History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

„Mit einem Worte, ich sage, unsere Stadt ist die hohe Schule für ganz Griechenland, und glaube, daß auch der ein­ zelne Athener sich mit seiner Gewandtheit und Sicherheit in allen Lebenslagen in der Regel leicht zurechtfinden wird. Und daß ich damit nicht nur bei dieser Gelegenheit den Mund etwas voll nehme, sondern daß dem in der Tat so ist, beweist die große Stellung unserer Stadt, die wir solchen Eigenschaften verdanken. Sie allein ist, bei Lichte besehen, größer als ihr Ruf, die einzige, von der besiegt zu werden auch der Feind sich nicht schämt, der zu gehorchen ihre Untertanen nicht unter

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der Würde halten. Nach einer so glänzenden und wahrlich zur Genüge bezeugten Entfaltung unserer Macht und Größe kann uns die Bewunderung der Mit- und Nachwelt nicht fehlen. Wir brauchen zur Verherrlichung unserer Taten keinen Homer noch sonst einen Sänger, der für den Augenblick ent­ zückt, dessen Fabelwelt dann aber vor der Wahrheit nicht Stich hält. Über Land und Meer, soweit eines Menschen Fuß reicht, sind wir die Heldenbahn geschritten und haben überall bei Freund und Feind ein unvergängliches Andenken hinterlassen. Für diese Stadt haben auch diese Tapferen als deren treue Söhne ihr Leben gelassen, und auch unter uns Überlebenden hier ist gewiß keiner, der nicht mit Freuden für sie in den Tod gehen würde.

„Darum bin ich auch auf die Verhältnisse unserer Stadt eingegangen. Ich wollte euch zeigen, daß für uns denn doch andere Dinge auf dem Spiel stehen als für Leute, bei denen es dergleichen wie hier bei uns nicht gibt, und dadurch zugleich das Verdienst der Männer, denen ich die Grabrede halte, um so Heller ins Licht setzen. Auch ist damit das Beste zu ihrem Ruhm bereits gesagt. Denn alles, was ich zum Ruhm der Stadt gesagt habe, verdankt sie eben der Tüchtigkeit dieser Männer und solcher Helden wie sie, und in ganz Griechenland wird man das nicht von allzuvielen, so wie von ihnen, ohne Übertreibung rühmen können. Ich meine, ein Tod wie ihrer beweist unter allen Umständen die Tüchtigkeit eines Mannes, mag er sie damit zum erstenmal bewähren oder vollends be­ siegeln. Selbst dem Taugenichts kommt es zugute, wenn er schließlich sein Leben auf dem Schlachtfelde fürs Vaterland einsetzt; denn durch solche Tapferkeit hat er seine Fehler be­ deckt und dem Gemeinwesen mehr genützt als durch sein früheres Lotterleben geschadet. Hier unter diesen Tapferen war keiner, der sich in Überfluß und Genußsucht verweichlicht oder in der Hoffnung, aus einem armen Schelm dermaleint snoch ein reicher Mann zu werden, lange besonnen hätte, der Gefahr ins An­ gesicht zu sehen. Sie alle hatten kein größeres Verlangen, als gegen den Landesfeind zu kämpfen, kannten keinen schöneren

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Tod als den fürs Vaterland und, ohne ihr Leben im Kampfe gegen die Feinde zu wagen, hatten auch andere Güter in ihren Augen keinen Wert. Während sie auf den Sieg, den immer ungewissen, nur hoffen konnten, gingen sie im Vertrauen auf ihre eigene Kraft in den Kampf. Und indem sie lieber tapfer kämpfen und sterben, als durch feige Flucht ihr Leben retten wollten, haben sie ihren Heldenmut durch die Tat bewiesen und brauchen keine Lästerzunge zu fürchten. So sind sie in kurzer Schicksalsstunde, vom höchsten Ruhmesglanz umstrahlt, den Heldentod gestorben.

„Diese Tapferen haben ihre Schuldigkeit getan, indem sie für die Stadt ihr Leben ließen. Mögen die Überlebenden immerhin wünschen, daß es ihnen nicht auch das Leben kostet, darum aber doch nicht minder entschlossen sein, es mutig gegen den Landesfeind einzusetzen. Wozu, - das braucht ihr euch von einem Redner, der das nicht besser weiß als ihr, durch einen Vortrag über den Nutzen der Tapferkeit nicht erst aus­ einandersetzen zu lassen; nein, macht nur die Augen auf, um euch tagtäglich von der Macht und Schönheit unserer Stadt zu überzeugen und euch recht eigentlich in sie zu verlieben. Und wenn ihr euch dann ihrer Größe freut, so vergeßt nicht, daß kühne und von Ehrgefühl beseelte Männer, welche wußten, waS ihre Schuldigkeit war, uns das zuwege gebracht haben, Männer, die nicht nach jedem Mißerfolg den Mut sinken ließen, sondern immer wieder bereit waren, ihr Leben auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern. Dafür aber, daß sie ihr Leben fürs Vaterland hingegeben haben, ist ihnen denn auch unsterb­ licher Ruhm und das herrlichste Grabmal zuteil geworden, nicht hier, mein' ich, wo sie beigesetzt worden sind, sondern überall da, wo ihr Ruhm fortlebt und sich ein Anlaß bietet, ihrer durch Wort oder Tat zu gedenken. Denn das Grabmal be­ rühmter Männer sind alle Lande, und nicht nur in der Heimat kündet die Inschrift auf dem Grabstein ihren Ruhm, sondern auch in der Fremde bleibt, wenn nicht ihre Tat, so doch ihr Mut auch ungeschrieben bei jedermann in lebendigem Ge­ dächtnis. Sie also nehmt euch zum Beispiel; erblickt auch ihr

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das Glück in der Freiheit, die Freiheit in der Tapferkeit, und steht auch ihr euren Mann, wenn euch von Feinden Gefahr droht! Denn wo man nur ein kümmerliches Dasein führt und nichts Besseres zu hoffen hat, hat man auch keinen Grund, sein Leben in die Schanze zu schlagen, wohl aber da, wo man bei einem Umschwung der Dinge was zu verlieren hat und ein unglücklicher Krieg so viel ausmacht. Dem Mutigen ist feige Jämmerlichkeit schmerzlicher als der Tod, den er im Hochgefühl der Kraft und in der Freudigkeit des Sieges als kein Übel empfindet.

„Darum will ich auch euch, die hier anwesenden Eltern dieser Tapferen, nicht beklagen, sondern zu trösten suchen. Glück und Unglück, das wißt ihr, wechseln beständig im menschlichen Leben; glücklich, wem ein so schönes Ende wie ihnen oder eine so edle Trauer wie euch zuteil wird, wem nach einem glück­ lichen Leben auch ein glücklicher Tod beschieden ist. Ich weiß, es ist schwer, euch über einen Verlust zu trösten, an den ihr, wenn ihr andere ein Glück genießen seht, dessen ihr euch einst auch freuen durftet, immer von neuem erinnert werdet. Ein Glück, das man nie gekannt, zu entbehren, tut nicht weh, weh aber, ein Glück zu verlieren, an das man gewöhnt war. Wer von euch noch in dem Alter ist, daß er auf Kinder hoffen kann, mag sich an solcher Hoffnung aufrichten. Die neuen Kinder werden den Eltern ein Trost für die verlorenen sein, die Stadt aber wird davon den doppelten Vorteil haben, daß sie an Bürgern nicht ärmer wird und an Sicherheit gewinnt. Wer nicht selbst auch Kinder zu verlieren hat, dem wird da, wo es sich um Fragen des Gemeinwohls handelt, auch das volle Ver­ ständnis für die Gefühle und Interessen seiner Mitbürger fehlen. Ihr aber, die ihr über dies Alter hinaus seid, freut euch, daß ihr den größten Teil eures Lebens glücklich gewesen seid, und daß es bald mit euern Tagen zur Neige geht, und zehrt hinfort vom Ruhme eurer Söhne; denn nur der Ehrgeiz altert nicht, und das, woran sich das tatenlose Alter am meisten freut, ist nicht, wie man wohl behauptet, das Geld, sondern die Ehre.

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„Euch freilich, ihr hier anwesenden Söhne und Brüder dieser Helden, fürcht' ich, wird es schwer werden, mit ihnen um den Ruhmespreis zu ringen. Denn die Toten pflegt jeder zu rühmen, und auch bei der größten Tapferkeit wird man euch nicht für ihresgleichen, sondern für etwas weniger halten. Denn den Lebenden, der sich hervortut, beneidet man, dem Toten aber, der uns nicht mehr im Wege steht, gönnt man neidlos seine Ehre. Und wenn ich zuletzt auch noch ein Wort über die Tugenden der Frauen sagen soll, die jetzt in den Witwenstand versetzt sind, so kann ich mich ganz kurz auf einen guten Rat beschränken. Euer höchster Ruhm wird sein, echter Weiblichkeit nichts zu vergeben, und die wird für die beste gelten, von der in Lob und Tadel unter Männern am wenigsten die Rede ist.

„Damit hätte ich nun, um der einmal eingeführten Ord­ nung zu genügen, zu Ehren dieser Toten auch eine Rede ge­ halten; durch die Tat aber sind sie bereits durch dieses Be­ gräbnis sowie dadurch geehrt, daß die Stadt ihre Kinder, bis sie zu ihren Jahren kommen, auf öffentliche Kosten erziehen läßt, eine Auszeichnung, womit die Stadt sie und ihre Hinter­ bliebenen für so hervorragende Leistungen zweckmäßig belohnt. Denn wo der Tapferkeit der höchste Lohn winkt, wird man auch die tapfersten Bürger haben. Nun noch eine Träne am Grabe eurer Lieben, und dann geht nach Hause."

Auf diese Weise wurde die Leichenfeier in diesem Winter gehalten, mit dessen Ablauf das erste Kriegsjahr zu Ende ging. Gleich im Beginn des Sommers fielen die Peloponnesier und ihre Bundesgenossen wie schon das erstemal mit zwei Dritteln ihrer Mannschaft von neuem nach Attika ein, wo sie ein Lager bezogen und das Land verheerten. Den Oberbefehl führte Archidamos, Zeuxidamos' Sohn, König der Lakedämonier. Sie waren erst wenige Tage in Attika, als sich in Athen die ersten Anfänge der Pest zeigten, die, wie es heißt, auch früher schon mehrfach, namentlich in Lemnos und anderswo, aufgetreten war, aber, soweit man sich erinnerte, niemals so furchtbar ge­ wütet und die Menschen so massenhaft hingerafft hatte. Auch

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die Ärzte, die sie noch nicht kannten und anfangs nicht zu be­ handeln wußten, waren ihr gegenüber machtlos, ja, sie sielen ihr, weit sie beständig mit ihr in Berührung kamen, grade selbst am meisten zum Opfer. Auch andere menschliche Kunst half nichts dagegen. Alles Beten in Tempeln, alles Anfragen bei Orakeln und dergleichen war umsonst, und so unterließ man schließlich auch das und ergab sich in sein Schicksal.

Entstanden sein soll sie zuerst in Äthiopien oberhalb Ägyptens, von wo sie sich dann nach Ägypten und Libyen und einen großen Teil des persischen Reiches verbreitete. Ganz plötzlich trat sie dann auch in Athen auf, und zwar kamen die ersten Erkrankungen im Peiraieus vor, ja, es hieß sogar, die Peloponnesier hätten die Brunnen vergiftet; denn damals gab es dort noch keine Röhrenbrunnen. Später kam sie auch in die obere Stadt, und nun erst fing das große Sterben an. Ich überlasse es jedem, er sei Arzt oder Laie, seine Meinung darüber zu äußern, woher sie wahrscheinlich entstanden ist und weshalb sie so merkwürdige Erscheinungen zur Folge haben konnte; ich will nur angeben, wie sie wirklich auftrat, und sie so beschreiben, daß man, falls sie mal wiederkommt, hin­ länglich über sie unterrichtet ist, um sie zu erkennen; denn ich habe sie selbst gehabt und auch andere, die von ihr befallen waren, selbst gesehen.

So viel steht fest, daß in dem Jahre andere Krankheiten so gut wie gar nicht vorkamen, und daß, wenn einem was fehlte, immer diese Krankheit daraus wurde. Bei anderen, bis dahin völlig Gesunden, stellte sich ohne jede äußere Ver­ anlassung plötzlich große Hitze im Kopfe ein mit Röte und Entzündung der Augen. Inwendig wurden Schlund und Zunge gleich blutrot, der Atem widerlich und übelriechend, dazu kam Niesen und Heiserkeit, und nach kurzer Zeit drang die Krank­ heit in die Brust bei starkem Husten. Wenn sie sich auf den Magen warf, kehrte sie ihn um, und es erfolgten alle Ent­ leerungen der Galle, für welche die Ärzte einen Namen haben, und zwar unter großen Schmerzen. Meist kam es dabei zu einem leeren Würgen, verbunden mit heftigem Krampf, was

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bei einigen bald vorüberging, bei anderen aber erst nach längerer Zeit aufhörte. Äußerlich fühlte sich der Körper nicht übermäßig warm an; er war nicht blaß, sondern etwas gerötet, wie mit Blut unterlaufen, und überall mit kleinen Pusteln und Geschwüren bedeckt. Inwendig aber war die Hitze so groß, daß die Menschen es selbst in den leichtesten Kleidern und unter dem feinsten Leinen nicht aushalten konnten, sondern sich alles vom Leibe rissen und sich am liebsten in kaltes Wasser gestürzt hätten, und viele, die sich selbst überlassen waren, taten das auch und sprangen in die Brunnen, weil sie von unauf­ hörlichem Durst gequält wurden, sie mochten trinken, so viel sie wollten. Dazu litt der Kranke beständig an Unruhe und Schlaflosigkeit. Auch wenn die Krankheit länger anhielt, ver­ fiel der Körper dabei nicht, sondern zeigte sich unerwartet widerstandsfähig, so daß die Kranken meist noch ziemlich bei Kräften am neunten oder ; siebenten Tage an innerer Hitze tsarben. Überstanden sie das aber, so warf sich die Krankheit auf den Unterleib, es stellten sich Geschwüre und tsarker Durch­ fall ein, und dann starben sie meist an Entkräftung. Denn das Übel, das im Kopfe anfing, durchzog den ganzen Körper von oben bis unten. Hatte einer das Schlimmste überstanden, so zeigte sich das daran, daß die Krankheit die Extremitäten ergriff; sie warf sich dann auf die Scham teile, auf Finger und Zehen, so daß viele, die mit dem Leben davonkamen, diese Körperteile, manche auch die Augen einbüßten. Einige hatten, wenn sie die Krankheit überstanden, auch das Gedächtnis verloren und kannten sich selbst und ihre Angehörigen nicht mehr.

Das Unheimliche und Auffallende an dieser Krankheit war, daß sie nicht nur die Menschen so grausam hinraffte, sondern daß auch Vögel und andere Tiere, welche sonst Leichen anfressen, die vielen unbeerdigt gebliebenen Toten überhaupt nicht anrührten oder^D^starben, wenn sie davon fraßen, wie sich das daran zeigte, daß solche Vögel gänzlich verschwunden waren und sich bei den Leichen gar nicht mehr sehen ließen. Am besten konnte man das an den Hunden beobachten, weil sie in Gemeinschaft mit den Menschen leben.

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Das war, abgesehen von mancherlei besonderen Er­ scheinungen, wie sie sich hier und da zeigten, im allgemeinen die Gestalt, in der die Krankheit auftrat. Andere gewöhnliche Krankheiten aber kamen in jener Zeit nicht vor, und wenn es etwa doch der Fall war, schlugen sie in diese um. Die Menschen starben, mochten sie sich selbst überlassen oder aufs beste ver­ pflegt sein. Es gab in der Tat kein Mittel, das man dagegen mit einiger Aussicht auf Erfolg hätte anwenden können; denn^ was dem einen nützte, schadete dem anderen. Der Krankheit gegenüber verschlug es nichts, ob einer von Haus aus eine feste Gesundheit hatte oder nicht; sie raffte alles hin auch bei der sorgfältigsten Behandlung. Das Schlimmste war die Mut­ losigkeit, wenn einer sich krank fühlte, daß er sich in der Ver­ zweiflung gleich völlig aufgab und keinen Widerstand mehr leistete, und daß infolge der Ansteckung die Menschen starben wie die Fliegen. Und das war grade ein Hauptgrund der großen Sterblichkeit. Denn wenn man es aus Furcht vor An­ steckung vermied, mit den Kranken in Berührung zu kommen, und niemand sich ihrer annahm, so starben diese, wie denn in der Tat manche Häuser, wo es an Pflege fehlte, völlig aus-^ starben. Wer aber die Kranken besuchte, war selbst ein Kind des Todes, und das traf grade vorzugsweise die Mutigen, die es für Pflicht hielten, ihren Mitmenschen hilfreich beizustehen. Denn die sahen es für Ehrensache an, sich selbst nicht zu schonen und ihre Freunde zu besuchen, da deren Angehörige, durch das grenzenlose Elend gebrochen, es schließlich müde wurden, an den Sterbebetten zu jammern. Am meisten aber^ erbarmten sich solche der Kranken und Sterbenden, welche die ^ Krankheit selbst bereits überstanden hatten, weil sie sie aus Erfahrung kannten und sich selbst jetzt davor sicher wußten. Denn zum zweitenmal kriegte sie niemand so, daß er daran gestorben wäre. Darum wurden sie von anderen glücklich ge­ priesen und waren selbst froh, daß sie für diesmal glücklich durchgekommen waren und immerhin hoffen durften, auch bei einer etwaigen neuen Erkrankung wenigstens mit dem Leben davonzukommen.

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Zu allem Elend kam dann noch der Zusammenfluß so vieler Menschen vom Lande in die Stadt, und diese selbst hatten darunter am meisten zu leiden. Denn da sie nicht Häuser genug vorfanden und die Sommerzeit in heißen und dumpfigen Buden zubringen mußten, trat unter ihnen ein grauenhaftes Sterben ein. So wie sie übereinander verreckten, blieben sie als Leichen liegen, oder sie wälzten sich halbtot auf den Straßen oder vor Gier nach Wasser um die Brunnen. Selbst die Tempel, in denen sie untergekommen und dann gestorben waren, tagen voller Leichen. Bei dem grenzenlosen Elend wußten die Menschen eben nicht mehr, was sie anfangen sollten, und kümmerten sich nicht länger um Religion und fromme Sitte. Auch über alles, was bis dahin bei Begräbnissen Rechtens ge­ wesen war, setzte man sich hinweg, und jeder begrub seine Toten, so gut er konnte. Manche gingen dabei gradezu scham­ los zu Werke, weil ihnen schon so viele gestorben waren, daß es ihnen an den nötigen Mitteln für ein Begräbnis fehlte. Sie legten ihre Toten auf fremde Scheiterhaufen und zündeten sie an, ehe die Leute, die sie aufgeschichtet hatten, dazu kamen, oder warfen die mitgebrachte Leiche auf den ersten besten, schon brennenden Scheiterhaufen und machten dann, daß sie wegkamen.

Überhaupt war die Pest für Athen der Anfang mehr und mehr um sich greifender Gesetzlosigkeit. Dinge, denen man früher höchstens im geheimen gefrönt, trieb man jetzt mit schamloser Offenheit; hatte man doch die schnellen Glückswechsel vor Augen, wie die Reichen plötzlich starben und Leute, die bis dahin nichts gehabt, mit einmal in den Besitz ihres Ver­ mögens gelangten. Alles trachtete nach hastigem Genuß und stürzte sich in den Taumel der Sinnenlust, da es ja mit dem Leben wie mit dem Gelde über Nacht vorbei sein konnte. Für einen guten Zweck sich abzumühen, hatte keiner mehr Lust; denn wer sagte ihm, ob er nicht längst tot sein würde, bevor er ihn erreicht? Schon der Genuß an sich und alles, waS irgendwie dazu beitragen konnte, galt ohne weiteres auch für gut und löblich. Weder Furcht vor den Göttern noch menshc­ [*]( I )

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liches Gesetz wehrte dem Verbrechen; denn da man alle ohne Unterschied tserben sah, schien es ja doch einerlei zu sein, ob man die Götter fürchtete oder nicht, und niemand glaubte, daß er noch so lange leben würde, bis eine bürgerliche Strafe für seine Verbrechen über ihn verhängt werden könnte; schwebte doch schon ein weit schwereres Verhängnis über seinem Haupte, und bis das auf ihn hereinbrach, wollte er wenigstens sein Leben noch genießen.

So waren die Athener damals in großer Not, in der Stadt starben ihnen die Menschen, und draußen verwüstete der Feind ihr Land. Kein Wunder, daß sie sich in dieser Not auch der Weissagung erinnerten, die ihnen, wie die alten Leute versicherten, vorzeiten mal verkündet worden war: „Es wird kommen der dorische Krieg und damit die Seuche." Nun entstand freilich Streit darüber, ob es in dem alten Spruche die Seuche (Loimos) oder die Hungersnot (Limos) geheißen habe. Unter den damaligen Umständen aber behielt natürlich die Ansicht die Oberhand, daß es die Seuche ge­ heißen, weil man ihn eben dem anpaßte, was man selbst er­ lebte; und ich glaube, wenn einmal wieder ein dorischer Krieg käme und dabei eine Hungersnot einträte, so würde man sich den Spruch wahrscheinlich auch danach zurechtlegen. Allen aber, denen sie bekannt geworden, fiel nun auch die Antwort ein, welche das Orakel den Lakedämoniern auf die Frage, ob sie Krieg anfangen sollten, erteilt hatte: „wenn sie den Krieg nachdrücklich führten, würden sie siegen und der Gott selbst werde auf ihrer Seite sein"; und da fand man nun, daß der bisherige Verlauf der Sache dem völlig entspräche. Denn gleich nach dem Einfall der Peloponnesier war die Pest aus­ gebrochen, der Peloponnes aber so gut wie ganz davon ver­ schont geblieben. Am ärgsten dagegen war sie grade in Athen und danach auch in anderen besonders volkreichen Orten auf­ getreten. So viel von der Pest und ihren Folgen.

Nachdem die Peloponnesier die Ebene verheert hatten, zogen sie in das sogenannte Seeland bis nach Laurion, wo die Athener ihre Silberbergwerke haben, und verwüsteten es

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erst auf der nach dem Peloponnes gerichteten und dann auch auf der Euboia und Andres gegenüberliegenden Seite. Perikles, der auch dies Jahr noch Feldherr war, hielt wie beim vorigen Einfall immer noch an der Ansicht fest, daß die Athener sich außerhalb der Stadt auf keine Schlacht einlassen dürften.

Schon als das feindliche Heer noch in der Ebene stand und noch nicht in die Küstengegend vorgedrungen war, hatte Perikles hundert Schiffe zu einer Fahrt nach dem Peloponnes rüsten lassen und ging damit, als alles fertig war, in See. Er hatte viertausend athenische Hopliten und außerdem auf alten, erst damals für Pferde eingerichteten Transportschiffen dreihundert Reiter an Bord. Auch Chier und Lesbier beteiligten sich mit fünfzig Schiffen an dem Zuge. Als die Athener mit dieser Flotte in See gingen, ließen sie die Peloponnesier im attischen Seelande ihr Wesen ruhig weitertreiben und wandten sich nach Epidauros im Peloponnes, wo sie das Land weit und breit verheerten und einen Angriff auf die Stadt unter­ nahmen. Sie machten sich auch Hoffnung, sie einzunehmen, aber das gelang ihnen nicht. Von EpidauroS fuhren sie weiter und verheerten das Gebiet von Troizen, Halieis und Hermione, alles Orte an der peloponnesischen Küste. Von dort gingen sie wieder in See und kamen nach Prasiai, einer an der See gelegenen Stadt in Latonien, und verheerten die Umgegend, nahmen auch die Stadt selbst ein und zerstörten sie. Danach fuhren sie wieder nach Hause, trafen aber die Peloponnesier, die inzwischen abgezogen waren, in Attika nicht mehr an.

Während der ganzen Zeit, wo die Peloponnesier in Attika und die Athener zu Schiff waren, wütete die Pest unter den Athenern, sowohl auf der Flotte wie in der Stadt. Es hieß sogar, die Peloponnesier hätten das Land schneller geräumt aus Furcht vor der Pest, von deren Auftreten in der Stadt sie durch Überläufer hörten und sich auch durch die vielen Be­ gräbnisse überzeugen konnten. Übrigens waren sie bei diesem Einfall am längsten, nämlich etwa vierzig Tage, in Attika ge­ blieben und hatten das ganze Land verheert.

Noch in demselben Sommer übernahmen Hagnon, NikiaS'

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Sohn, und Theopompos, Kleinias' Sohn, Perikles' Mitfeld­ herren, den Oberbefehl über dessen Heer und Flotte und fuhren damit nach der thrakischen Küste zum Kriege gegen die Chalkidier und Potidäa, das noch immer belagert wurde. Dort ange­ kommen, führten sie ihr Geschütz gegen Potidäa auf und ver­ suchten es auf jede Weise zur Übergabe zu bringen. Sie ver­ mochten es aber weder zu nehmen noch überhaupt Erfolge zu erringen, welche der Mühe wert gewesen wären. Denn auch hier machte die Pest, die sie mitgebracht, den Athenern große Not und räumte unter ihnen furchtbar auf, ja selbst ihre zuerst dorthin geschickten, bis dahin gesund gebliebenen Mann­ schaften wurden jetzt von Hagnons Truppen angesteckt. Phor­ mion mit seinen sechzehnhundert Mann war damals schon nicht mehr in Chalkidike. So kehrte auch Hagnon mit seiner Flotte nach Athen zurück, nachdem er von seinen viertausend Hopliten in etwa vierzig Tagen fünfzehnhundert an der Pest verloren hatte. Das alte Heer aber blieb da und setzte die Belagerung fort.

Nach dem zweiten Einfall der Peloponnesier, bei dem ihr Land nun schon zum zweitenmal verwüstet und die Pest noch dazugekommen war, schlug die Stimmung der Athener um. Sie schalten auf Perikles, der ihnen zum Kriege geraten und all ihr Unglück verschuldet habe, und sehnten sich nach Frieden mit den Lakedämoniern. Auch schickten sie mal Gesandte an sie, die aber unverrichteter Sache zurückkamen. Nun zogen sie, völlig ratlos, wie sie waren, über Perikles her. Als der sah, daß sie, wie er das freilich nicht anders erwartet hatte, so schwer an ihrem jetzigen Zustande trugen, berief er, da er noch Feldherr war, eine Versammlung, um ihnen Mut einzusprechen, ihren Zorn zu beschwichtigen und sie überhaupt zu beruhigen, in der er auftrat und folgende Rede hielt:

„Daß ihr mit mir unzufrieden seid, überrascht mich nicht; denn ich verstehe sehr wohl warum. Deshalb habe ich diese Versammlung berufen, um euch die Meinung zu sagen und eines Besseren zu belehren, sofern ihr keinen Grund habt, mir zu zürnen und im Unglück zu verzagen. Denn ich meine, auch

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dem einzelnen Bürger ist mit dem Bestände des ganzen Gemein­ wesens besser gedient' als mit individueller Wohlfahrt, bei der das Ganze zugrunde geht. Denn geht es dem einzelnen Bürger noch so gut, beim Untergange des Vaterlandes ist er doch mit­ verloren; geht es ihm aber kümmerlich, so wird er sich in einem blühenden Gemeinwesen immer noch am ersten durch­ schlagen. Vermag also der Staat dem einzelnen aufzuhelfen, nicht aber der einzelne dem Staat, müssen da nicht alle für ihn eintreten und es nicht machen wie ihr, die ihr, durch euer häusliches Leid gebrochen, Athen seinem Schicksal überlassen wollt und mich, der ich zum Kriege geraten habe und damit euch selbst, die ihr doch auch dafür gestimmt habt, mit Vor­ würfen überhäuft? Da scheltet ihr einen Mann wie mich, der, sollt' ich denken, doch wie einer imstande ist, zu beurteilen, worauf es ankommt und anderen seine Gründe auseinander­ zusetzen, einen Mann, der sein Vaterland liebt und für Geld nicht zu haben ist. Denn wer die Sache noch so gut versteht, sie aber anderen nicht begreiflich machen kann, ist nichts besser als einer, der selbst nichts davon versteht. Wer beides kann, aber kein Herz fürS Vaterland hat, wird niemals reden, wie es diesem frommt. Dem endlich, dem es auch daran nicht fehlt, der aber dem Gelde nicht widerstehen kann, wird für Geld alles feil sein. Wenn ihr euch also damals auf meinen Rat zum Kriege entschlossen habt, weil ihr mir jene Eigen­ schaften denn doch mindestens wie jedem anderen zutrautet, und mir darüber jetzt Vorwürfe machen wollt, so muß ich mir daS entschieden verbitten.