History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

Die Mauer der Peloponnesier aber war auf folgende Weise gebaut. Sie bestand aus zwei Ringmauern, von denen die eine gegen Platää, die andere, äußere, gegen einen etwaigen Angriff von Athen her gerichtet war. Der Abstand zwischen beiden betrug ungefähr sechzehn Fuß. Dieser Zwishcenraum von sechzehn Fuß war zu Wohnungen für die Besatzung ein­ geteilt und ausgebaut, alle so dicht beieinander, daß das Ganze wie eine einzige dicke Mauer aussah, die auf beiden Seiten mit Zinnen versehen war. Bei jeder zehnten Zinne befand sich ein hoher Turm von derselben Breite wie die Mauer, der von der inneren bis zur äußeren Seite reichte, so daß man an den Türmen nicht vorbeigehen konnte, sondern mitten durch sie hindurch mußte. Bei Sturm und Regenwetter aber blieb die Mannschaft nachts nicht an den Zinnen, sondern versah den Wachdienst von den Türmen, die ziemlich nah aneinander standen und oben ein Dach hatten. So war die Mauer be­ schaffen, mit der die Platäer eingeschlossen waren.

Diese warteten, nachdem sie ihre Vorbereitungen getroffen, zu ihrem Ausfall eine mondlose, nasse und stürmische Nacht ab, bei dem dann die Männer, welche den Plan angegeben, auch die Führung übernahmen. Zuerst durchschritten sie den Graben, der um die Stadt ging; darauf gelangten sie an die Mauer

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der Feinde, ohne von den Wachen bemerkt zu werden, die sie im Dunkeln nicht sehen und das Geräusch ihrer Tritte nicht hören konnten, da der Wind gegen den Schall war. Auch gingen sie in größeren Abständen voneinander, um durch das Zusammenstoßen ihrer Waffen keine Aufmerksamkeit zu erregen. Dabei trugen sie bloß leichte Rüstung und nur auf dem linken Fuße einen Schuh, um im Kot sicherer zutreten zu können. Zum Aufstieg auf die Mauer wählten sie eine Stelle zwischen zwei Türmen, weil sie wußten, daß die Zinnen unbesetzt waren. Die Leiterträger gingen voran und setzten ihre Leitern an. Dann stiegen zwölf Leichtbewaffnete, nur mit Dolch und Brust­ harnisch, hinauf, und Ammeas, Koroibos' Sohn, der sie an­ führte, war der erste auf der Mauer. Oben angekommen, wandten sich je sechs gegen einen der beiden Türme. Nach ihnen kamen andere Leichtbewaffnete mit kurzen Spießen, denen, damit sie leichter hinaufkämen, ihre Schilde von anderen nach­ getragen wurden, um sie ihnen erst zu geben, wenn es zum Kampf käme. Als schon eine größere Anzahl oben war, wurden die Wachen auf den Türmen es gewahr. Ein Platäer, der sich an einer Zinne halten wollte, riß nämlich dabei einen Backstein los, der mit Geräusch hinunterfiel. Nun wurde Lärm geschlagen, und die ganze Mannschaft rückte auf die Mauer, wußte aber in der sinsteren stürmischen Nacht immer noch nicht, was wirklich los war. Obendrein machten die in der Stadt gebliebenen Platäer in entgegengesetzter Richtung, wie ihre tapferen Landsleute abziehen wollten, einen Ausfall gegen die Mauer der Peloponnesier, um die Aufmerksamkeit der Feinde von ihnen abzulenken. Diese aber blieben in ihrer Bestürzung da, wo sie waren, wußten nicht, was sie aus der Sache machen sollten, und niemand getraute sich, seinen Posten zu verlassen, um anderen zu Hilfe zu kommen. Die für Not­ fälle bereitgehalteuen Dreihundert rückten außerhalb der Mauer dorthin, wo Lärm geschlagen wurde, und auf der Seite nach Theben zu zündete man Lärmfeuer an. Die Platäer in der Stadt aber zündeten auf der Stadtmauer auch eine Menge Feuer an, worauf sie sich schon vorher eingerichtet hatten, um
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die Feinde irrezumachen und in den Glauben zu versetzen, es hätte etwas anderes zu bedeuten, damit sie nicht herüberkämen, bevor ihre abziehenden Landsleute glücklich durch und in Sicher­ heit wären.

Unterdessen hatten diese gleich, nachdem die ersten oben angekommen waren, die Wachen niedergestoßen und sich beider Türme bemächtigt, zur Sicherung gegen Angriffe von der anderen Seite die Durchgänge besetzt, auch von der Mauer Leitern an die Türme gelegt und eine Anzahl ihrer Leute hinaufsteigen lassen, um sich durch Schießen von unten und oben die Feinde vom Leibe zu halten. Mittlerweile setzten auch alle die übrigen drunten am Fuße der Mauer immer mehr Leitern an, rissen die Zinnen ab und stiegen zwischen den Türmen durch über die Mauer. Wer glücklich hinüber war, stellte sich gleich am Grabenrande auf, um jeden Feind, der sich etwa an der Mauer vorwagen und das Übersteigen hindern wollte, mit Pfeilen und Wurfspießen zu beschießen. Als alle hinüber waren, kamen zuletzt auch die Leute wieder von den Türmen herunter und gelangten mit knapper Not an den Graben grade in dem Augenblick, wo die Dreihundert mit Fackeln in den Händen auf sie zukamen. Die Platäer aber im Dunkeln am Grabenrande konnten diese besser sehen und zielten mit Pfeilen und Wurfspießen auf ihre ungeschützten Körperteile, während sie selbst im Dunkeln beim Fackelschein nicht so gut zu sehen waren. So gelangten sie dann alle bis auf den letzten Mann glücklich über den Graben, allerdings nur unter großen Schwierigkeiten und Anstrengungen; denn er war zwar zugefroren, aber das Eis hielt nicht, sondern war bloßes Wassereis, wie es sich bei dem herrshcenden Nord- oder Ostwinde gebildet hatte, und infolge des dabei die Nacht durch gefallenen Schnees war das Wasser im Graben so gestiegen, daß es ihnen fast bis an den Kopf ging. In mancher Hin­ sicht freilich kam ihnen das Unwetter bei ihrer Flucht auch zustatten.

Vom Graben auS schlugen die Platäer nunmehr in Reih und Glied den Weg nach Theben ein, wobei sie den Tempel

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deS Heros Androkrates rechts liegen ließen. Sie glaubten nämlich, der Feind werde nichts weniger vermuten, als daß sie den Weg in Feindesland wählen würden. Auch konnten sie sich alsbald davon überzeugen, daß die Peloponnesier sie auf dem Wege nach dem Kythäron und Dryos-Kephalai, der nach Athen führt, bei Fackelschein verfolgten. Etwa sechs bis sieben Stadien blieben sie auf dem Wege nach Theben; dann wandten sie sich seitwärts und schlugen den Weg ins Gebirge nach Erythrai und Hysiai ein, gingen über das Gebirge und gelangten, ihrer im ganzen noch zweihundertzwölf Mann, glücklich nach Athen; denn einige von ihnen waren schon, bevor sie über die Mauer stiegen, wieder umgekehrt, und einer, ein Bogen­ schütz, war am äußeren Graben den Feinden in die Hände gefallen. Die Peloponnesier aber gaben die Verfolgung auf und kehrten wieder an die alte Stelle zurück. Die Platäer in der Stadt wußten nichts davon, daß die Sache gut abgelaufen war, hatten vielmehr von den in die Stadt Zurückgekehrten gehört, daß keiner mit dem Leben davongekommen sei. Sie schickten deshalb bei Tagesanbruch einen Herold hinaus, um einen Waffenstillstand zur Bestattung der Toten zu erbitten, beruhigten sich dann aber, als sie die Wahrheit erfuhren. So gelangten die tapferen Platäer über die Mauer und in Sicherheit.

Aus Lakedämon schickte man gegen Ende dieses Winters den Lakedämonier Salaithos auf einer Triere nach Mytilene. Nachdem sein Schiff bei Pyrrha angelegt, ging er von da zu Lande weiter und gelangte durch ein Rinnsal an eine Stelle, wo man über die feindliche Umwallung kommen konnte, un­ bemerkt nach Mytilene. Hier teilte er der Regierung mit, daß wirklich ein Einfall nach Attika gemacht werden solle und die zu ihrem Entsatz bestimmten Schiffe bereits unterwegs seien. Er selbst sei deswegen vorausgeschickt und solle sich überhaupt ihrer annehmen. Nun faßten die Mytilener neuen Mut und wollten von Verhandlungen mit den Athenern nichts mehr . wissen. Damit endete dieser Winter und das vierte Jahr des Krieges, den Thukydides beschrieben hat.

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Im folgenden Sommer schickten die Peloponnesier Alkidas, den Befehlshaber ihrer Flotte, mit zweiundvierzig Schiffen nach Mytilene; gleichzeitig fielen sie und ihre Bundesgenossen nach Attika ein, um die Athener von zwei Seiten zu beschäf­ tigen und an der Verfolgung der nach Mytilene gehenden Schiffe zu hindern. Den Oberbefehl führte diesmal Kleomenes an Stelle des noch unmündigen Königs Pausanias, Pleisto­ anax' Sohn, dessen Oheim er war. Sie verwüsteten Attika überall, wo in den früher verheerten Gegenden wieder was gewachsen, oder wo es bei den vorigen Einfällen verschont geblieben war, und dieser Einfall wurde nächst dem zweiten der schlimmste für die Athener. Denn die Feinde, die immer auf Nachricht von Mytilene warteten, ob ihre Schiffe dort glücklich angekommen, durchstreiften mittlerweile das ganze Land und verheerten es weit und breit. Als sie aber immer ver­ gebens warteten und die Lebensmittel ihnen ausgingen, zogen sie wieder ab, ein jeder in seine Heimat.

Inzwischen sahen sich die Mytilener, da die Schiffe vom Peloponnes immer noch nicht ankamen und die Lebensmittel ihnen ausgingen, doch genötigt, sich den Athenern zu ergeben, und das kam so: Salaithos, der selbst schon nicht mehr auf die Schiffe rechnete, beabsichtigte, einen Ausfall gegen die Athener zu machen, und hatte dazu dem Volke, das bis dahin nur leichte Waffen führte, schwere Rüstungen geben lassen. Als die Leute solche Waffen hatten, wollten sie jedoch der Regierung nicht länger gehorchen, rotteten sich zusammen und verlangten, die großen Herren sollten mit ihrem Kornvorrat herausrücken und ihn unter das Volk verteilen, sonst würden sie sich mit den Athenern in Verbindung setzen und ihnen die Stadt übergeben.

Die Mitglieder der Regierung sahen ein, daß dagegen nichts zu machen war, und daß es gefährlich für sie sein würde, wenn der Vertrag ohne sie zustande käme. Sie schlossen des­ halb im Namen der ganzen Bürgerschaft mit Paches und dessen Heere einen Vergleich, wonach sich die Stadt den Athenern auf Gnade und Ungnade ergab, die Mytilener die Truppen in die Stadt aufnehmen, ihrerseits aber Gesandte nach Athen

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schicken sollten, um ihre Sache dort zu führen. Jedoch sollte Paches bis zu deren Rückkehr keinen Mytilener ins Gefängnis legen, als Sklaven verkaufen oder hinrichten lassen. So war es in dem Vergleiche ausgemacht. Die Hauptanhänger der Lakedämonier in der Stadt trauten gleichwohl der Sache nicht, sondern flüchteten beim Einzüge der Athener in der Angst auf die Altäre. Paches aber ließ sie aufstehen, da man ihnen nichts zuleide tun werde, und sie nach Tenedos in Verwahrung bringen, bis in Athen eine Entscheidung getroffen sein würde. Hierauf schickte er ein paar Kriegsschiffe nach Antissa und nahm es ebenfalls in Besitz und traf auch im übrigen in betreff seiner Streitkräfte alle ihm zweckmäßig erscheinenden Anordnungen.

Die Peloponnesier auf den vierzig Schiffen hatten, statt sich möglichst zu beeilen, schon in den peloponnesischen Ge­ wässern viel Zeit verloren und auch nachher ihre Fahrt nur langsam fortgesetzt. In Athen aber hatte man weiter nichts mehr von ihnen gehört, bis sie bei Delos ershcienen waren. Als sie von da nach Mykonos und Ikaros kamen, erhielten sie die erste Nachricht, daß Mytilene genommen wäre. Um sich darüber zu vergewissern, fuhren sie weiter nach Embaton bei Erythrai, wo sie etwa acht Tage nach der Einnahme von Mytilene eintrafen. Nachdem sie hier die volle Gewißheit er­ halten hatten, überlegten sie, was nun zu tun sei, wobei Tautiaplos aus EliS sie also anredete:

„Alkidas und ihr peloponnesischen Befehlshaber hier, ich schlage vor, jetzt auf der Stelle nach Mytilene zu fahren, ehe dort etwas von unserem Kommen verlautet. Denn sicherlich werden wir die Athener in der eben eroberten Stadt in größter Sorglosigkeit überraschen, zumal sie einen feindlichen Angriff von der See für gänzlich ausgeschlossen halten, wo wir ihnen grade jetzt völlig gewahcsen sind. Wahrscheinlich werden sich auch ihre Truppen im Hochgefühl des Sieges ganz sorglos in die Häuser zerstreut haben. Wenn wir also plötzlich und bei Nacht über sie herfallen, so wird es uns hoffentlich mit Hilfe unserer unter der Einwohnerschaft doch wohl immer noch

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vorhandenen Freunde gelingen, uns der Stadt wieder zu be­ mächtigen. Laßt uns deshalb unbedenklich den Versuch wagen, da wir hier einmal Gelegenheit zu einem solchen plötzlichen Überfall haben, vor dem ein Feldherr sich selbst freilich nicht genug hüten kann, die er aber, wenn der Feind sie ihm bietet, ergreifen muß, wenn er überhaupt etwas erreichen will."

Alkidas wollte sich jedoch darauf nicht einlassen. Nun wurde ihm von anderen, ionischen Flüchtlingen und Lesbiern, die mit auf der Flotte waren, empfohlen, wenn er den Vor­ schlag für zu gefährlich hielte, so möge er wenigstens eine der ionischen Städte oder auch das äolische Kyme besetzen und von dort aus Jonien zum Abfall zu bringen suchen. Hoffnung dazu sei vorhanden; denn unerwünscht seien sie hier keinem gekommen. Den Athenern aber würde damit ihre ergiebigste Einnahmequelle entzogen, und wenn sie dann gar zu einer Blockade schritten, würden sie sich obendrein noch in Unkosten stürzen müssen. Wahrscheinlich würde sich auch Pissuthnes wohl zu einem Bündnis mit ihnen verstehen. Aber auch darauf ging Alkidas nicht ein; denn nachdem er bei Mytilene doch einmal zu spät gekommen, war ihm nur darum zu tun, so schnell wie möglich wieder nach dem Peloponnes zu gelangen.

Er ging also von Embaton wieder in See und fuhr an der Küste entlang nach Myonnesos im Gebiete der Tejer, wo er die unterwegs gemachten Gefangenen größtenteils umbringen ließ. Als er darauf bei EphesoS wieder vor Anker ging, er­ schienen bei ihm Gesandte der Samier aus Anaia und er­ klärten ihm, das sei eine schöne Befreiung von Griechenland, Leute umbringen zu lassen, die keine Hand gegen ihn erhoben, Leute, die gar nicht einmal seine Feinde seien, sondern es nur gezwungen mit den Athenern hielten; wenn das so weiter- ginge, so werde er schwerlich viel Feinde auf seine Seite ziehen, wohl aber-sich viele alte Freunde zu Feinden machen. DaS ließ er sich denn auch zur Lehre dienen und setzte eine Anzahl Chier und einige andere, die er noch bei sich hatte, auf freien Fuß. Denn wenn die Leute seine Schiffe kommen sahen, er­ griffen sie nicht etwa die Flucht, sondern gingen ganz un­

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bedenklich an sie heran, weil sie sie für attische hielten und es ihnen bei der Übermacht der Athener zur See gar nicht in den Sinn kam, daß sich peloponnesische Schiffe nach Jonien herübergewagt haben könnten.

Von Ephesos machte sich Alkidas mit der Flotte eiligst davon auf die Flucht. Schon als er noch bei Klaros vor Anker lag, war er nämlich von der Salaminia und der Paralos, die grade von Athen kamen, gesehen worden. Aus Furcht, daß man ihn verfolgen werde, hielt er sich deshalb von nun an immer in offener See in der Absicht, bis zum Peloponnes ohne Not nirgends wieder anzulaufen. Paches und die Athener aber hatten aus Erythrai und auch sonst von allen Seiten Nachricht davon erhalten. Denn da die Städte in Jonien nicht befestigt waren, fürchtete man, wenn auch die Peloponnesier sich dort nicht dauernd festsetzen wollten, so könnten sie doch auf ihrer Fahrt die Städte gelegentlich überfallen und brand- schätzen. Nun versicherten ihn die Paralos und die Salaminia, daß sie ihn bei Klaros selbst gesehen hätten. Er machte sich also eilig auf, um ihn zu verfolgen, und kam dabei auch bis zur Insel Patmos. Da er hier einsah, daß er ihn doch nicht mehr einholen würde, kehrte er wieder um. Immerhin war es ihm erwünscht, daß er die feindliche Flotte, die er auf hoher See nicht mehr erreicht, nicht noch irgendwo an Land betroffen hatte, wo er sie in ihrem Schiffslager hätte bewachen und beobachten müssen.

Als er auf dem Rückwege an der Küste entlang fuhr, legte er bei Notion an, der Hafenstadt von Kolophon, wo sich Kolophoner aus der oberen Stadt angesiedelt hatten, als diese von Itamenes und den Persern erobert worden war, welche eine Partei in der Stadt bei einem Aufstande gerufen hatte. Erobert war sie etwa um die Zeit, als die Peloponnesier zum zweitenmal nach Attika einfielen. In Notion aber waren die Ansiedler unter sich von neuem in Streit geraten. Die einen, die sich von Piffuthnes arkadische und barbarische Söldner er­ beten hatten, behaupteten einen festungsartig abgeschlossenen Stadtteil und bildeten im Verein mit einer Anzahl persisch

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gesinnter Kolophoner aus der oberen Stadt einstweilen die Stadtgemeinde; die anderen, die das Feld geräumt hatten und aus der Stadt geflohen waren, riefen Paches zu Hilfe. Paches lud Hippias, den Hauptmann der Arkadier in der Feste, zu einer Unterredung ein und versprach, falls sie nicht einig werden würden, werde er ihn gesund und unversehrt in die Feste zurückbringen lassen. Der kam auch heraus; Paches aber ließ ihn festhalten und ganz unvermutet plötzlich einen Sturm auf die Feste unternehmen, wodurch sie in seine Hände fiel. Die Arkadier und Barbaren drin ließ er niedermachen, hinterher auch Hippias, wie er versprochen, wieder hineinbringen, aber als er drin war, verhaften und erschießen. Den Kolophonern, soweit sie es nicht mit den Persern gehalten, räumte er Notion wieder ein. Später schickten die Athener Bevollmächtigte nach Notion und ließen die Stadt nach athenischen Gesetzen ein­ richten und die in vershciedene Städte zerstreuten Kolophoner dahin zusammeWehen.

Nachdem Paches in Mytilene wieder angekommen war, eroberte er auch Pyrrha und Eresos. Den Lakedämonier Sa­ laithos, der heimlich in der Stadt geblieben und ihm in die Hände gefallen war, und die nach Tenedos in Verwahrung ge­ gebenen Mytilener sowie alle, die seiner Meinung nach sonst noch an dem Abfall schuld gewesen, schickte er nach Athen. Den größten Teil seines Heeres entließ er; mit dem Reste blieb er auf Lesbos und ordnete die Verhältnisse von Mytilene und der übrigen Insel nach seinem Ermessen.

Als die Mytilener und Salaithos in Athen angekommen waren, ließen die Athener diesen sogleich hinrichten, obgleich er ihnen allerlei Anerbietungen machte, so namentlich, daß er die Peloponnesier zum Abzüge aus Platää bewegen wolle, das noch immer belagert wurde. Danach überlegten sie, was sie mit detl Mytilenern machen wollten, und beschlossen in ihrer Erbitterung, nicht nur die nach Athen gebrachten, sondern alle erwahcsenen Mytilener zu töten, Weiber und Kinder aber als Sklaven zu verkaufen. Hatten sie ihnen den Abfall schon an sich schwer verdacht, da sie nicht wie die übrigen als Unter­

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tanen behandelt waren, so war ihnen vollends die Galle über­ gelaufen, weil eine peloponnesische Flotte gewagt hatte, nach Jonien zu gehen, um ihnen zu Hilfe zu kommen, da das ihrer Meinung nach darauf schließen ließ, daß der Abfall von langer Hand vorbereitet war. Sie schickten auch eine Triere an Paches ab, um ihm den Beschluß zuzustellen mit dem Befehl, die Mytilener unverzüglich zu töten. Am Tage drauf aber kriegten sie es schon mit der Reue und meinten, es sei doch ein gar zu grausamer Beschluß, nicht nur die Schuldigen, sondern eine ganze Stadt umbringen zu lassen. Sobald die an­ wesenden Gesandten der Mytilener und deren * Freunde in Athen das merkten, setzten sie alle Hebel in Bewegung, um die Beamten zu vermögen, einen neuen Beschluß fassen zu lassen, worauf diese um so lieber eingingen, weil sie selbst einsahen, daß es der Mehrzahl der Bürger erwünscht sein würde, wenn man ihnen zu einer erneuten Beratung der Sache Gelegenheit gäbe. Es wurde auch gleich eine VolksverßMmlnng berufen, in der verschiedene Redner das Wort nahmen und ihre Meinüng sagten, insbesondere aber auch Kleon, Kleainetos' Sohn, wieder auftrat, der schon den ersten Beschluß, wonach alle getötet werden sollten, durchgesetzt hatte, ein Mann, der überhaupt wie kein anderer in der Bürgerschaft zu Gewalttätigkeiten neigte und damals den weitaus größten Einfluß beim Volke besaß und folgende Rede hielt:

„Auch sonst habe ich schon oft Gelegenheit gehabt, mich davon zu überzeugen, wie unfähig ein demokratisches Gemein­ wesen ist, über andere zu herrshcen, aber noch niemals so wie heute bei euern Gewissensbissen über Mytilene. Weil ihr im täglichen Leben gemütlich und arglos miteinander verkehrt, meint ihr, es mit den Bundesgenossen ebenso machen zu können, und wenn ihr euch durch sie zu Dummheiten beschwatzen oder durch Mitleid dazu verführen laßt, bedenkt ihr nicht, daß euer gutes Herz euch nur Gefahren, aber keinen Dank der Bundes­ genossen eintragen wird. Daß eure Herrschaft Gewaltherrschaft ist, eure Bundesgenossen euch hassen und nur widerwillig ge­ horchen, kommt euch nicht in den Sinn. Nicht, wenn ihr sie

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zu eigenem Schaden mit Liebenswürdigkeit überhäuft, dürft ihr bei ihnen auf Gehorsam rechnen; denn auf ihre Liebe könnt ihr euch nicht verlassen, sondern nur, wenn ihr sie mit eiserner Faust regiert. Das Schlimmste aber ist, wenn es hier nie dabei bleibt, was nun einmal beschlossen ist; wenn wir nicht einsehen, daß ein Staat mit schlechten Gesetzen, die befolgt werden, besser dran ist als mit den vortrefflichsten Gesetzen, um die man sich nicht kümmert; wenn wir nicht einsehen, daß man ohne viel Wissen mit gesundem Menschenverstand weiter- kommt als mit Gelehrsamkeit und Wankelmut, und daß die einfachen Leute sich in der Regel besser aufs Regieren ver­ stehen als die klugen. Denn die wollen immer noch klüger sein als die Gesetze und etwas Besseres wissen, als was man den Leuten schon gesagt hat, als wenn es nicht sonst noch Gelegenheit genug gäbe, ihre Weisheit auszukramen, was dann dem Staate gemeiniglich nur zum Schaden gereicht. Jene Leute aber, die ihrer eigenen Einsicht nicht trauen, bescheiden sich, nicht klüger zu sein als die Gesetze und nicht das Zeug zu haben, einen tüchtigen Redner zu bekritteln, und grade, weil sie unbefangene Richter und keine Rechtsverdreher und Zungendrescher sind, treffen sie gewöhnlich das Rechte. So müssen auch wir es machen und uns nicht durch unsere Rede­ fertigkeit und den Ehrgeiz, es anderen an Scharfsinn zuvor­ zutun, verleiten lassen, dem Volke die Abänderung seines Be­ schlusses zu empfehlen.

„Ich bin immer noch meiner früheren Meinung und be­ greife nicht, daß man euch noch einmal über Mytilene ver­ handeln läßt und dadurch einen Aufschub herbeiführt, der nur den Schurken zustatten kommt; denn er dient nur dazu, den gerechten Zorn des Beleidigten gegen den Übeltäter abzu­ schwächen, während das Unrecht nur durch eine Vergeltung, die ihm auf dem Fuße folgt, angemessen aufgewogen und ge­ sühnt wird. Es soll mich wundern, wer mir widersprechen wird und euch zu beweisen wagt, daß die Verbrechen der Mytilener uns zum Vorteil, unsere Niederlagen aber den Bundesgenossen zum Nachteil gereichten. Der müßte sich entweder für einen

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Redner halten, der euch beweisen könnte, daß, was hier ein­ stimmig angenommen, kein Beschluß gewesen sei, oder be­ stochen sein, euch durch Spiegelfechterei hinters Licht zu führen. Die Preise solcher Kämpfe verteilt die Stadt an andere, wäh­ rend sie selbst dafür bluten muß. Und daran seid ihr schuld; denn ihr seid schlechte Kampfrichter; ihr seht die Reden und hört die Tatsachen; künftige Dinge seht ihr so, wie sie euch ein Schönredner als möglich vorspiegelt, geschehene Dinge dagegen, bei denen ihr euch lieber auf die Augen als auf die Ohren verlassen solltet, in dem schlechten Lichte, in dem sie euch ein Schandmaul darzustellen weiß. Auf alles Neue, das man euch bringt, hereinzufallen, darin seid ihr groß; von be­ währtem Rate aber wollt ihr nichts hören, Sklaven des Außer­ ordentlichen, Verächter des Gewöhnlichen, die ihr seid. Jeder will möglichst selbst zu Worte kommen, und wenn das nicht, wenigstens mit dem Redner, der es vorbringt, um die Wette dafür eintreten, damit es ja nicht aussieht, als habe man sich seiner Ansicht nur nachträglich angeschlossen. Macht jemand eine treffende Bemerkung, so wollt ihr das immer auch schon gedacht und gemeint haben; aber auch die Folgen zu bedenken, fällt euch nicht ein. Ihr wollt, sozusagen, die Welt ver­ bessern und seid nicht imstande, die, in der wir nun einmal leben, zu begreifen. Dem Reiz, etwas zu hören, könnt ihr ein­ fach nicht widerstehen und sitzt hier wie Maulaffen auf den Bänken der Sophisten und nicht wie Männer, die über Staats­ angelegenheiten verhandeln.

„Ich werde versuchen, euch anderes Sinnes zu machen, und euch zeigen, daß Mytilene sich so nichtswürdig gegen euch benommen hat wie keine andere Stadt. Fällt einer von euch ab, weil ihm eure Herrschaft unerträglich war oder der Feind ihn dazu zwingt, so kann auch ich das verzeihen. Diese Leute aber auf ihrer Insel, hinter festen Mauern, die nur von der See einen Angriff unserer Feinde zu fürchten hatten und sich dagegen mit ihrer vortrefflichen Flotte auch selbst sehr wohl wehren konnten, politisch unabhängig und von euch in jeder Weise verzogen, - wenn die das taten, was war das anders

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als ein Schurkenstreich, kein Abfall - denn über harte Be­ handlung hatten sie nicht zu klagen sondern ein Anfall, was anders als eine Mache mit unseren Todfeinden, um uns zu vernichten? Das ist ja weit schlimmer, als wenn sie sich aus eigener Kraft zum Kriege mit uns aufgerafft hätten. Aber sie haben sich das Schicksal der andern, die schon früher ihren Abfall haben büßen müssen, nicht zur Warnung dienen lassen, und der glückliche Zustand, in dem sie sich bisher befanden, hat sie nicht abgehalten, sich in Gefahr zu stürzen. Weil sie sich von der Zukunft goldene Berge versprachen und auf Er­ folge hofften, die weit über ihre Kräfte, wenn auch lange nicht so weit wie ihre Wünsche gingen, haben sie den Krieg begonnen und sich nicht entblödet, Macht vor Recht gehen zu lassen. Denn sobald sie glaubten, mit uns fertig werden zu können, haben sie uns angegriffen, ohne daß wir ihnen etwas zuleide getan hatten. So aber geht es in der Regel, das Glück, daS einer Stadt allzu schnell und unverhofft zuteil wird, steigt ihr zu Kopfe, und gewöhnlich ist es beständiger, wenn man es sauer verdient hat, als wenn es einem unversehens in den Schoß fällt, ja ich möchte sagen, es ist leichter, sich vor Unglück zu hüten, als das Glück an sich zu fesseln. Schon längst hätten wir die Mytilener nicht besser behandeln sollen als die anderen, dann wären sie nicht so übermütig geworden. Denn so sind die Menshcen, behandelt man sie zu rücksichts­ voll, so überheben sie sich, und es macht ihnen weit mehr Ein­ druck, wenn man sie kurz hält. Darum sollen sie jetzt auch bestraft werden, so wie sie es verdient haben, und ihr dürft nicht nur die paar Stadtjunker maßregeln und das Volk frei ausgehen lassen. Denn alle ohne Unterschied haben sie gegen uns die Waffen ergriffen, während sie durchaus in der Lage waren, sich für uns zu erklären und nach wie vor eine unab­ hängige Stadt zu bleiben. Statt dessen glaubten sie sich besser zu stehen, wenn sie den Adelsputsch mitmachten, und fielen mit ab. Ja, wenn ihr Bundesgenossen, die aus freien Stücken von euch abfallen, nicht anders bestrafen wollt als solche, die vom Feinde dazu gezwungen werden, glaubt ihr denn, sie [*]( I )
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würden nicht alle bei erster Gelegenheit von euch abfallen, da sie Aussicht haben, falls es gut geht, frei zu werden, schlimmsten­ falls aber immer noch leidlich davonzukommen? Wir aber sind dann in keiner Stadt unseres Lebens und unseres Eigen­ tums mehr sicher. Gelingt es uns dann auch, eine Stadt wieder zu unterwerfen und zu zerstören, um die Steuern, worauf unsere Macht beruht, ist es für die Zukunft dann doch geschehen. Werden wir aber gar geschlagen, so haben wir uns zu unseren alten Feinden noch neue auf den Hals gezogen und uns gegen unsere eigenen Bundesgenossen unserer Haut zu wehren, während wir schon unsere liebe Not hatten, mit unseren bisherigen Gegnern fertig zu werden.

„Wir dürfen ihnen also keine Hoffnung machen, daß wir für Geld und gute Worte zu bewegen sein würden, ihnen für diesmal noch durch die Finger zu sehen. Denn sie haben uns nicht unabsichtlich geschadet, sondern es bewußt und vorsätzlich auf unser Verderben angelegt, und nur, was nicht in böser Absicht geschieht, kann verziehen werden. Ich trete also, wie schon das erstaunt, auch jetzt wieder für den Beschluß ein und warne euch, ihn zu ändern, und euch nicht durch Mitleid, Wohl­ gefallen an Redekünsten oder übergroßes Zartgefühl, für einen herrshcenden Staat drei der gefährlichsten Schwächen, zu einer Torheit verleiten zu lassen. Mitleid gehört sich gegen seines- gleichen, aber nicht gegen Leute, die mit uns kein Erbarmen haben würden und notwendig immer unsere Feinde sein werden. Die Redner, die euch einen Ohrenschmaus bereiten möchten, werden schon ein andermal Gelegenheit finden, ihre Künste zu zeigen, auch bei minder wichtigen Dingen als heute, wo die Stadt für das kurze Vergnügen schwer wird büßen müssen, jene Herren selbst freilich für ihre schönen Reden auch schön bezahlt werden. Zartgefühl aber ist nur da angebracht, wo man künftig auch selbst auf eine entsprechende Gesinnung rechnen kann, nicht aber Leuten gegenüber, die nichtsdetsoweniger nach wie vor unsere Feinde bleiben werden. Kurz, wenn ihr meinem Rate folgt, so behandelt ihr die Mytilener, wie sie es verdient, und wie es zugleich zu eurem Besten gereicht; wenn ihr aber

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anders beschließt, so werdet ihr sie damit nicht zu Freunden machen, wohl aber euch selbst das Urteil sprechen. Denn sind sie mit Recht abgefallen, so habt ihr kein Recht, über sie zu herrschen. Wollt ihr eure Herrschaft trotzdem auch wider Ge­ bühr behaupten, so bleibt euch nichts übrig, als sie auch wider Gebühr zu bestrafen; sonst könnt ihr das Herrshcen nur auf­ geben und friedliche Spießbürger werden. Entschließt euch also, ihnen gleiches mit gleichem zu vergelten, und zeigt euch, nachdem ihr der Gefahr entgangen seid, nicht unempsind­ licher als sie, die sie euch zugedacht; denkt auch daran, wie sie es unfehlbar mit euch gemacht hätten, wären sie Sieger ge­ blieben, zumal sie angefangen haben. Denn wer einem andern ohne Ursache Böses tut, ist der unversöhnlichste Feind, und die Furcht, es könne ihm vergolten werden, läßt ihm keine Ruhe, bis der Gegner vernichtet ist. Ein ohne Not gekränkter und dann doch nicht vernichteter Feind ist ja auch gefährlicher als einer, der den Streit mitverschnldet hat. Werdet also nicht zu Verrätern an euch selbst und stellt euch nur lebhaft vor, wie es euch hätte gehen können, und wie ihr alleS drangesetzt haben würdet, sie zu besiegen. Das laßt sie jetzt entgelten und euch durch ihr gegenwärtiges Schicksal nicht erweichen, und vergeßt nicht, wie drohend die Gefahr soeben noch über euren Häuptern schwebte. Bestraft sie, wie sie es verdient, und macht sie auch den übrigen Bundesgenossen zum warnenden Beispiel, daß auf jeden Abfall Todesstrafe steht. Wenn sie das erst wissen, haben die ewigen Balgereien mit den eigenen Bundesgenossen ein Ende, und ihr habt die Hände frei gegen eure Feinde."