History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

Im folgenden Sommer, als das Korn zur Reife stand, fielen die Peloponnesier unter dem lakedämonischen König Archidamos, Zeuxidamos' Sohn, wieder nach Attika ein, wo sie ein Lager bezogen und das platte Land verheerten. Die athenischen Reiter aber machten auch diesmal wieder gelegentlich Ausfälle und hinderten die Schwärme der Leichtbewaffneten daran, sich vom Lager zu entfernen und in der nächsten Umgebung der Stadt Schaden anzurichten. Solange sie Lebensmittel hatten, blieben die Feinde im Lande, dann zogen sie wieder ab und gingen alle nach Hause.

Gleich nach dem Einfall der Peloponnesier fielen die Les­ bier, mit Ausnahme von Methymna, von den Athenern ab. Sie hatten das schon vor dem Kriege gewollt, damals aber hatten die Lakedämonier sie nicht angenommen, und auch jetzt sahen sie sich dazu eher genötigt, als eigentlich ihre Absicht war. Sie wollten nämlich damit warten, bis ihr Hafendamm, ihre Stadtmauer und ihre Flotte fertig, auch alles, was sie an Bogenschützen und was sie sonst vom Schwarzen Meere erwarteten, bei ihnen eingetroffen wäre. Allein ihre Feinde in Tenedos und Methymna und einzelne Parteigänger in Myti­ lene selbst, welche Staatsgatsfreunde der Athener waren, hatten den Athenern gesteckt, daß man die ganze Bevölkerung von Lesbos zwangsweise nach Mytilene versetzen wolle und mit Hilfe der Lakedämonier und stammverwandten Böotier alles zu einem Abfall vorbereite, so daß, wenn man dem nicht zu­ vorkäme, Lesbos für sie verloren sein würde.

Für die Athener, die damals unter der Pest und dem Kriege, der eben jetzt im vollen Gange war, schwer zu leiden hatten, wäre es keine Kleinigkeit gewesen, wenn Lesbos mit seiner Flotte und seiner ungeschwächten Macht nun auch zum Feinde übergegangen wäre. Deshalb wollten sie anfangs solchen Be­ schuldigungen keinen Glauben schenken und lieber gar nichts davon hören. Als sie dann aber selbst Gesandte nach Lesbos geschickt und die Mytilener nicht dahin hatten bringen können,

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jene Versetzung der Bevölkerung und ihre Rüstungen aufzu­ geben, wurden sie doch bange und beschlossen, ihnen zuvor- zukommen. Sie schickten auch gleich vierzig Schiffe, die grade segelfertig waren, um nach dem Peloponnes abzugehen, nach Lesbos, welche Kleippides, Deiuios' Sohn, selbdritter befeh­ ligte. Sie hatten nämlich die Nachricht erhalten, daß man dort in nächster Zeit das Fest des Apollon Maloeis außer­ halb der Stadt feiern würde, an dem sich ganz Mytilene be­ teiligte, und daß sie, wenn sie schnell machten, die Mytilener dabei vermutlich unversehens überfallen könnten. Es kam wenigstens auf den Versuch an. Gelänge er nicht, so sollten die Mytilener aufgefordert werden, die Schiffe auszuliefern und ihre Mauern abzubrechen und, wenn sie das verweigerten, mit Krieg überzogen werden. Die Flotte machte sich auch fordersamst auf den Weg. Die zehn mytilenischen Trieren aber, welche als Bundeskontingent noch bei ihnen waren, hielten die Athener fest und nahmen die Mannschaft in Ge­ wahrsam. Allein jemand, der von Athen nach Euboia über­ gesetzt und zu Lande nach Geraistos gegangen war, hier ein eben abfahrendes Lastschiff getroffen und mit diesem die Reise fortgesetzt hatte und so in drei Tagen von Athen nach Mytilene gelangte, brachte den Mytilenern die Nachricht, daß die Flotte im Anzüge sei. Sie gaben deshalb das Fest am MaloeiStempel auf, legten Pfahlwerke zur Sicherung ihrer halbfertigen Häfen und Mauern an und waren in jeder Beziehung auf ihrer Hut.

AlS die Athener bald darauf mit ihrer Flotte anlangten und das sahen, richteten die Befehlshaber ihren Auftrag auS, und da die Mytilener sich auf nichts einließen, eröffneten sie die Feindseligkeiten. Unvorbereitet und plötzlich zum Kriege gezwungen, wie sie waren, machten die Mytilener vom Hafen aus doch mit ihren Schiffen einen kurzen Vorstoß zu einer Schlacht, wurden aber von den athenischen Schiffen in den Hafen zurückgetrieben. Infolgedessen knüpften sie mit den Be­ fehlshabern Verhandlungen an, um womöglich durch einen leid­ lichen Vergleich die Schiffe zunächst mal wieder loS zu werden. Die athenischen Befehlshaber gingen darauf auch ein, weil

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sie selbst zu einem Kriege mit ganz Lesbos zu schwach zu sein fürchteten. Es wurde also ein Waffenstillstand vereinbart, und die Mytilener schickten Gesandte nach Athen, darunter auch einen jener Angeber, der seinen Schritt bereits bereute, um die Athener zu versichern, daß es nicht die Absicht sei, mit ihnen zu brechen, und sie womöglich zu bewegen, mit ihren Schiffen wieder abzuziehen. Da sie aber bezweifelten, ob es ihnen damit in Athen glücken würde, schickten sie gleichzeitig, ohne daß man auf der bei Malea, im Norden der Stadt, ankernden athenischen Flotte was davon merkte, auf einer Triere auch Gesandte nach Lakedämon, die nach einer be­ schwerlichen Fahrt dort ankamen und es auch fertig brachten, daß ihnen Hilfe zugesagt wurde.

Als die Gesandten dann auch uuverrichteter Sache von Athen zurückkamen, entschlossen sich die Mytilener und mit ihnen bis auf Methymna ganz Lesbos, den Krieg aufzunehmen. Methymna nämlich stand wie Imbros und Lemnos und einige andere Bundesgenossen auf seiten der Athener. Auch kam es bei einem Ausfall, den die Mytilener mit ihrer ganzen Macht gegen das Lager der Athener unternahmen, zu einer Schlacht. Die Mytilener wurden zwar nicht geschlagen, getrauten sich aber nicht, über Nacht draußen zu bleiben, sondern zogen sich in die Stadt zurück. Seitdem ließen sie sich nicht mehr blicken, weil sie sich erst dann wieder auf eine Schlacht einlassen wollten, wenn sie Hilfe aus dem Peloponnes oder anderweit Ver­ stärkungen erhalten hätten. Inzwischen hatten sich nämlich der Lakedämonier Meleas und der Thebaner Hermaiondas bei ihnen eingefunden, die zwar schon vor dem Abfall abge­ sandt, aber da sie der attischen Flotte nicht zuvorkommen konnten, erst nach der Schlacht auf einer Triere unbemerkt an die Stadt gelangt waren, und ihnen geraten, nochmals ein Schiff abzufertigen und mit ihnen eine neue Gesandtschaft abzuschicken, und das hatten sie auch getan.

Die Athener, denen der Mut gewachsen war, weil die Mytilener nicht herauskamen, zogen nun Bundesgenossen heran, die um so bereitwilliger erschienen, da die Mytilener anscheinend

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keine großen Helden waren. Sie schlossen die Stadt jetzt auch auf der Südseite mit ihren Schiffen ein, legten zwei befestigte Lager an, auf jeder Seite der Stadt eins, und sperrten mit ihrer Flotte die Einfahrt beider Häfen. Damit schnitten sie die Mytilener allerdings von der See ab, dagegen waren diese und die inzwischen zu ihnen gestoßenen übrigen Lesbier nach wie vor Herren der Landseite. Selbst in der nächsten Um­ gebung ihrer Lager reichte die Macht der Athener nicht weit, und ihr Hauptstandort für ihre Schiffe und die Zufuhren blieb Malea. So verlief der Krieg bei Mytilene.

Um dieselbe Zeit in diesem Sommer sandten die Athener auch nach dem Peloponnes dreißig Schiffe unter Asopios, dem Sohne Phormions. Die Akarnanier hatten sie nämlich ge­ beten, ihnen einen Sohn oder doch einen Verwandten Phor­ mions als Feldherrn zu schicken. Auf der Fahrt plünderten die Schiffe die Ortschaften an der lakonischen Küste, dann aber schickte Asopios die meisten wieder nach Hause und fuhr selbst mit nur zwölf Schiffen nach Naupaktos. Darauf wandte er sich, nachdem er ganz Arkarnanien auf die Beine gebracht hatte, nach Oiniadai, und während er mit der Flotte vor dem Acheloos erschien, verwüstete das Landheer die Umgegend. Da die Stadt sich aber nicht ergab, ließ er das Landheer wieder abziehen und fuhr selbst mit der Flotte nach Leukas, wo er bei Nerikos eine Landung machte, dabei aber auf dem Rück­ züge von der nicht zahlreichen Besatzung und der aufgestan­ denen Landbevölkerung mit einem Teile seines Heeres erschlagen wurde. Nachher holten die Athener, als sie wieder zu Schiff waren, ihre Toten unter Waffenstillstand von den Leukadiern ab.

Die mit dem ersten Schiffe abgegangenen Gesandten der Mytilener hatten sich nach Olympia begeben, da die Lake­ dämonier sie aufgefordert hatten, sich auch dort einzusinden, damit die übrigen Bundesgenossen ihre Wünsche ebenfalls vernehmen und in Erwägung ziehen könnten. Es war die Olympiade, in der Dorieus aus Rhodos zum zweitenmal siegte. Nach Beendigung der Festlichkeiten wurden sie vorgelassen und hielten folgende Rede:

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„Wie man in Griechenland über die Dinge denkt, Lake­ dämonier und Bundesgenossen, wissen wir wohl. Wer im Kriege mit seinem bisherigen Bundesgenossen bricht und von ihm abfällt, den nimmt man eben an, weil er einem nützt, und läßt ihn sich gefallen, hält ihn aber im Grunde doch für einen Verräter und für minder wert als die alten Freunde. Und das nicht mit Unrecht, sofern es sich bei dem Bruch um zwei ehrlich befreundete, gleichmächtige und schlag­ fertige Staaten handelt und kein stichhaltiger Grund zum Abfall vorhanden ist. So aber lag die Sache zwischen uns und den Athenern nicht, und deshalb wird man uns es nicht verargen können, wenn wir, obgleich sie uns im Frieden gut behandelt haben, jetzt im Kriege von ihnen abfallen.

„Zunächst also ein Wort zur Rechtfertigung dieses Ab- falles und über unsere Ehrlichkeit, grade weil uns es um ein Bündnis mit euch zu tun ist. Denn wir wissen, daß, wie zwischen einzelnen keine echte Freundschaft, so auch zwischen Staaten kein wirkliches Einvernehmen möglich ist, wenn sie nicht gegenseitig an ihre Ehrlichkeit glauben und nicht in jeder Beziehung gleiche Anschauungen von Pflicht und Ehre mit­ bringen. Ohne Übereinstimmung darin hat es auch mit dem Bündnis kurze Wege. Unser Bündnis mit den Athenern stammt aus der Zeit, wo ihr euch vom Perserkriege zurückzogt, während sie aushielten, um ihn vollends auszufechten. Dies Bündnis gingen wir aber nicht ein, um den Athenern zur Herrschaft über die Griechen zu verhelfen, sondern um die Griechen von der Herrschaft der Perser zu befreien. Solange sie bei ihrem Oberbefehl niemand zu nahe traten, gingen wir bereitwillig mit ihnen. Als wir aber sahen, wie ihre Feindschaft gegen die Perser nachließ und ihr Absehen immer mehr ans die Unter­ drückung der Bundesgenossen gerichtet war, wurde uns die Sache bedenklich. Die Bundesgenossen aber waren bei ihrer Vielköpfigkeit nicht unter einen Hut zu bringen, konnten sich gegen die Athener nicht wehren und wurden bis auf uns und die Chier ihre Untertanen. Wir blieben allerdings unabhängig, mußten aber unter dem Namen freier Bundesgenossen ihre

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Kriege mitmachen. Nach dem, was anderswo vorgekommen, konnten wir jedoch zu dem Oberbefehl der Athener kein Ver­ trauen mehr haben. Denn wie sie die anderen, welche mit uns ihre Bundesgenossen geworden waren, unterjocht hatten, so würden sie es sicher mit uns beiden bei erster Gelegenheit auch gemacht haben.

„Wären wir alle noch unabhängig, so könnten wir schon eher darauf rechnen, daß sie uns unsere Unabhängigkeit auch ferner lassen würden. Da aber die meisten schon ihre Unter­ tanen sind, während sie mit uns noch auf gleichem Fuß ver­ kehren müssen, so ist ihnen natürlich schon den anderen gegen­ über, die sich ihnen gefügt haben, diese uns allein verbliebene Gleichberechtigung höchst unbequem, zumal sie inzwischen immer mächtiger geworden, wir aber mehr und mehr auf uns allein angewiesen sind. Ein Bündnis hat nur Bestand, wenn beide Teile sich gegenseitig fürchten; denn dann läßt auch der, welcher dem anderen was am Zeuge flicken möchte, ihn doch lieber in Ruhe, weil er weiß, daß er ihn nicht mit überlegener Macht angreifen kann. Uns aber haben sie unsere Unabhängigkeit nur deshalb gelassen, um den Schein zu meiden, als hätten sie ihre Herrschaft nicht durch ehrliche und einsichtige Politik, sondern durch Gewalt erworben. Zugleich dienten wir ihnen als Beweis für die Gerechtigkeit ihrer Sache, da Staaten mit gleichem Stimmrecht denn doch nicht freiwillig mit ihnen zu Felde ziehen würden, wenn der Gegner nicht im Unrecht wäre. Ebenso gingen sie zumeist mit Hilfe der Stärkeren gegen die Schwächeren vor, so daß die letzten, welche sie übergelassen, dann um so schwächer waren. Hätten sie mit uns den Anfang gemacht, als alle noch bei Kräften und noch bündnisfähige Staaten vorhanden waren, so wären sie damit so leicht nicht fertig geworden. Auch fürchteten sie sich wohl vor unserer Flotte, die mit eurer oder einer anderen zusammen ihnen hätte gefährlich werden können. Endlich ließ man uns auch deshalb in Ruhe, weil wir uns ihrer Stadt und den Männern, welche jeweilig an der Spitze standen, beständig gefällig er­ wiesen. Schwerlich aber hätten wir uns noch lange behaupten

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können, wäre nicht dieser Krieg ausgebrochen; so viel konnten wir uns nach dem, wie es den andern ergangen war, an den Fingern abzählen.

„War denn das eine Freundschaft oder eine Gewähr der Freiheit, wenn wir uns einander gegen unseres Herzens Meinung höflich behandelten, sie uns im Kriege aus Furcht um den Bart gingen und wir es im Frieden ebenso machten? Während man sich sonst bei einem Bündnis grade auf gegen­ seitiges Wohlwollen verläßt, war es bei uns Furcht, was uns zusammenhielt; nur aus Furcht, nicht aus Liebe sind wir Bundesgenossen geblieben. Wer von uns beiden es ohne Gefahr zuerst hätte wagen können, würde sich nicht lange be­ sonnen haben, das Bündnis zuerst zu brechen. Also, wenn man etwa meint, es wäre unrecht von uns gewesen, gleich von ihnen abzufallen, weil sie mit dem Beginn der Feind­ seligkeiten noch zögerten, wir hätten vielmehr damit warten sollen, bis wir gewiß waren, daß es wirklich dazu kommen würde, so ist das nicht richtig. Ja, wenn wir in dieser Hin­ sicht jederzeit ihnen gegenüber gleiches Spiel gehabt hätten, so hätten wir uns freilich nach ihnen richten müssen; allein da sie es in der Hand hatten, uns jeden Augenblick anzugreifen, so mußte es auch uns freistehen, uns dagegen beizeiten vor­ zusehen.

„Das, Lakedämonier und Bundesgenossen, sind die Gründe, welche unseren Abfall erklären und rechtfertigen. Sie werden genügen, um euch zu überzeugen, daß wir richtig gehandelt haben, und jedem begreiflich machen, daß wir uns vorsehen und auf unsere Sicherheit Bedacht nehmen mußten. Wir wollten ja schon früher von ihnen abfallen, damals, als wir noch im Frieden deswegen zu euch schickten, aber damals mußten wir die Sache aufgeben, weil ihr uns nicht haben wolltet. Jetzt aber sind wir der Aufforderung der Böotier sogleich nachgekommen und haben uns von unseren bisherigen Bundesgenossen aus dem doppelten Grunde getrennt, einmal um den Athenern nicht länger zur Unterdrückung der Griechen die Hand zu bieten und diese befreien zu helfen, sodann aber

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auch um uns selbst für die Zukunft vor Gewaltstreichen der Athener sicherzustellen. Unser Abfall ist freilich reichlich schnell und unvorbereitet erfolgt. Um so mehr müßt ihr uns deshalb in euren Bund aufnehmen und uns unverzüglich Hilfe schicken, um zu beweisen, daß ihr Manns genug seid, anderen in der Not zu helfen und dadurch zugleich euern Feinden Ab­ bruch zu tun. Dazu aber bietet sich eben jetzt eine Gelegen­ heit wie nie zuvor. Die Kräfte der Athener sind durch die Pest und große Ausgaben erschöpft; ihre Schiffe befinden sich zum Teil hier in euren Gewässern, zum Teil sind sie drüben bei uns beschäftigt. Wahrscheinlich haben sie nicht Schiffe genug, wenn ihr ihnen in diesem Sommer zugleich mit der Flotte und dem Heere zum zweitenmal ins Land fielt; ent­ weder also würden sie sich gegen eure Flotte nicht wehren können oder ihre Schiffe hüben und drüben zurückziehen müssen. Glaubt ja nicht, euch eines fremden Landes wegen in Gefahr zu stürzen. Meint man, Lesbos läge weit weg, so liegen doch die Vorteile, die es bietet, nahe genug. Denn nicht in Attika, wie man glauben möchte, wird der Krieg ausgefochten werden, sondern da, wo die Hilfsquellen der Athener fließen. Ihre Einnahmen aber haben sie von den Bundesgenossen, und die werden noch größer werden, wenn sie auch uns erst unter­ worfen haben. Denn abfallen wird dann niemand weiter; unsere Steuern aber werden hinzukommen, und wahrscheinlich würden wir noch ärger bluten müssen als ihre alten Unter­ tanen. Kommt ihr uns aber bereitwillig zu Hilfe, so gewinnt ihr eine Stadt mit einer tsarken Flotte, woran es euch grade fehlt, und werdet um so eher mit den Athenern fertig werden, indem ihr ihnen ihre Bundesgenossen entzieht; denn dann werden sie Vertrauen zu euch fassen und alle mit Freuden zu euch übergehen, und man wird euch nicht länger vorwerfen können, daß ihr die Städte im Stich ließt, die von den Athenern abfallen wollen. Sieht man nur erst, daß ihr als Befreier kommt, so habt ihr gewonnen Spiet und werdet als Sieger auS dem Kriege hervorgehen.

„Laßt also die Hoffnungen, die man in Griechenland auf [*]( I )

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euch setzt, nicht zuschanden werden und scheut den olympischen Zeus, in dessen Heiligtum wir gleich Schutzflehenden erscheinen. Nehmt uns als Bundesgenossen an und steht uns bei. Laßt uns nicht im Stich in dem Augenblick, wo wir Leib und Leben wagen, ihr alle aber, wenn es uns glückt, den Gewinn - erst recht aber, wenn ihr euch uns versagt und wir das Spiel verlieren, den Verlust mit uns teilen werdet. Bewährt euch als die Männer, für die man euch in Griechenland hält und wie unsere Not sie erheischt."

So die Mytilener. Die Lakedämonier und die Bundes­ genossen, die sie angehört, gaben ihnen recht und nahmen Lesbos in ihren Bund auf. Die Lakedämonier aber befahlen den dort versammelten Bundesgenossen, sich zu dem beabsichtigten Einfall nach Attika unverzüglich mit zwei Dritteln ihrer Mann­ schaft auf dem Isthmus einzufinden, wo sie denn auch selbst als die Ersten zur Stelle waren. Auf dem Isthmus machten sie Anstalt, die Schiffe über Land auf Walzen aus dem Ko­ rinthischen Meerbusen in die Athenische See hinüberzuziehen, um den Feind gleichzeitig zu Wasser und zu Lande anzugreifen. Sie selbst entwickelten dabei großen Eifer, während die übrigen Bundesgenossen, die mit der Ernte beschäftigt waren und keine rechte Lust zum Kriege hatten, sich nur langsam einfanden.

Die Athener merkten recht gut, daß sie diese Rüstungen betrieben, weil man ihre Kräfte unterschätzte, und wollten ihnen beweisen, daß man sich darin geirrt und sie ihrerseits sehr wohl imstande seien, der vom Peloponnes kommenden Flotte die Spitze zu bieten, auch ohne ihre Schiffe von Lesbos zurückzuziehen. Sie stellten gleich hundert Schiffe in Dienst, deren Mannschaft sie teils aus der Bürgerschaft - mit Aus­ nahme der Ritter und Fünfhundertscheffler -, teils aus den Schutzverwandten entnahmen, und gingen damit in See, zeigten sich am Isthmus und landeten im Peloponnes überall nach Belieben. Beim Anblick dieser Flotte, der ihnen völlig uner­ wartet kam, glaubten die Lakedämonier, die Mytilener hätten ihnen nicht die Wahrheit gesagt, und trauten deshalb ihrer Sache nicht. Da überdies die Bundesgenossen ausblieben und

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sie dann gar noch die Nachricht erhielten, daß die um den Peloponnes kreuzenden dreißig Schiffe der Athener die Um­ gegend ihrer Hauptstadt verwütseten, gingen sie wieder nach Hause. Später rüsteten sie dann doch eine Flotte, um sie nach Lesbos zu schicken, zu der die einzelnen Städte im ganzen vierzig Schiffe stellen mußten. Den Oberbefehl darüber erhielt Alkidas, der damit nach Lesbos abgehen sollte. Als die Athener sahen, daß die Gegner abgezogen waren, gingen sie mit ihren hundert Schiffen wieder nach Hause.

Niemals haben die Athener so viel stattliche Schiffe zu­ gleich im Dienst gehabt wie zu der Zeit, wo diese hundert in See gingen; höchstens etwa bei Beginn des Krieges hatten sie ebenso viele, vielleicht gar noch mehr. Hundert nämlich dienten zur Bedeckung von Attika, Euboia und Salamis; weitere hundert befanden sich in den peloponnesischen Gewässern; dazu kamen die bei Potidäa und auf sonstigen Stationen, so daß sie in dem einen Sommer im ganzen zweihuudertfuufzig Schiffe zugleich im Dienst hatten. Namentlich dadurch aber und durch Potidäa waren ihre Kassen allmählich leer geworden. Bei der Belagerung von Potidäa erhielt der Hoplit täglich zwei Drachmen, eine für sich und eine für seinen Diener. Ihre Zahl betrug gleich anfangs dreitausend, und so hoch blieb sie bis zu Ende der Belagerung. Dazu noch die sechzehnhundert unter Phormion, die jedoch schon vorher wieder abzogen. Der­ selbe Sold wurde sämtlichen Schiffen gezahlt. So war das Geld bei ihnen schon vorher nach und nach draufgegangen, und nun hatten sie gar diese gewaltige Flotte ausgerüstet.

Um dieselbe Zeit, wo die Lakedämonier am Isthmus standen, unternahmen die Mytilener mit ihren Hilfsvölkern zu Lande einen Zug gegen Metymna, auf dessen Übergabe durch Verrat sie hofften, und machten auch einen Angriff auf die Stadt. Da sie damit jedoch nicht den erwarteten Erfolg hatten, wandten sie sich nach Antissa, Pyrrha und Eresos, trafen hier Einrichtungen, um sich dieser Städte zu versichern, und ließen deren Mauern verstärken, gingen dann aber schnell wieder nach Hause. Als sie wieder fort waren, zogen nun auch die

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Metymner auf Antissa, wurden aber von den Einwohnern und ihren Hilfsvölkern bei einem Ausfall geschlagen und ließen dabei viele Tote auf dem Platze, worauf die übrigen schleunig wieder abzogen. Als die Athener hörten, daß die Mytilener auf der Insel nach wie vor ihr Wesen trieben und ihre eigenen Streitkräfte dort nicht ausreichten, um die Stadt einzuschließen, schickten sie zu Anfang des Herbstes tausend Hopliten aus der Bürgerschaft unter Paches, Epikuros' Sohn, nach Mytilene. Nachdem diese, die unterwegs den Ruderdienst an Bord selbst verrichtet hatten, dort angekommen waren, umgaben sie die Stadt ringsum mit einer einfachen Mauer, in die jedoch hie und da an den herrshcenden Stellen stärkere Werke eingebaut wurden. So war denn, als der Winter ins Land kam, Mytilene zugleich von der Land- wie von der Seeseite fest eingeschlossen.

Da die Athener für die Belagerung mehr Geld nötig hatten, brachten sie, damals zum ersten Male, eine Kriegssteuer auf im Betrage von zweihundert Talenten, sandten auch, um Steuern bei den Bundesgenossen zu erheben, zwölf Schiffe aus, welche Lysikles selbfünfter befehligte. Der machte mit seinen Schiffen die Runde, um überall Geld einzutreiben, wurde dann aber, als er dabei auch nach Karien kam und über Myus durch die Maiandrosebene bis zur Sandoshöhe vordrang, von den Karern und Anaiiten überfallen und mit vielen seiner Leute ershclagen.

In diesem Winter litten die Platäer, die noch immer von den Peloponnesiern und den Böotiern belagert wurden, große Not, weil ihnen die Lebensmittel ausgingen. Auf Hilfe von Athen war nicht zu rechnen und auch sonst keine Hoff­ nung auf Rettung mehr vorhanden. Sie und die mit ihnen in der Stadt befindlichen Athener faßten deshalb zuerst den Plan, allesamt aus der Stadt abzuziehen, über die Mauer der Feinde zu steigen und sich womöglich durchzuschlagen. Theaine­ tos, Tolmides' Sohn, ein Wahrsager, und Eupompidas, Dai­ machos' Sohn, der auch den Oberbefehl in der Stadt führte, waren es, die das vorgeschlagen hatten. Nachher aber wurde

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etwa die Hälfte doch wieder bedenklich, weil man die Sache für allzu gefährlich hielt. Schließlich blieben nur etwa zwei­ hundertzwanzig fest und entschlossen, den Ausfall zu wagen, den sie dann auch auf folgende Weise ausführten. Sie machten sich Leitern von gleicher Höhe wie die Mauer der Feinde, die i sie an der Zahl der Backsteinschichten abmaßen an einer Stelle, wo die Mauer nach der Stadtseite nicht verputzt war. Die Schichten wurden von mehreren zugleich gezählt, damit, wenn sich dabei der eine oder andere auch verzählte, die Überein­ stimmung der Mehrheit doch das Richtige ergäbe, zumal da wiederholt gezählt wurde und das Stück Mauer, worauf es ankam, ziemlich nah und deutlich zu sehen war. Aus der Dicke des einzelnen Backsteins berechneten sie dann die Höhe und ge­ wannen dadurch das Maß für die nötige Länge der Leitern.