History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

Solange das feindliche Heer noch bei Eleusis und in der Ebene von Thria stand, durften die Athener immer noch hoffen, daß es nicht weiter vorrücken würde. Erinnerte man sich doch, daß auch König Pleistoanax, Pausanias' Sohn, als er vierzehn Jahr vor diesem Kriege mit einem peloponnesischen Heere in Attika bis nach Eleusis und Thria vorgedrungen, hier umgekehrt und wieder abgezogen war. Allerdings war er dafür auch aus Sparta verbannt worden, weil man glaubte, er sei zu diesem Rückzug? bestochen gewesen. Als sie aber das Heer schon bei Acharnai, sechzig Stadien von der Stadt, sahen, wurde es ihnen doch zu viel. Daß das Land so unter ihren Augen verwüstet wurde, wie das die Jüngeren noch nie, die Älteren nur in den Perserkriegen erlebt hatten, schien ihnen begreiflihcerweise entsetzlich, und namentlich die Jüngeren meinten, man könne das unmöglich länger mit ansehen, sondern müsse dem Feinde zu Leibe gehen. Immerhin waren die Mei­ nungen geteilt, und es kam zu lebhaften Erörterungen, indem die einen verlangten, man solle den Feind draußen angreifen, andere aber sich dagegen erklärten. Wahrsager ließen sich mit allerlei Prophezeiungen hören, die jeder sich auf seine Weise zurechtlegte. Die Acharner aber, die in Athen denn doch auch was zu bedeuten glaubten und nun die Verwüstung ihres

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Landes mit ansehen mußten, drängten am meisten zum Angriff. So herrschte in der Stadt allgemeine Aufregung und große Erbitterung gegen Perikles. Uneingedenk der guten Lehren, die er ihnen vorher gegeben hatte, schalten sie auf den Feld­ herrn, der sie nicht vor den Feind führen wolle, und betrachteten ihn als den Urheber aller ihrer Leiden.

Perikles sah recht gut, wie widerwillig sie diesen Zustand ertrugen und wie schlecht sie auf ihn zu sprechen waren, blieb aber nach wie vor bei seiner Ansicht, daß man sich draußen auf keine Schlacht einlassen dürfe. Er ließ es deshalb weder zu einer Volksversammlung noch zu anderen Zusammenkünften kommen aus Furcht, daß eine so vielköpfige Versammlung, statt die Sache verständig zu erwägen, sich von ihrer Stimmung hinreißen lassen und Dummheiten machen könnte. Inzwischen ließ er jedoch die Stadt sorgfältig bewachen und die Ruhe möglichst aufrechterhalten. Auch schickte er beständig Reiter aus, um zu verhindern, daß feindliche Streifpartien in der Nähe der Stadt die Felder verwüsteten. Bei der Gelegenheit kam es bei Phrygioi mal zu einem Gefecht zwischen einer Ab­ teilung athenischer und thessalischer Reiter und der böotischen Reiterei, in dem sich die Athener und Thessaler gut hielten, bis sie sich dann doch zurückziehen mußten, weil den Böotiern schweres Fußvolk zu Hilfe kam. Die Athener und Thessaler hatten dabei einige Tote, die sie jedoch noch an demselben Tage auch ohne Waffenstillstand wieder mitnehmen konnten. Die Peloponnesier aber errichteten am Tage daraufein Siegeszeichen. Die Thessaler waren auf Grund des alten Bundesverhält­ nisses zu den Athenern gestoßen, infolgedessen sich Larisaier, Pharsaler, Parasier, Kranonier, Pyrasier, Gyrtonier und Pheraier bei ihnen eingefunden hatten. Ihre Anführer waren aus Larisa Polymedos und Aristonus, von jeder Partei einer, aus Pharsalos Menon, und ebenso hatten auch die übrigen alle ihre eigenen Befehlshaber.

Da die Athener doch nicht zur Schlacht herauskamen, brachen die Peloponnesier von Acharnai auf und verwüsteten noch einige Deinen zwischen Parnes und Britessos. Während

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sie dort noch im Lande waren, gingen die Athener mit den hundert in Dienst gestellten Schiffen, tausend Hopliten und vierhundert Bogenschützen unter Karkinos, Xenotimos' Sohn, Proteas, Epikles' Sohn, und Sokrates, Antigones' Sohn, nach dem Peloponnes unter Segel und kreuzten damit in den dortigen Gewässern. Die Peloponnesier aber blieben in Attika, solange sie dort zu leben hatten; darauf zogen sie wieder ab, jedoch nicht auf dem Wege, auf dem sie gekommen waren, sondern durch Böotien. Unterwegs verwüsteten sie bei Oropos das sogenannte gra'ische Land, das von Oropiern unter athenischer Hoheit bewohnt wird. Als sie im Peloponnes wieder an­ gekommen waren, ging das Heer auseinander und jeder in seine Heimat.

Nach ihrem Abzüge richteten die Athener über Land und See einen Wachdienst ein, wie sie ihn für die Dauer des Krieges beibehalten wollten. Auch beschlossen sie, aus dem Burgschatz tausend Talente als unangreifbaren Bestand zurück­ zulegen und die Kriegskosten nur aus dem übrigen zu bestreiten, auch jeden, der vorschlagen oder dafür stimmen würde, dies Geld anzugreifen, es sei denn, daß man die Stadt gegen den Angriff einer feindlichen Flotte verteidigen müsse, mit Todes­ strafe zu bedrohen. Weiter beschlossen sie, alljährlich aus den s hundert besten Trieren und den für sie bestimmten Befehls­ habern ein besonderes Geschwader zu bilden, von dem, wie von jenem Gelde, nur in solchem äußersten Notfall Gebrauch gemacht werden sollte.

Die inzwischen noch durch fünfzig Schiffe aus Kerkyra und andere Bundesgenossen aus jener Gegend verstärkten Athener auf den hundert Schiffen kreuzten um die peloponnesischen Küsten und richteten dort mancherlei Schaden an. Sie landeten auch bei Methone in Lakonien und machten einen Angriff auf die nur schwach befestigte und unbesetzte Stadt. Zufällig be­ fand sich der Spartaner Brasidas, Tellis' Sohn, als Befehls­ haber eines Postens dort in der Nähe, der, als er davon hörte, den Einwohnern mit hundert Hopliten zu Hilfe kam. Auch gelang es ihm, sich durch die athenischen Truppen, die sich in

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der ganzen Gegend zerstreut und nur die Stadt im Auge hatten, mit Verlust nur weniger Leute nach Methone durchzuschlagen und die Stadt zu retten. Wegen dieser mutigen Tat war er auch der erste, der in Sparta in diesem Kriege öffentlich be­ lobt wurde. Die Athener gingen hierauf wieder unter Segel und fuhren weiter, zunächst nach Pheia in Elis, verwüsteten zwei Tage das dortige Gebiet und erfochten einen Sieg über eine dreihundert Mann starke auserwählte Schar, welche aus der Umgegend und dem hohlen Elis herbeigeeilt war. Da sich jedoch ein starker Wind aufmachte und sie an der hafenlosen Küste dem Wetter zu sehr ausgesetzt waren, gingen die meisten wieder an Bord und fuhren um das Vorgebirge Jchthys herum in den Hafen von Pheia; die Messenier aber und einige andere, welche die Schiffe nicht mehr hatten erreichen können,Marschierten zu Lande nach Pheia und besetzten die Stadt. Nachher nahmen die inzwischen dort angelangten Schiffe auch sie wieder an Bord und gingen, da auch die Hauptmacht der Eleer bereits im Anzüge war, von Pheia wieder in See. Die Athener aber fuhren fort, die peloponnesischen Küstengegenden von ihren Schiffen aus zu verwüsten.

Um dieselbe Zeit schickten die Athener dreißig Schiffe in die lokrischen Gewässer, welche zugleich die Ausgabe hatten, Euboia zu decken. Den Oberbefehl darüber führte Kleopompos, Kleimas' Sohn. Er landete wiederholt an der Küste, ver­ heerte einige Ortschaften und eroberte Thronion, wo er sich von den Einwohnern Geiseln geben ließ; auch schlug er einen lokrischen Heerhaufen, der sich ihm bei Alope entgegenstellte, in die Flucht.

In demselben Sommer vertrieben die Athener die Ägineten mit Weib; und Kind von ihrer Insel, da sie ihnen schuld gaben, sie seien die Hauptursache an diesem Kriege. Auch hielten sie es zu ihrer Sicherheit für besser, die so nahe am Peloponnes gelegene Insel Ägina mit eigenen Ansiedlern zu besetzen, die sie zu dem Ende denn auch bald darauf dorthin schickten. Die Lakedämonier aber räumten den vertriebenen Agineten Thyrea als Wohnort ein und wiesen ihnen dort Land

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an,, teils aus Haß gegen die Athener, teils mit Rücksicht auf die guten Dienste, welche die Ägineten ihnen zur Zeit des Erdbebens und des Helotenaufstandes geleistet hatten. Die Landschaft Thyreatis liegt zwischen Argolis und Lakonien und reicht bis an die See. Die Agineten ließen sich auch zum Teil dort nieder; die übrigen zerstreuten sich über ganz Griechenland.

In demselben Sommer trat bei Neumond, wo es an­ scheinend auch allein möglich ist, nach Mittag eine Sonnen-' finsternis ein. Hinterher nahm die Sonne ihre vollständige Gestalt wieder an, nachdem sie eine Zeitlang wie eine Mond­ sichel ausgesehen hatte und auch einzelne Sterne sichtbar ge­ worden waren.

In demselben Sommer machten die Athener auch Nympho­ doros, Pythes' Sohn, aus Abdera, dessen Schwester mit Sitalkes verheiratet war, und bei dem er viel galt, zu ihrem Staats­ gatsfreunde. Während sie ihn früher als ihren Feind angesehen hatten, luden sie ihn jetzt nach Athen ein, weil ihnen daran lag, den Thrakerkönig Sitalkes, den Sohn des Teres, als Bundesgenossen zu gewinnen. Dieser Teres, Sitalkes' Vater, hatte den Odrysen erst die Herrschaft über den größten Teil von Thrakien verschafft; gutenteils nämlich sind die Thraker immer noch unabhängig. Übrigens hat dieser Teres mit Tereus, welcher Prokne, die Tochter Pandions aus Athen, zur Frau hatte, nichts zu tun; beide waren gar nicht mal aus dem­ selben Thrakien. Denn Tereus lebte in Daulia, jener damals von Thrakern bewohnten Landschaft, welche jetzt Phokis heißt. Hier war es auch, wo die Weiber die Untat an Jtys verübten, wie denn auch manche Dichter, welche die Nachtigall erwähnen, diese den daulischen Vogel nennen. Wahrscheinlich gab doch auch Pandion seine Tochter lieber einem Manne in der Nähe zur Frau, wo beide was voneinander hatten, als einem dort in dem viele Tagereisen entfernten Odrysenlaude. Teres da­ gegen, der ja auch nicht mal denselben Namen mit ihm führte, war der erste mächtige König der Odrysen. Dessen Sohn Sitalkes also wollten die Athener gern zum Bundes­ genossen haben, weil sie auf seine Hilfe gegen Perdikkas und

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im thrakischen Küstenlande hofften. Nymphodoros kam auch wirklich nach Athen und brachte das Bündnis mit Sitalkes zustande. Er verschaffte dessen Sohne Sadokos das athenische Bürgerrecht und machte sich anheischig, dem Kriege an der thrakischen Küste ein Ende zu machen und Sitalkes zu be­ tsimmen, den Athenern ein aus Reiterei und leichtem Fußvolk gebildetes Heer zu Hilfe zu schicken. Auch söhnte er Perdikkas mit den Athenern aus, die sich dabei ihrerseits dazu verstanden, Therme an Perdikkas zurückzugeben, worauf dieser sich sogleich . mit Phormion und den Athenern zu einem Feldzuge gegen die Chalkidier vereinigte. So wurden Sitalkes, Teres' Sohn, der Thrakerkönig, und Perdikkas, Alexanders Sohn, König von Makedonien, Bundesgenossen der Athener.

Die immer noch um den Peloponnes kreuzenden Athener auf den hundert Schiffen eroberten die korinthische Stadt Sollion und räumten Stadt und Land Akarnaniern, jedoch nur den Palaireern, zum Wohnsitz ein. Astakos, wo Euarchos Tyrann war, nahmen sie mit Sturm, vertrieben den Tyrannen und zwangen die Stadt, dem Athenischen Bunde beizutreten. Darauf fuhren sie nach der Insel Kephallenia, die sich ihnen ohne Schwertstreich ergab. Kephallenia liegt Akarnanien und Leukas gegenüber und besteht aus vier Stadtgemeinden, Paleis, Kranioi, Same und Pronnoi. Bald nachher fuhren die Schiffe nach Athen zurück.

Gegen Ende dieses Sommers fielen die Athener mit ihrem ganzen Heere, Bürger und Schutzverwaudte, unter Perikles, Lanthippos' Sohn, nach Megaris ein. Als die auf ihrer Rück­ fahrt vom Peloponnes grade bei Hgina angelangten Athener auf den hundert Schiffen hörten, daß ganz Athen in Megaris wäre, hielten sie auch dahin ab und vereinigten sich dort mit ihren Landsleuten. Und so wurde dies das größte Heer, welches die Athener noch in ihrer Blütezeit vor Eintritt der Pest auf den Beinen gehabt haben; denn ganz abgesehen von den dreitausend bei Potidäa stellten die Athener selbst mindestens zehntausend Hopliten und ihre Schutzverwandten mindestens dreitausend; dazu kam dann noch die große Menge der Leicht­

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bewaffneten. Nachdem sie einen großen Teil des Landes ver­ heert hatten, zogen sie wieder ab. Auch im weiteren Verlauf des Krieges machten die Athener alljährlich solche Einfälle nach Megaris, entweder bloß mit der Reiterei oder auch mit dem ganzen Heere, bis sie Nisaia genommen hatten.

Gegen Ende dieses Sommers wurde auch die bisher un­ bewohnte Insel Atalanta an der Küste der opuntischen Lokrer von den Athenern besetzt und zur Festung ausgebaut, um räube­ rischen Unternehmungen aus Opus und dem übrigen Lokrien gegen Euboia einen Riegel vorzuschieben. Das waren die Ereignisse dieses Sommers nach dem Abzüge der Peloponnesier aus Attika.

Im folgenden Winter überredete der Akarnanier Euarchos, der sich der Herrschaft in Astakos wieder bemächtigen wollte, die Korinther, ihn mit vierzig Schiffen und fünfzehnhundert Hopliten dahin zurückzuführen, wozu er selbst auch eine Anzahl Söldner geworben hatte. Euphamidas, Aristonymos' Sohn, Timoxenos, Timokrates' Sohn, und Eumachos, Chrysis' Sohn, befehligten den Zug. Sie führten Euarchos auch wirklich nach Astakos zurück und hofften, sich nun auch sonst noch eines oder des anderen Platzes an der akarnanischen Küste bemächtigen zu können, machten dazu auch einige Versuche. Da es ihnen damit jedoch nicht glückte, fuhren sie wieder nach Hause. Als sie aus dem Rückwege an Kephallenia vorbeikamen, landeten sie im Gebiet der Kranier, ließen sich durch deren scheinbare Unter­ werfung täuschen und verloren infolge eines unerwarteten Überfalls der Kranier eine Anzahl Leute. Sie machten des­ halb, was sie konnten, daß sie wieder unter Segel kamen, und fuhren nach Hause.

In diesem Winter wurden in Athen, wie es dort altes Herkommen ist, die im ersten Kriegsjahre Gefallenen von Staats wegen feierlich bestattet, und zwar in folgender Weise: Drei Tage vorher werden die Gebeine der Gefallenen in einem dazu hergerichteten Zelte zur Schau gestellt, und jeder bringt seinem Toten, wie ihm ums Herz ist, eine Gabe dar. Wenn sich der Leichenzug in Bewegung setzt, werden Särge aus

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Zypressen holz zu Wagen hinausgefahren, für jede Phyle ein Sarg, in dem sich die Gebeine aller, die dieser Phyle angehört haben, befinden. Ein leeres, mit Teppichen belegtes Parade­ bett wird mit hinausgetragen für die Vermißten, die man nicht hat auffinden und mitnehmen können. Jeder, wer will, kann sich dem Zuge anschließen. Einheimische und Fremde; auch Frauen nehmen daran teil, um am Grabe ihrer An­ gehörigen zu weinen. Die Beisetzung erfolgt in dem Staats- grabe in der schönsten Vorstadt von Athen, wo die Athener ihre im Kriege gefallenen Toten immer bestattet haben mit alleiniger Ausnahme der bei Marathon Gebliebenen, welche! zu Ehren ihrer unvergleichlichen Tapferkeit auf der Walstatt, selbst beerdigt wurden. Ist das Grab zugeschüttet, so hält, jemand, den man dazu mit Rücksicht auf Befähigung und An-­ se hen von Staats wegen auswählt, eine Rede zu Ehren der Gefallenen, worin er ihre Verdienste gebührend hervorhebt. Darauf geht jeder wieder nach Hause. In dieser Weise ver­ läuft die Feier, und während des ganzen Krieges wurde es, sooft sie stattfand, immer so damit gehalten. Dies erste Mal war Perikles, Xanthippos' Sohn, zum Redner gewählt, und als es so weit war, trat er vom Grabe her auf eine hohe Bühne, die man dort errichtet hatte, damit man ihn in der Menshcen- menge möglichst weit verstehen könnte, und hielt folgende Rede:

„Die Redner, welche vor mir an dieser Stelle gesprochen, sind in der Regel des Lobes voll darüber gewesen, daß man bei unserer Totenfeier auch diese Rede eingeführt habe, sei eS doch eine schöne Sitte, unsere gefallenen Helden durch eine Rede am Grabe zu ehren. Nach meinem Gefühl hätte man eS lieber dabei lassen sollen, die Verdienste, die sich diese Männer durch ihre Taten erworben, auch nur durch eine Tat zu ehren, ich meine, durch solch ein ehrenvolles Begräbnis, wie ihr es heute wieder mit angesehen habt, anstatt es für die Beginn­ bigung der Verdienste so vieler Helden darauf ankommen zu lassen, ob einer eine gute oder eine schlechte Rede hält. Eine solche Rede zu halten, ist schwer, und eS wird dem Redner kaum gelingen, seine Zuhörer zu überzeugen, daß er jene Ver­

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dienste zutreffend gewürdigt habe. Denn wer selbst mit dabei gewesen und überhaupt ein guter Athener ist, wird die Rede im Vergleich zu dem, was er erwartet und von der Sache weiß, leicht zu matt finden, wer es aber nicht selbst miterlebt, wird manches für übertrieben halten, weil man keinem ein Lob für Leistungen gönnt, die man sich selbst nicht auch zu­ traut; denn soweit man es anderen noch gleichtun zu können meint, kann man das ihnen erteilte Lob allenfalls ertragen, darüber hinaus aber ist man gleich neidisch und will nicht daran glauben. Da man nun aber seinerzeit der Meinung gewesen ist, daß es so besser sei, so muß auch ich mich der eingeführten Ordnung fügen und werde versuchen, es jedem von euch möglichst nach Wunsch und Sinn zu machen.

„Ich beginne mit unseren Vorfahren; denn wir sind es ihnen schuldig, und es geziemt sich, bei einer solchen Feier ihrer dankbar zu gedenken. Als alteingesessene, mit dem väter­ lichen Boden von jeher festverwachsene Bevölkerung dieses Landes haben sie dessen Freiheit von Geschlecht zu Geschlecht bewahrt und auf uns vererbt. Haben schon unsere Altvorderen Anspruch aus unseren Dank, so vollends unsere Väter. Denn sie haben zu dem altererbten Besitz noch das weite Reich, das jetzt unser ist, hinzuerworben und uns hinterlassen. Wir selbst aber, das jetzige Geschlecht, haben es dann freilich noch weiter vermehrt und die Stadt mit allem, was sie für Krieg und Frieden bedarf, überreichlich ausgestattet. Von den Helden­ taten, denen wir unsere heutige Machtstellung verdanken, und von der Tapferkeit, die wir selbst und unsere Väter in den Kämpfen mit Barbaren oder Hellenen bei jeder Gelegenheit bewiesen haben, will ich nicht weiter reden; es sind das ja euch allen genügend bekannte Dinge. Wohl aber will ich euch, bevor ich mich zur Ehrung unserer Toten wende, ein Wort über den Geist unseres StaatSwesens und der Einrichtungen sagen, worauf die Größe Athens beruht. Denn ich glaube, daß ein Wort darüber bei dieser Gelegenheit nicht unangebracht ist, und daß allen Anwesenden hier, Einheimischen und Fremden, damit gedient sein wird.

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„Wir haben bei unserer Verfassung keine fremden Ein­ richtungen zum Muster genommen; im Gegenteil, wir haben anderen eher als Vorbild gedient, als ihnen was nachgemacht. Und weil das Regiment bei uns nicht in der Hand weniger, sondern der Gesamtheit liegt, nennt man unsere Verfassung demokratisch. Denn wie in den Angelegenheiten der einzelnen gleiches Recht für alle gilt, so gibt auch in Beziehung auf Geltung und An­ sehen in Staat und Gemeinde nur persönliche Tüchtigkeit einen Vorzug, nicht aber Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse, und selbst Armut hindert keinen, der was kann, aus seiner Unansehnlichkeit zu Amt und Würden zu gelangen. Wir sind im öffentlichen Leben nicht engherzig und im täglichen Verkehr untereinander keine Duckmäuser, nehmen es unserem Nächsten nicht übel, wenn er mal über die Stränge schlägt, und machen darüber kein sauertöpfisches Gesicht, um ihn da­ durch, wenn auch nicht umzubringen, doch moralisch zu ver­ nichten. Im persönlichen Verkehr sind wir nichts weniger als Splitterrichter, im öffentlichen Leben aber schämen wir uns jeder Ungesetzlichkeit und gehorchen der jeweiligen Obrigkeit und den Gesetzen, vorzüglich den zum Schutz der Bedrängten gegebenen, und den, wenn auch ungeschriebenen Gesetzen, deren Übertretung jedermann für Schande hält.

„Auch für Gelegenheit zur Erholung von Mühe und Arbeit ist bei uns reichlich gesorgt, durch Spiele und Feste, wie sie hier jahrein jahraus gehalten werden, aber auch durch unser schönes Familienleben, dessen tägliche Freuden die Sorgen vershceuchen. Bei der Größe unserer Stadt kommen die Er­ zeugnisse aller Länder hier zu Markte, die wir so gut als unser Eigentum ansehen können wie die Erzeugnisse unseres eigenen Landes.

„Auch in Beziehung auf das Kriegswesen befolgen wir insofern andere Grundsätze als unsere Gegner, als wir niemand den Aufenthalt hier in der Stadt verwehren. Es kommt nie vor, daß jemand ausgewiesen oder daran gehindert wird, sich hier umzutun und zu belehren, aus Furcht, die Feinde könnten uns Geheimnisse absehen und sich zunutze machen. Denn

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wir verlassen uns nicht sowohl auf Vorsichtsmaßregeln und Überrashcungen als vielmehr auf den im Kampfe bewährten persönlichen Mut. Während man bei ihnen die Knaben schon von klein auf durch Anstrengung und Abhärtung zur Tapferkeit erziehen zu müssen glaubt, gehen wir auch ohne solche harte Zucht nicht minder entschlossen in den Kampf und können es dreist mit ihnen aufnehmen. Das steht man schon daraus, daß die Lakedämonier bei Einfällen in unser Land nicht allein kommen, sondern gleich alle ihre Bundesgenossen aufbieten, während wir unseren Nachbarn allein ins Land fallen und ste, obwohl ste für Haus und Hof fechten, in der Regel ohne große Mühe besiegen. Mit unserer ganzen Macht auf einmal hat es ein Feind noch nie zu tun gehabt, weil wir gleichzeitig immer Mannschaft für die Flotte bedürfen und auch zu Lande unsere Truppen an allen Ecken und Enden verwenden müssen. Kommen aber die Herren mal mit einem unserer Heeresteile ins Gefecht und schlagen sie dabei ein paar Athener aus dem Felde, so wird daraus gleich ein Sieg über das ganze athe­ nische Heer; sind sie dagegen von uns besiegt, so sind sie immer nur unserer ganzen Macht unterlegen. Wenn wir aber auch ohne solchen Zwang getrost in den Kampf gehen und uns dabei nicht auf künstlich gezüchtete Tapferkeit, sondern auf angebo­ renen Mut verlassen, so kommt uns nur das zugute; denn auch ohne unsere Kräfte vorher auszugeben, stehen wir nicht minder unseren Mann als unsere Gegner, die sich bis dahin beständig abgequält haben. Und deshalb bewundert man Athen mit Recht, aber freilich noch aus anderen Gründen.

„Denn wir pflegen die Künste, aber nicht um eiteln Prunkes willen, und lieben die Wissenschaft, aber ohne uns dadurch verweichlichen zu lassen. Wir schätzen den Reichtum als ein Mittel, um nützlichen Gebrauch davon zu machen, nicht aber um damit zu protzen. Seiner Armut braucht sich niemand zu schämen, es sei denn, daß er sie durch Faulheit selbst verschuldet hat. Der Politiker kann sich bei uns auch seinen eigenen Angelegenheiten widmen und der Geschäfts­ mann, der sein Gewerbe treibt, dabei sehr wohl auf Politik

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verstehen. Nur hier hält man den, der sich nicht um Politik bekümmert, nicht für einen guten Bürger, sondern für einen Philister. Bei uns bildet sich jeder wenigstens ein Urteil über solche Fragen, wenn es auch zunächst den berufsmäßigen Poli­ tikern überlassen bleibt, über deren richtige Lösung nachzudenken. Wir glauben nicht, daß die Sachen darunter leiden, wenn man sich erst öffentlich darüber ausspricht; im Gegenteil, wir halten eS für verkehrt, eine Sache anzugreifen, ohne sich darüber vorher durch Rede und Gegenrede belehren zu lassen. Denn auch darin untershceiden wir uns von anderen, daß wir bei unseren Unternehmungen erst wägen und dann wagen, während sie dummdreist draufgehen und, wenn sie zur Besinnung kommen, den Mut verlieren. Der wahre Mut ist es denn doch, sich zu­ nächst klarzumachen, was man zu hoffen und zu fürchten hat, und dann doch nicht vor der Gefahr zurückzushcrecken. Auch über Wohltun deuten wir anders als die meisten; nicht durch Nehmen, sondern durch Geben suchen wir uns Freunde zu machen. Wer einem anderen eine Wohltat erweist, hält fester an der Freund­ schaft und sucht sich dessen Dankbarkeit durch fortgesetztes Wohl­ wollen zu erhalten; der durch eine Wohltat Verpflichtete da­ gegen läßt es schon eher darauf ankommen, weil er sich sagt, daß er sie nicht erwidert, um dem anderen eine Freude zu machen, sondern um eine Schuld abzutragen. Wir sind die einzigen, die nicht aus Berechnung und um eigenen Vorteils willen, sondern als freie Männer auch ohne Nebenabsichten vertrauensvoll und furchtlos anderen Wohltaten erweisen.