gelingen wird, schwarz weiß zu machen, nun mit Verleumdungen um sich wirft, um Gegner und Zuhörer irrezumachen. Das Niederträchtigste aber ist, einen gar noch zu verdächtigen, er habe seine Rede für Geld zum besten gegeben. Wirft man einem Redner vor, daß er nichts von der Sache verstehe, so hält man ihn, wenn er durch- fällt, wohl für dumm, aber doch nicht für schlecht. Wird ihm aber Bestechung schuld gegeben, so sieht man ihn mit Arg­ wohn, wenn er obsiegt, und wenn ihm das nicht gelingt, nicht nur für einen Dummkopf, sondern auch für einen Schurken an. Damit aber ist der Stadt schlecht gedient; denn aus Furcht davor ziehen sich die besten Kräfte vom öffentlichen Leben zurück. Es wäre ein wahres Glück, wenn solchen Läster­ mäulern das Reden überhaupt verboten würde, denn dann kämen ihre Mitbürger weniger in Gefahr, sich zu Torheiten verleiten zu lassen. Der gute Bürger muß seine Überlegenheit als Redner nicht durch Einschüchterung seiner Gegner, sondern im ehrlichen Kampfe mit gleichen Waffen zu beweisen suchen, und in einem verständigen Gemeinwesen soll man einen be­ währten Redner zwar nicht mit neuen Ehren überhäufen, aber ihm auch die seine nicht schmälern und den, der mit seiner Ansicht nicht durchdringt, nicht nur nicht bestrafen, sondern nicht einmal über die Achsel ansehen. Dann wird so leicht kein siegreicher Redner den Leuten auch gegen seine bessere Überzeugung aus Ehrgeiz nach dem Munde reden und keiner, der unterlegen ist, sich versucht fühlen, mit solchen Mitteln um die Gunst der Menge zu buhlen.

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„Wir machen es umgekehrt, ja noch schlimmer. Auch wenn wir überzeugt sind, daß einer recht hat, aber den Ver­ dacht hegen, daß er bestochen sei, so lassen wir ihn zum offen­ baren Schaden der Stadt im Stich, weil wir ihm den dann doch bloß vermuteten Gewinn nicht gönnen. Es ist nun einmal bei uns nicht anders; das Gute, gradeheraus gesagt, ist der Verdächtigung nicht minder ausgesetzt als das Schlechte, und wie der ärgste Bösewicht die Leute durch falsche Vorspiege­ lungen ködern muß, so ist auch der ehrliche Mann genötigt, ihnen Wind vorzumachen, wenn sie ihm glauben sollen. Nur hier in Athen bei unserer Überklugheit ist es unmöglich, dem Staate offen und ehrlich zu dienen. Denn wer offen etwas für ihn tut, wird gleich verdächtigt, im geheimen sein Schäfchen dabei geschoren zu haben. Bei alledem müßt ihr anerkennen, daß wir Redner, wo es sich um die wichtigsten Dinge handelt, doch weiter sehen als ihr in eurer Kurzsichtigkeit, zumal wir für unsere Anträge vor Gericht verantwortlich sind, ihr aber als Zuhörer unverantwortlich seid. Wäre die Sache für den, der den Antrag annimmt, ebenso gefährlich wie für den Redner, der ihn stellt, so würdet ihr nicht so in den Tag hinein be­ schließen. Jetzt aber laßt ihr in irgendeinem augenblicklichen Ärger allein den Antragsteller dafür büßen, wenn ihr euch verhauen habt, während alle anderen frei ausgehen, so viele ihrer auch mitgesündigt haben.

„Ich bin weder aufgetreten, um die Schuld der Mytilener zu bestreiken, noch um sie anzuklagen. Denn für uns kann es sich vernünftigerweise nicht darum handeln, über die Mytilener zu Gericht zu sitzen, sondern nur darum, einen Beschluß zu fassen, wie er unserem Interesse entspricht. Selbst wenn ich der Ansicht wäre, daß sie sich schwer gegen uns vergangen hätten, würde ich dennoch nicht dafür sein, sie hinzurichten, wenn es gegen unser Interesse ginge, und wenn ich ihre Hand­ lungsweise auch für verzeihlich hielte, würde ich sie ihnen nicht hingehen lassen, wenn es unserer Stadt zum Schaden gereichte. Ich meine, wir sollten bei unserem Beschlusse nicht sowohl die Gegenwart wie die Zukunft im Auge haben. Und wenn Kleon

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so bestimmt behauptet, es sei vorteilhaft für uns, sie hinrichten zu lassen, weil es dann in Zukunft weniger Abfälle geben würde, so bin ich grade in dieser Beziehung entschieden anderer Ansicht. Hoffentlich laßt ihr euch durch das Bestechende seiner Rede nicht verleiten, meinen praktischen Rat von der Hand zu weisen. Denn da er in seiner Rede mehr den Rechtspunkt betont, könnte er euch bei eurer augenblicklichen Verbitterung gegen die Mytilener leicht mit fortreißen. Aber wir führen ja keinen Prozeß mit den Mytilenern, so daß es nur auf daS Recht ankäme, sondern es handelt sich für uns darum, so mit ihnen zu verfahren, wie es unser Interesse erheischt.

„Die staatlichen Gesetze bedrohen viele Vergehen mit Todesstrafe, die nicht so schwer, sondern geringfügiger sind als unser Fall. Trotzdem lassen die Menschen sich dadurch nicht abschrecken, weil sie hoffen, glücklich durchzukommen; wer weiß, daß er dazu keine Aussicht hat, wird sich nicht in Gefahr be­ geben. Und wo hätte wohl je eine Stadt einen Abfall gewagt, die nicht geglaubt hätte, mit eigenen Kräften oder fremder Hilfe damit durchzukommen? So sind die Menschen; sie sün­ digen alle, im öffentlichen Leben so gut wie in Privatverhält­ nissen, und lassen sich davon durch kein Gesetz abhalten, so­ lange man schon darauf ausgegangen ist, durch Steigerung aller Strafen die Verbrechen zu bekämpfen und ihre Zahl zu vermindern. Sicher tsanden früher auch auf die schwersten Verbrechen weniger harte Strafen. Da die Gesetze jedoch be­ ständig übertreten wurden, verschärfte man sie mit der Zeit fast alle bis zur Todesstrafe, aber die Verbrechen haben darum nicht abgenommen. Entweder also muß man noch abschreckendere Strafmittel ersinnen, oder es ist überhaupt nichts dagegen zu machen. Bald ist es Armut, denn Not kennt kein Gebot; bald Reichtum, der in frechem Übermut nach fremdem Gut begehrt, oder es sind andere Umstände, welche die Leidenschaften der Menschen mit unwidertsehlicher Gewalt anfachen, was sie immer wieder dazu treibt, mit dem Feuer zu spielen. Überall aber sprechen Hoffnung und Begierde mit; diese geht voran, jene kommt nach; diese macht den Plan, jene verspricht sich

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goldene Berge davon, und diese unsichtbaren Mächte sind wirk­ samer als der abshcreckende Anblick blutiger Exekutionen. Auch das Glück trägt sein Teil dazu bei, die Menschen zu betören. Denn da es sich manchmal ganz unverhofft einstellt, so verführt es einen, selbst mit unzureichenden Mitteln etwas zu wagen, und grade vorzugsweise die Staaten, weil es sich bei ihnen um der Menschheit große Gegenstände, um Herrschaft und um Freiheit handelt, der einzelne aber gedankenlos mitmacht und in der Masse ein Held zu sein glaubt. Mit einem Worte, es ist unmöglich und wäre töricht, sich einzubilden, man könne die Menschen durch strenge Gesetze oder sonstige Abschreckungs­ mittel von Handlungen abhalten, zu denen ihre Natur sie nun einmal treibt.

„Wir dürfen uns also nicht durch den Glauben, daß die Todesstrafe uns Bürgschaft gewähre, zu einem verkehrten Be­ schlusse verleiten lassen, auch unseren abgefallenen Bundes­ genossen nicht alle Hoffnung nehmen, ihr Unrecht je eher desto besser durch Reue wieder gutmachen zu können. Denn ihr müßt wohl berücksichtigen, daß alsdann eine abgefallene Stadt, wenn sie ihre Sache verloren gibt, sich wahrscheinlich schon zu einem Vergleich verstehen wird, solange sie noch imstande ist, die Kriegskosten zu erstatten und fernerweit Steuern zu zahlen. Meint ihr denn, eine Stadt würde sich nicht noch ganz anders zur Wehr setzen und eine Belagerung bis aufs äußerste aushalten, wenn es schließlich doch einerlei ist, ob sie sich früher oder später ergibt? Und wenn sie sich nicht er­ gäbe, würden wir nicht den Schaden davon haben und die Kosten einer langwierigen Belagerung in den Kauf nehmen müssen, um, wenn wir sie dann auch wirklich einnähmen, einen Trümmerhaufen zu gewinnen, der uns dann doch keine Steuern mehr einbrächte? Die Steuern aber sind das Rückgrat unserer Macht. Wir dürfen uns also nicht ins eigene Fleisch schneiden, indem wir mit den Schuldigen allzu scharf ins Gericht gehen, müssen vielmehr darauf sehen, sie nur so zu bestrafen, daß sie uns auch künftig noch Steuern bezahlen können, und uns nickt durch rigorose Anwendung der Gesetze, sondern durch behüt­

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same Behandlung unserer Bundesgenossen zu schützen suchen. Das Gegenteil aber tun wir, wenn wir glauben, ein freies, nur gewaltsam unterdrücktes Volk, das aus dem natürlichen Wunsche, wieder unabhängig zu werden, von uns abgefallen ist, nachdem wir es wieder unterworfen haben, so grausam bestrafen zu müssen. Nicht scharf bestrafen nach dem Abfall muß man ein freies Volk, sondern es scharf im Auge haben, ehe es zum Abfall kommt, und dafür sorgen, daß es überhaupt nicht auf solche Gedanken verfällt, und wenn man es wieder unterworfen hat, ihm die Sache möglichst wenig zum Ver­ brechen machen.

„Bedenkt auch weiter, wie verkehrt es noch in anderer Hinsicht sein würde, wolltet ihr mit Kleon gehen. Jetzt hält es das Volk in den Städten überall mit euch. Kommt eS zu einem Abfall der herrschenden Minderheit, so beteiligt es sich daran entweder überhaupt nicht oder verharrt doch, wenn es dazu gezwungen wird, ihr gegenüber in einer ausgesprochen feindlichen Stellung. Kommt es dann zum Kriege gegen die aufständische Stadt, so habt ihr das Volk auf eurer Seite. Laßt ihr jetzt in Mytilene das ganze Volk hinrichten, das an dem Abfall nicht teilgenommen und, nachdem man ihm die Waffen gegeben, euch sogar freiwillig die Tore geöffnet hat, so begeht ihr einmal schweres Unrecht, indem ihr eure Wohl­ täter tötet, und tut außerdem grade den Aristokraten aller- orten den größten Gefallen. Denn wenn sie künftig eine Stadt zum Abfall bringen wollen, wird das Volk gleich gemein­ schaftliche Sache mit ihnen machen, da es im voraus weiß, daß ihr den Unschuldigen wie den Schuldigen bestrafen werdet. Aber selbst, wenn es sich wirklich mitschuldig gemacht hätte, müßten wir die Augen davor verschließen, um es mit der ein­ zigen Partei, die es mit uns hält, nicht auch noch zu verderben. Überhaupt ist es für die Behauptung unserer Herrschaft meiner Meinung nach weit ersprießlicher, unter Umständen einmal ein Unrecht hinzunehmen, als Städte zu vernichten, die wir, selbst wenn wir das Recht dazu hätten, nicht vernichten dürfen. Und wenn Kleon meint, nicht nur das Recht, sondern auch

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die Zweckmäßigkeit erfordere eine solche Strafe, so ist mir un­ erfindlich, wie es möglich wäre, hier beides miteinander zu vereinigen.

„Darum, wenn ihr überzeugt seid, daß ich recht habe, und nicht an Mitleid und Milde zu viel tun wollt - denn auch ich bin keineswegs dafür, darin zu weit zu gehen-, so macht es aus den angeführten Gründen, wie ich vorschlage, urteilt die Mytilener, welche Paches als die Schuldigen hierher geschickt hat, ruhig ab, die übrigen aber laßt in Frieden. Das ist für die Zukunft das beste und Warnung genug für unsere Feinde. Mit vernünftiger Überlegung kommt man seinen Feinden gegenüber weiter als mit unverständigen Gewalt­ streichen."

So Diodotos. Trotz der Reue über ihren ersten Beschluß entstand unter den Athenern nach diesen Reden, in denen die vershciedenen Standpunkte am schärfsten zum Ausdruck kamen, ein lebhafter Meinungsstreit, und bei der Abstimmung war die Zahl der Stimmen auf beiden Seiten nahezu gleich; doch war die Mehrheit für Diodotos. Auch schickte man gleich mit größter Eile eine zweite Triere ab, damit die erste, beinah vierundzwanzig Stunden früher abgefahrene, nicht eher ankäme und man die Stadt nicht schon vernichtet fände. Die myti­ lenischen Gesandten hatten Wein und Brot an Bord bringen lassen und der Mannschaft große Versprechungen gemacht, wenn ihr Schiff früher ankäme als das erste. Infolgedessen wurde die Fahrt dergestalt beschleunigt, daß die Leute gleich­ zeitig ruderten und Nahrung zu sich nahmen, Brot mit Wein und Hl angerührt, und während die eine Hälfte schlief, die andere ruderte. Glücklicherweise herrschte niemals widriger Wind, und da das erste Schiff mit dem Blutbefehl an Bord sich nicht sonderlich beeilt, das andere aber den Weg mit solcher Schnelligkeit zurückgelegt hatte, war das erste nur so viel früher angekommen, daß Paches den Beschluß eben hatte lesen können und im Begriff war, den Befehl auszuführen, als daS zweite ankam und die Stadt rettete. Um ein Haar nur, und Mytilene wäre verloren gewesen.

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Jene anderen Mytilener aber, welche Paches als die an dem Abfall vorzugsweise Schuldigen herübergeschickt hatte, ließen die Athener auf Kleons Antrag hinrichten; es waren etwas über tausend. Auch schleiften sie die Mauern von Mytilene und ließen sich die Schiffe ausliefern. Hinterdrein legten sie den Lesbiern zwar keine Steuern auf, teilten aber die ganze Insel mit Ausnahme des Gebiets von Methymna in dreitausend Landlose, von denen sie dreihundert als Tempelgut für die Götter ausschieden, die übrigen aber mit athenischen Kleruchen besetzten, denen die Lesbier, die das Land selbst be­ bauten, von jedem Lose jährlich zwei Minen Zins zahlen mußten. Auch die Besitzungen der Mytilener auf dem Fest­ lande fielen in die Hände der Athener und standen von nun an unter athenischer Herrschaft. So endete der Abfall von Lesbos.

In demselben Sommer nach der Unterwerfung von Lesbos unternahmen die Athener unter Nikias, Nikeratos' Sohn, einen Zug nach der Insel Minoa, Megara gegenüber, wo die Me­ garer einen Turm erbaut hatten und eine Besatzung unter- hielten. Nikias hielt es für besser, Megara statt von Budoron auf Salamis künftig von hier ans nächster Nähe überwachen zu lassen, damit die Peloponnesier nicht von da, wie das früher vorgekommen war, unbemerkt mit ihren Trieren und Freibeuter- schiffen auskaufen könnten, zugleich auch, um Megara die Zu­ fuhr abzuschneiden. Zunächst zerstörte er von der See aus mit seinem Geschütz auf der Seite nach Nisaia zu zwei vor­ springende Türme, und nachdem er sich dadurch den Zugang in den Sund zwischen der Stadt und der Insel geöffnet hatte, sperrte er diese durch eine Mauer gegen das Festland ab, wo man der nicht weit vom Lande liegenden Insel auf einer über das flache Wasser geschlagenen Brücke zu Hilfe kommen konnte. Nachdem man damit in wenig Tagen fertig geworden war, legte er auf der Insel eine Schanze an, in der er eine Besatzung zurückließ, und zog darauf mit seinem Heere wieder ab.

Um dieselbe Zeit in diesem Sommer mußten die Platäer, die nichts mehr zu leben hatten und die Belagerung nicht

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länger aushalten konnten, sich den Peloponnesiern ergeben, und das kam so: Die Peloponnesier unternahmen einen Sturm auf die Stadtmauer, und die Platäer konnten ihn nicht ab­ wehren. Der lakedämonische Befehlshaber, welcher merkte, daß ihre Kräfte zu Ende gingen, wollte jedoch die Stadt wo­ möglich nicht mit Sturm nehmen. So war es ihm nämlich aus Lakedämon unter den Fuß gegeben, damit, wenn beim etwaigen Friedensschlüsse mit den Athenern beide Teile sich zur Herausgabe der im Kriege eroberten Plätze verpflichten sollten, Platää als eine freiwillig übergetretene Stadt nicht mit herausgegeben zu werden brauche. Er schickte also einen Herold an sie ab und ließ ihnen sagen, ob sie ihre Stadt nicht lieber freiwillig den Lakedämoniern übergeben und sie als Richter annehmen wollten, wo dann die Schuldigen ihre Strafe erhalten, die Unschuldigen aber frei ausgehen würden. Der Herold richtete seinen Auftrag aus, und da sie mit ihren Kräften völlig zu Ende waren, übergaben sie die Stadt. Die Peloponnesier versahen sie nun einige Tage mit Lebensmitteln, bis die aus Lakedämon erwarteten fünf Richter ankamen. Indessen wurde, als diese eingetroffen waren, eine Anklage überhaupt nicht erhoben, sondern man ließ sie vortreten und legte ihnen einfach die Frage vor, was sie im Laufe deS Krieges für die Lakedämonier und deren Bundesgenossen getan hätten. Sie baten jedoch, sich über die Sache eingehender äußern zu dürfen, und wählten zu dem Ende zwei Männer auS ihrer Mitte, Astymachos, Asopolaos' Sohn, und Lakon, Aeimnesos' Sohn, den dortigen Staatsgastfreund der Lake­ dämonier, welche nun vortraten und also redeten:

„Im Vertrauen auf euch, Lakedämonier, haben wir unsere Stadt übergeben. Wir glaubten bei euch auf ein regelrechtes und kein so formloses Verfahren rechnen zu können, wollten auch niemand als euch, vor denen wir hier tsehen, zu Richten? haben, weil wir von euch am ersten ein gerechtes Urteil er­ warteten. Jetzt aber müssen wir fürchten, uns in beider Hin­ sicht geirrt zu haben. Denn wir haben allen Grund zu ver­ muten, daß kurzer Prozeß mit uns gemacht werden soll, und

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daß wir an euch keine unparteiischen Richter finden werden. Wir schließen das daraus, daß vorher keine Anklage erhoben und uns zur Erklärung mitgeteilt ist - haben wir doch selbst erst ums Wort bitten müssen -, und weil die Frage so kurz ist. Wenn wir diese der Wahrheit gemäß beantworten, so sind wir verloren; sagen wir aber die Unwahrheit, ist der Gegenbeweis leicht geführt. So bleibt uns nichts anderes übrig, als unser Heil wenigstens mit einer Rede zu versuchen. Denn wer in solcher Lage seine Rede für sich behält, wird sich nachher doch sagen lassen müssen: wenn du sie gehalten hättest, wärest du vielleicht glücklich davongekommen. Zu alle­ dem kommt für uns noch die Schwierigkeit, Gehör bei euch zu sinden. Wenn wir einander nicht kennten, so würden wir zu unserer Rechtfertigung vielleicht neue, euch noch unbekannte Beweise beibringen können, so aber vermögen wir nichts an­ zuführen, was euch nicht schon bekannt wäre. Auch fürchten wir nicht sowohl, daß ihr den Stab über uns brecht, weil ihr von vornherein überzeugt seid, unsere Verdienste seien geringer als die euren, als daß ihr uns anderen zu Gefallen vor ein Gericht gestellt habt, welches sein Urteil längst fertig hat.

„Gleichwohl werden wir alles anführen, was wir haben, um unser gutes Recht in den Händeln mit den Thebanern zu beweisen, euch auch an unsere Verdienste um ganz Griechen­ land erinnern und versuchen, euch dadurch günstig zu stimmen. Auf die kurze Frage, was wir im Laufe des Krieges für die Lakedämonier und ihre Bundesgenossen getan, antworten wir: Fragt ihr uns als Feinde, so dürft ihr euch nicht über uns beklagen, wenn wir nichts für euch getan haben; seht ihr uns aber als Freunde an, so war es grade von euch das größte Unrecht, uns mit Krieg zu überziehet. Im Frieden wie im Perserkriege haben wir uns wacker gehalten. Jetzt haben nicht wir den Frieden zuerst gebrochen, und damals sind wir unter allen Böotiern die einzigen gewesen, welche mit für die Frei­ heit Griechenlands gefochten haben. Obgleich wir nicht an der See wohnen, haben wir doch zu Schiff bei Artemision mitgekämpft, und in der hier in unserem Lande geschlagenen

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Schlacht haben wir auf eurer und Pausanias' Seite gestanden. Wo immer zu jener Zeit den Griechen eine Gefahr drohte, sind wir stets über unsere Kräfte mit dabei gewesen. Und euch, Lakedämonier, insbesondere haben wir damals, als Sparta nach dem Erdbeben von den aufständischen Heloten in Ithome das Schlimmste zu befürchten hatte, ein Drittel unserer Bürger­ schaft zu Hilfe geschickt. Das solltet ihr nicht vergessen.

„So haben wir es in den alten großen Zeiten immer mit euch gehalten. Später erst sind wir Feinde geworden, und zwar durch eure Schuld. Denn damals, als die Thebaner uns vergewaltigen wollten und wir euch um ein Bündnis baten, habt ihr uns abgewiesen und unS geraten, uns an die Athener zu wenden, die wir in der Nähe hätten, während ihr uns zu fern wärt. In diesem Kriege aber haben wir euch doch wahr­ lich nichts zuleide getan und würden das auch weiterhin nicht getan haben. Wenn wir von den Athenern nicht ab­ fallen wollten, wie ihr das verlangtet, so war das kein Unrecht. Denn sie haben uns gegen die Thebaner beigestanden, als ihr uns im Stich ließt, und es wäre nicht schön gewesen, wären wir ihnen untreu geworden. Nachdem sie uns so viel Gutes getan, uns auf unsere Bitten als Bundesgenossen angenommen und uns zum Bürgerrechte zugelassen hatten, war es nur unsere Pflicht und Schuldigkeit, ihren Befehlen bereitwillig nachzu­ kommen. Wenn ihr beide euren Bundesgenossen etwas be­ fehlt, was nicht recht ist, und sie gehorchen, so tun sie das nicht auf ihre, sondern auf eure Verantwortung, weil sie euren Willen tun müssen.

„Die Thebaner aber haben schon oft falschen Streit mit uns angefangen; ihr letzter Gewaltstreich ist euch zur Genüge bekannt; ist er doch die Ursache unseres jetzigen Unglücks. Als sie unsere Stadt in tiefem Frieden, noch dazu am heiligen Festtage, überfallen hatten, haben wir sie dafür bestraft mit dem guten Rechte, wonach es in der ganzen Welt erlaubt ist, Gewalt mit Gewalt zu vertreiben, und eS wäre unverantwort­ lich, uns dafür jetzt ein Haar krümmen zu wollen. Wenn ihr um eures und ihres augenblicklichen Vorteils willen dem Rechte

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eine Nase dreht, so beweist ihr damit, daß es euch hier in Wahrheit nicht um einen gerechten Richterspruch, sondern lediglich um euren Vorteil zu tun ist. Glaubt ihr wirklich, daß die Thebaner euch gegenwärtig nützlich sind, so sind wir und die anderen Griechen das damals erst recht gewesen, als ihr in weit größerer Gefahr wart. Jetzt seid ihr allen anderen mit euren Streitkräfteu überlegen. Damals aber war der Perserkönig drauf und dran, ganz Griechenland zu unterjochen, und damals hielten sie es mit ihm. Und hatten wir auch in der Tat jetzt ein Unrecht begangen, so wäre es nur billig, demgegenüber unsere damalige Opferwilligkeit in Rechnung zu bringen, wobei sich dann doch ein Guthaben zu unseren Gunsten herausstellen würde, zumal wenn ihr in Betracht zieht, wie es zu jener Zeit in Griechenland nicht allzu viele gab, welche den Mut hatten, sich der Macht des Xerxes zu wider- setzen, und wie alle die gepriesen wurden, welche ihr Heil nicht in der Unterwerfung unter den Feind gesucht, sondern furchtlos Leib und Leben gewagt hatten. Und zu denen ge­ hörten wir und sind dafür damals aufs höchste geehrt worden; jetzt aber müssen wir fürchten, daß man uns den Kopf vor die Füße legt, grade weit wir noch die alten sind und lieber den Athenern treu bleiben als um unseres Vorteils willen mit euch gehen wollten. Und doch solltet ihr uns die Gesinnung, die ihr früher so hoch geschätzt, jetzt nicht zum Verbrechen machen und einsehen, daß es auch für euch das beste wäre, wenn sich euer augenblicklicher Vorteil mit dauernder Dankbar­ keit gegen die tapferen alten Freunde vereinigen ließe.

„Jetzt, und auch das solltet ihr bedenken, geltet ihr in Griechenland allgemein als Muster rechtschaffener Gesinnung. Wenn ihr aber gegen uns ein schnödes Urteil sprecht - und bei eurem Ansehen und dem guten Ruf, den auch wir ge­ nießen, wird dieser Prozeß von sich reden machen so sollt ihr die Entrüstung erleben, daß gegen ein tapferes, wenn auch euch nicht gewachsenes Volk solch ein Justizmord verübt und die uns, den Wohltätern Griechenlands, abgenommene Beute in den vaterländischen Heiligtümern aufgestellt werden konnte.

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Ein entsetzlicher Gedanke, daß Platää von Lakedämoniern zer­ stört würde, daß eure Väter den Namen dieser Stadt zu Ehren ihrer Tapferkeit auf dem Dreifuß in Delphi angebracht haben, und daß ihr sie jetzt den Thebanern zuliebe in Griechenland von der Bildfläche vertilgtet. Denn so weit ist es bereits mit uns gekommen. Damals, als die Perser im Lande schalteten, haben sie unsere Stadt zerstört, und jetzt werden wir von euch, unsern alten Freunden, den Thebanern geopfert. Schon zum zweitenmal sehen wir dem Tode ins Angesicht; eben erst waren wir in Gefahr, Hungers zu sterben, wenn wir die Stadt nicht übergaben, und jetzt stehen wir vor diesem Blutgerichte. Wir Platäer, die wir für die Griechen über unsere Kräfte Gut und Blut eingesetzt haben, sind heute verstoßen von aller Welt, verlassen und vogelfrei. Unter unseren damaligen Bundes­ genossen ist nicht einer, der sich unser annimmt; und auch ihr Lakedämonier, unsere einzige Hoffnung, fürchten wir, werdet uns im Stich lassen.

„Und doch, bei den Göttern unseres alten Bundes und um unserer Verdienste um die Griechen willen fordern wir euch auf, lenkt ein und laßt euch erweichen, und wenn ihr wirklich den Thebanern schon etwas versprochen habt, so ver­ langt nun eurerseits von ihnen, daß sie euch freiwillig der Verpflichtung entbinden, eure Wohltäter zu töten, um Dank zu ernten, der euch Ehre und nicht Schande macht, und euren guten Namen nicht anderen zu Gefallen zu verscherzen. Wollt ihr uns das Leben nehmen, so ist das freilich bald getan, aber unser Blut wird euch lange an den Händen kleben. Denn wir sind keine Feinde, die ihr mit gutem Gewissen töten dürftet, sondern eure Freunde und haben nur notgedrungen zu den Waffen gegriffen. Darum wäre es eure heilige Richter- pflicht, uns das Leben zu lassen und nicht zu vergessen, daß wir uns freiwillig ergeben haben und als Schutzflehende zu euch kommen, die man nach griechischem Recht nicht töten darf, und euch zudem allezeit Freundesdienste erwiesen haben. Seht hier die Gräber eurer Väter, die im Perserkriege in unserem Lande gefallen und begraben sind. Iahrein, jahraus haben

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wir sie mit Kleidern und allem, was sonst Sitte ist, von Staats wegen geehrt und ihnen die Erstlinge von den Früchten unseres Landes dargebracht, weil wir ihnen als alten Waffen­ brüdern und Söhnen eines befreundeten Landes ein liebevolles Andenken bewahrten. Und ihr wolltet statt dessen solch ein ungerechtes Urteil gegen uns fällen! Pausanias hat sie ja doch bei uns in der Voraussetzuug bestattet, daß sie hier in Freundesland und unter Freunden ruhen würden. Wolltet ihr unS nun töten und unser Land thebanisch machen, würdet ihr dann nicht eure Väter und Angehörigen in Feindesland und unter ihren Mördern lassen und ihnen die Ehren entziehen, welche sie gegenwärtig genießen? Dazu knechtet ihr ein Land, in dem die Freiheit der Griechen begründet wurde, verödet die Tempel der Götter, mit deren Beistand sie die Perser be­ siegt haben, und beraubt deren Gründer und Erbauer der alt­ hergebrachten Opfer.

„Es würde euch keine Ehre machen, Lakedämonier, wolltet ihr euch an Recht und Sitte der Griechen und an euern Vor­ sahren so versündigen, eure unschuldigen alten Freunde fremdem Hasse aufzuopfern. Darum erweicht euren harten Sinn, habt Mitleid mit uns und laßt uns leben. Bedenkt, wie schrecklich und unverdient unser Los sein würde, und wie unberechenbar das Unglück auch den Besten treffen kann. Wir bitten euch, wie es uns geziemt und die Not gebeut, der Eide eingedenk zu sein, welche' eure Väter uns geschworen haben, und flehen zu den von allen Griechen auf gemeinschaftlichen Altären ver­ ehrten Göttern, daß es uns gelingen möge, euer Herz zu rühren. Als Schutzflehende an den Gräbern eurer Väter rufen wir die Toten an, uns nicht unter die Thebaner kommen zu lassen und uns, ihre besten Freunde, nicht ihren ärgsten Feinden preiszugeben, erinnern sie auch heute in unserer Todesnot an den Tag, wo wir mit ihnen die herrlichsten Taten vollbracht haben.

„Nun aber müssen wir schließen, so schwer uns das insunserer Lage wird; denn damit tritt der Tod hart an uns heran. Zum Schluß aber erklären wir nochmals, daß wir die Stadt

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nicht den Thebanern übergeben - lieber wären wir Hungers gestorben sondern uns vertrauensvoll an euch gewandt haben. Wenn ihr uns also nicht erhört, so ist es eure Pflicht, uns wieder in den vorigen Stand zu setzen und uns wenigstens die Wahl zu lassen, welches Todes wir sterben wollen. Damit beschwören wir euch, uns Platäer, die wir so heldenmütig für Griechenland gekämpft haben und euch jetzt im Vertrauen aus euch, Lakedämonier, um euren Beistand anflehen, nicht unseren bittersten Feinden, den Thebanern, auszuliefern. Nehmt uns in euren Schutz und verschmäht es, die ihr euch rühmt, die Befreier Griechenlands zu sein, unsere Henker zu werden."

So die Platäer. Nun aber traten die The baner, welche besorgten, die Rede könnte auf die Lakedämonier denn doch einen Eindruck gemacht haben, ebenfalls vor und verlangten auch ihrerseits das Wort, da man wider Erwarten die Platäer weit länger habe reden lassen, als zur Beantwortung der Frage nötig gewesen wäre. Nachdem auch ihnen das Wort erteilt war, hielten sie folgende Rede: