History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

Hier beginnt nun der wirkliche Krieg zwischen den Athenern und den Peloponnesiern und ihren beiderseitigen Bundesgenossen, in dem sie ohne Heroldsgeleit nicht mehr mit­ einander verkehrten und sich beständig in Waffen gegenüber- standen. Was sich darin im einzelnen ereignet hat, wird hier Jahr für Jahr nach Sommer und Winter der Reihe nach erzählt.

Vierzehn Jahre hatte der nach der Eroberung von Euboia geschlossene dreißigjährige Friede vorgehalten. Im fünfzehnten Jahre aber, als Drysis ahctundvierzig Jahre Priesterin in Argos, Ainesios Ephor in Sparta und das Amtsjahr des Archon ^Pythodoros in Athen bis auf vier Monate abgelaufen war, im sechsten Monat nach der Schlacht bei Potidäa, zu Anfang des Frühlings überfiel eine Anzahl bewaffneter Thebaner, etwas über dreihundert Mann, unter den Böotarchen Pythangelos, Phyleides' Sohn, und Diemporos, Onetorides' Sohn, das mit Athen verbündete böotische Platää und drang, als die Einwohner eben im ersten Schlafe lagen, in die Stadt. Bürger von Platää, Naukleides und seine Anhänger, waren es, die sie gerufen und ihnen das Stadttor geöffnet hatten, weil sie, um selbst ans Ruder zu kommen, ihre Gegner in der Bürger­ schaft stürzen und die Stadt den Thebanern in die Hände spielen wollten. Eurymachos, Leontiades' Sohn, ein besonders einflußreicher Mann in Theben, hatte dabei den Mittelsmann gemacht. Denn da die Thebaner den Krieg kommen sahen, wollten sie Platää, ihre alte Feindin, lieber im Frieden, bevor es förmlich zum Kriege käme, noch schnell in ihre Gewalt bringen. So konnten sie auch um so leichter unbemerkt in die Stadt gelangen, da keine Wachen ausgestellt waren. Als sie hier auf dem Markte haltmachten, forderten ihre Freunde, die sie gerufen hatten, sie dazu auf, gleich in die Häuser der Gegner zu dringen und kurzen Prozeß mit ihnen zu machen. Darauf gingen sie jedoch nicht ein, beschlossen vielmehr, eine versöhnliche Kundgebung zu erlassen, um die Bürgerschaft zu einem gütlichen Vergleich zu bewegen, und ließen auch öffentlich

97
ausrufen, alle guten Böotier, welche für den alten Bund wären, möchten sich waffnen und ihnen anschließen. Auf diese Weise hofften sie die Stadt leicht zu sich herüberziehen zu können.

Als die Platäer gewahr wurden, daß die Thebaner ein­ gedrungen waren und ihre Stadt so im Handumdrehen erobert hatten, wurden sie bange, und weil sie die Zahl der Eingedrun­ genen im Dunkeln nicht deutlich erkennen konnten und für weit größer hielten, als sie wirklich war, verstanden sie sich zu einem Vergleich, gingen auf ihre Vorschläge ein und hielten sich ruhig, zumal man bis dahin noch keinem was zuleide getan hatte. Inzwischen überzeugten sie sich jedoch, daß die Thebaner gar nicht so zahlreich waren und durch einen entschlossenen Angriff anscheinend leicht überwältigt werden könnten; denn die große Mehrzahl der Platäer war keineswegs gemeint, sich von den Athenern zu trennen. Sie beschlossen also, sie an­ zugreifen, rotteten sich zusammen, indem sie, um auf der Straße nicht gesehen zu werden, die Wände zwischen den Häusern durchbrachen, verrammelten die Straßen durch ausgespannte Frachtwagen und trafen auch sonst alle ihnen in dem Augen­ blick zweckmäßig erscheinenden Maßregeln. Als alles so weit vorbereitet war, nahmen sie die Nacht oder doch die Dämmerung noch wahr, um aus den Häusern über sie herzufallen, denn bei Hellem Tage wären die Thebaner mutiger und nicht weiter im Nachteil gewesen, während sie so in banger Nacht bei ihrer Ortskenntnis den Fremden gegenüber im Vorteil waren. Auch kam es sogleich zum Angriff und damit zum Hand­ gemenge.

Als die Thebaner sahen, daß sie überlistet waren, schlossen sie sich eng zusammen, um den Feinden nach allen Seiten die Spitze bieten zu können, schlugen auch zwei- oder dreimal einen Angriff ab. Da jedoch die Platäer von neuem ungestüm auf sie eindrangen und auch Frauen und Sklaven mit wildem .Geschrei ihnen Steine und Dachziegel von den Häusern auf die Köpfe warfen, dazu noch in der Nacht viel Regen gefallen war, kriegten sie es mit der Angst, ergriffen die Flucht und zerstreuten sich in der Stadt. Und da die meisten hier nicht [*]( I )

98
Bescheid wußten und in Kot und Dunkelheit - denn es war Neumond - den rechten Weg nicht finden und ihren Ver­ folgern, denen jedes Gäßchen bekannt war, nicht entrinnen konnten, so kamen die meisten um. Auch das Tor, durch das sie eingedrungen, das einzige, welches offen war, verschloß ein Platäer, indem er den Schaft seines Spießes anstatt des Pflockes durch den Querbalken stieß, so daß man auch da nicht mehr hinaus konnte. Da man sie in der Stadt überall verfolgte, stiegen einige auf die Stadtmauer und ließen sich nach außen hinabfallen, kamen dabei aber meist ums Leben. Einige ge­ langten durch ein unbewachtes Tor, dessen Querbalken sie mit einem Beil, das ihnen eine Frau gegeben, zerschlagen hatten, unbemerkt ins Freie, allerdings nicht viele, da es bald bemerkt wurde. Auch wurde manchem, der sich in der Stadt verlaufen hatte, der Garaus gemacht. Der größte Haufe aber, der noch einigermaßen zusammenhielt, geriet in ein geräumiges Haus an der Stadtmauer, dessen Torweg zufällig offen stand, in der Meinung, es sei das Stadttor und habe auf der anderen Seite einen Ausgang ins Freie. Als die Platäer sahen, daß sie sich hier gefangen hatten, waren sie unschlüssig, ob sie das Haus anstecken und alle bei lebendigem Leibe dann verbrennen oder was sie sonst mit ihnen anfangen sollten. Schließlich kam es zu einem Abkommen, wonach sie und alle noch am Leben befindlichen, in der Stadt umherirrenden Thebaner die Waffen streckten und sich den Platäern auf Gnade und Un­ gnade ergaben. So endete der Überfall von Platäa.

Als die anderen Thebaner, welche für den Fall, daß den Eindringlingen was in die Quere käme, schon in der Nacht mit ihrer Hauptmacht zur Stelle sein sollten, unterwegs die Nachricht erhielten, wie die Sache abgelaufen, beschleunigten sie ihren Marsch. Platää ist von Theben siebzig Stadien ent­ fernt, und da es über Nacht stark geregnet hatte, kamen sie nur langsam vorwärts. Der Asopos war hoch angeshcwollen. und schwer zu überschreiten. Und da sie im Regen marschieren mußten und beim Übergange über den Fluß viel Zeit verloren hatten, kamen sie zu spät, so daß ihre Landsleute entweder

99
schon tot oder gefangen waren. Als sie das erfuhren, suchten sie die außerhalb der Stadt befindlichen Platäer einzufangen; denn da der Überfall so urplötzlich mitten im Frieden erfolgt war, waren noch Leute und Gerätschaften draußen auf dem Lande. Die eingefangenen Platäer aber sollten ihnen als Geiseln dienen für ihre noch am Leben befindlichen gefangenen Landsleute. Während sie sich die Sache noch überlegten, schickten die Platäer, die etwas der Art vermuteten und für ihre Leute draußen fürchteten, aus der Stadt einen Herold an sie ab und ließen ihnen sagen, es sei schon schweres Un­ recht gegen sie gewesen, mitten im Frieden einen solchen Ge­ waltstreich gegen ihre Stadt zu führen, und man solle sie jetzt draußen im Frieden lassen. Wo nicht, so würden auch sie die Gefangenen töten, denen sie bisher das Leben gelassen und die sie ihnen herausgeben würden, wenn sie ihr Gebiet räumten. So wenigstens sagen die Thebaner und versichern sogar, die Platäer hätten sich eidlich dazu verpflichtet. Die Platäer aber stellen in Abrede, die sofortige Herausgabe der Gefangenen versprochen zu haben, behaupten vielmehr, sie hätten sich dazu nur bereit erklärt, falls es auf Grund weiterer Verhandlungen zu einem Vergleich kommen würde, eidlich aber hätten sie sich überhaupt zu nichts verpflichtet. Die Thebaner räumten denn auch ihr Gebiet, ohne dort weiter Schaden zu tun. Die Pla­ täer aber brachten alles, was draußen war, schnell in die Stadt und töteten dann die Gefangenen auf der Stelle. Im ganzen waren es hundertundachtzig, unter ihnen auch Eurymachos, mit dem die Verräter die Sache eingefädelt hatten.

Hierauf sandten sie einen Boten nach Athen, gaben den Thebanern ihre Toten unter freiem Geleit heraus und richteten sich in der Stadt einstweilen auf eigene Hand ein. Die Athener aber, welche von den Ereignissen in Platää gleich Nachricht erhalten hatten, ließen sofort alle Böotier in Attika festnehmen und schickten einen Herold nach Platää mit der Weisung, den gefangenen Thebanern nichts weiter zuleide zu tun, bis man sich auch in Athen ihretwegen schlüssig gemacht hätte; denn davon, daß sie bereits getötet waren, hatten sie noch keine

100
Nachricht. Ein erster Bote war nämlich gleich nach dem Ein­ bruch der Thebaner an sie abgegangen, der zweite unmittelbar nachdem sie überwältigt und in Gefangenschaft geraten waren. Seitdem hatten sie nichts weiter gehört. So sandten sie denn auch jetzt ihren Herold ab, ohne zu wissen, wie die Dinge in Platää tsanden, und als dieser dort ankam, fand er die Ge­ fangenen schon nicht mehr am Leben. Darauf schickten die Athener Truppen nach Platää, versahen die Stadt mit Lebens­ mitteln und ließen eine Besatzung darin zurück, nachdem sie die nicht wehrfähigen Männer sowie die Weiber und Kinder hinausgeschafft hatten.

Nachdem das Gewitter in Platää zum Ausbruch gekommen war, konnte natürlich vom Frieden keine Rede mehr sein, und die Athener rüsteten zum Kriege. Die Lakedämonier aber und ihre Bundesgenossen rüsteten ebenfalls. Auch schickten beide Teile gleich Gesandtschaften an den Perserkönig und solche barbarische Völkerschaften, von denen sie sich irgendwelche Hilfe versprachen, wie sie sich auch unter den unabhängigen Staaten nach Bundesgenossen umsahen. Die Lakedämonier wiesen die ihnen befreundeten Städte in Italien und Sizilien an, zur Verstärkung der auf fünfhundert Segel zu bringenden pelo­ ponnesischen Flotte je nach ihrer Größe eine Anzahl Schiffe einzustellen und sich auf bestimmte Geldleistungen einzurichten, im übrigen aber bis zur Vollendung der Rüstungen ruhig zu bleiben und auch die Athener, wenn sie nur mit einem einzelnen Schiffe kämen, nach wie vor in ihren Häfen zuzulassen. Die Athener aber musterten die Kräfte ihres Seebundes und be­ schickten namentlich auch die um den Peloponnes liegenden Orte, Kerkyra, Kephallenia, Akarnanien und Zakynthos, da ihnen einleuchtete, wenn sie mit denen auf gutem Fuße ständen, würden sie den Peloponnes von allen Seiten nachdrücklich bekämpfen können.

Beiden standen die Gedanken nicht niedrig, und sie stürzten sich mit vollem Eifer in den Krieg. Anfangs will eben jeder hoch hinaus, und zumal die zahlreiche Jugend, die es damals im Peloponnes sowohl wie in Attika gab, welche den Krieg

101
noch nicht kannte, brannte vor Kriegslust. Ganz Griechenland abei^schwebte in banger Erwartung, als die beiden ersten Staaten gegeneinander in die Schranken traten. Man hörte viel von Weissagungen, und überall ließen sich Propheten ver­ nehmen, nicht nur in den zum Kriege rüstenden Staaten, sondern auch anderswo. Dazu war die Insel Delos kürzlich von einem Erdbeben betroffen, wo bis dahin, soweit man in Griechenland zurückdenken konnte, noch nie ein Erdbeben ge­ wesen war. Auch das, so hieß es und glaubte man, deute auf die Dinge hin, die da kommen sollten. Und allem, was sich der Art etwa sonst zugetragen, wurde eifrig nachgeforscht. Die öffentliche Meinung aber war ganz überwiegend für die Lakedämonier, schon weil sie die Freiheit Griechenlands auf ihre Fahne schrieben. Alle Welt, einzelne wie Staaten, konnte sich nicht genugtun, ihnen mit Wort und Tat be­ hilflich zu sein, und jeder glaubte, er müsse auch mit dabei sein, wenn aus der Sache was werden solle. So allgemein war die Erbitterung gegen die Athener; die einen wollten ihre Herrschaft abschütteln, die andern fürchteten, unter ihre Fuchtel zu geraten.

Mit solchen Rüstungen und Gesinnungen ging man in den Krieg. Bei Ausbruch des Krieges hatten beide Mächte folgende Bundesgenossen: Auf seiten der Lakedämonier waren sämtliche Peloponnesier innerhalb des Isthmus, mit Ausnahme der Argeier und der Achäer, die mit beiden in Frieden lebten. Nur die Pellener unter den Achäern nahmen gleich anfangs am Kriege teil, später dann aber auch alle übrigen. Außerhalb deS Pelo­ ponnes die Megarer, Phokier, Lokrer, Böotier, Amprakier, Leukadier und Anaktorier. Von diesen stellten die Korinther, Megarer, Sikyoner, Pellener, Eleer, Amprakier und Leukadier Schiffe, die Böotier, Phokier und Lokrer Reiterei, die übrigen Staaten Fußvolk. Das waren die Bundesgenossen der Lake­ dämonier. Auf seiten der Athener waren die Chier, Lesbier Platäer, die Messenier in Naupaktos, die meisten Akarnanier, die Kerkyräer, die Zakynther und die ihnen in den vershciedenen Ländern steuerplfichtigen Orte, das karische Küstenland, die

102
Dorier an der karischen Grenze, Jonien, Hellespont, das thra­ kische Küstenland, die Inseln im Osten des Peloponnes bis Kreta und alle übrigen Kykladen außer Melos und Thera. Von diesen stellten die Chier, Lesbier und Kerkyräer Schiffe, die übrigen stellten Fußvolk und zahlten Geld. Das waren die Bundesgenossen und Kräfte, welche beiden Teilen für den Krieg zu Gebote tsanden.

Gleich nach dem Vorfall von Platää ließen die Lakedämo­ nier an die Städte im Peloponnes und ihre auswärtigen Bundesgenossen den Befehl ergehen, ihre Truppen marschbereit zu machen und mit dem Bedarf für einen Feldzug außer Landes zu versehen, um nach Attika einzufallen. Als alle damit zur bestimmten Zeit fertig waren, vereinigten sich die sämtlichen Streitkräfte, aus jeder Stadt zwei Drittel der vorhandenen Mannschaft, auf dem Isthmus. Als das ganze Heer hier bei­ sammen war, berief der lakedämonische König Archidamos, der in diesem Feldzuge den Oberbefehl führte, die Feldhauptleute aller Städte sowie die höheren Beamten und sonst angesehenen Personen zu einer Versammlung und redete sie also an:

„Peloponnesier und Bundesgenossen! Unsere Väter sind schon oft nicht nur im Peloponnes, sondern auch auswärts zu Felde gezogen, und die Älteren unter uns haben selbst auch schon mehrfach Kriege mitgemacht, allein mit einem so statt­ lichen Heere wie diesmal sind wir noch nie ins Feld gerückt. Aber es geht auch gegen eine mächtige Stadt, und darum treten auch wir so zahlreich und mit unseren besten Kräften auf den Plan. Ich darf erwarten, daß wir uns nicht schlechter zeigen werden als unsere Väter und unserem alten Ruhm auch diesmal Ehre machen werden. Denn ganz Griechenland sieht mit gespannter Erwartung auf diese unsere Unternehmung und wünscht uns dabei aus Haß gegen die Athener den besten Er­ folg. Wir dürfen uns jedoch nicht etwa im Vertrauen auf unsere Überzahl in Sicherheit wiegen und es in der Meinung, der Feind werde sich gar nicht an uns heranwagen, auf dem Marsche an der nötigen Vorsicht fehlen lassen, vielmehr muß nicht nur jeder Befehlshaber der verschiedenen Städte, sondern

103
auch jeder einzelne Mann immer darauf gefaßt sein, daß es im nächsten Augenblick zum Gefecht kommen kann; denn im Kriege weiß man nie vorher, was kommt, und so ein Angriff erfolgt fast immer plötzlich und unangemeldet. Schon manch­ mal hat eine Minderheit, die auf ihrer Hut war, gegen einen überlegenen Feind glücklich gekämpft, weil dieser in seinem Übermut nicht aufgepaßt hatte. Bei einem Feldzuge in Feindes­ land muß man kühn, aber vorsichtig zu Werke gehen. Denn dann kann man den Feind herzhaft angreifen und hat von seinen Angriffen am wenigsten zu fürchten. Wir ziehen auch nicht gegen einen Feind, der sich nicht wehren könnte, sondern gegen eine Stadt, die in jeder Hinsicht vortrefflich gerüstet ist. Wir müssen also unbedingt darauf rechnen, daß es zur Schlacht kommen wird, und wenn sie sich dort auch nicht gleich dazu entschließen, solange wir noch in weiter Ferne sind, so doch ganz gewiß, wenn sie uns erst in ihrem Lande sengen und brennen und Hab und Gut vernichten sehen. Denn wer so was noch nicht erlebt, dem läuft die Galle über, wenn er es selbst mit ansehen muß. Und je weniger sich einer zu be­ herrshcen weiß, um so leidenschaftlicher wird er gleich drein­ schlagen. Von den Athenern aber muß man sich dessen be­ sonders versehen, da sie sich zwar berufen fühlen, andere zu beherrschen und fremde Länder zu verwüsten, aber nicht gewohnt sind, daß es ihnen auch so geht. Weil ihr denn gegen eine solche Stadt ins Feld zieht und dabei, je nachdem, euch und euren Vorfahren die größte Ehre oder aber die ärgste Schande machen werdet, so folgt euren Führern, wohin es auch geht, haltet vor allen Dingen auf Mannszucht und Wachsamkeit und tut stets willig, was euch befohlen wird. Nichts Schöneres und Verläßlicheres als solch ein großes Heer, das gleichsam von einem Willen und vom hohen Geiste der Ordnung be­ seelt scheint."

Nach diesen Worten entließ Archidamos die Versammlung und schickte nun zunächst den Spartaner Melesippos, Dia­ kritos' Sohn, nach Athen, um zu sehen, ob man dort jetzt nicht schon eher mit sich handeln ließe, nachdem man sich über­

104
zeugt, daß das feindliche Heer bereits unterwegs war. Die Athener aber ließen ihn gar nicht in die Stadt und vor dem Volke auftreten; denn schon vorher hatte Perikles den Antrag durchgesetzt, daß weder ein Herold noch eine Gesandtschaft der Lakedämonier aus dem Felde angenommen werden sollte. Sie schickten ihn also, ohne ihn zu hören, wieder weg mit dem Befehl, noch an demselben Tage wieder über die Grenze zu sein und den Lakedämoniern zu sagen, wenn sie sonst was wollten, möchten sie erst wieder nach Hause gehen, ehe sie Gesandte schickten. Und damit er unterwegs mit niemand in Berührung käme, gaben sie ihm einige Leute zum Geleit mit. Als er an die Grenze gelangt und im Begriff war, sich von seinen Begleitern zu trennen, sagte er beim Abschied: „Dieser Tag wird für Griechenland der Anfang großen Herzeleids sein." Als er ins Lager zurückgekehrt war und Archidamos einsah, daß die Athener auf keinen Fall nachgeben würden, brach er unverzüglich mit dem Heere auf und rückte ihnen ins Land. Auch die Böotier ließen ihr Kontingent und ihre Reiterei zu den Peloponnesiern stoßen; mit ihren übrigen Truppen zogen sie nach Platää und verheerten das Land.

Schon während die Peloponnesier sich auf dem Isthmus sammelten und auf ihrem Marsche noch nicht nach Attika ge­ langt waren, vermutete Perikles, Xanthippos' Sohn, damals selbzehnter Feldherr in Athen, als er den Einfall kommen sah, daß Archidamos, als sein Gastfreund, aus persönlicher Freund­ schaft seine Besitzungen außerhalb der Stadt schonen und viel- leicht nicht mit verwüsten würde, oder daß wohl gar die Lake­ dämonier ihm Befehl dazu erteilen könnten, um Mißtrauen gegen ihn zu erregen, wie sie ja auch schon vorher seinetwegen die Sühne des Frevels verlangt hatten. Er erklärte deshalb den Athenern in der Volksversammlung, wenn Archidamos auch sein Gastfreund sei, so solle das seinen Mitbürgern nicht zum Schaden gereichen, und falls etwa die Feinde seine Häuser und Felder nicht ebenso verwüsten würden wie die übrigen, so trete er sie, um nicht in Verdacht zu kommen, hiermit der Stadt zu Eigentum ab. Wie früher riet er ihnen auch jetzt

105
wieder, sich auf den Krieg einzurichten, vom Lande alles in die Stadt zu schaffen und sich draußen auf keine Schlacht ein­ zulassen, sondern sich auf die Verteidigung der Stadt zu be­ schränken, namentlich aber die Flotte, worin denn doch ihre Stärke bestehe, in guten Stand zu setzen. Die Bundesgenossen müßten sie in der Hand behalten, denn deren Steuern seien das Rückgrat ihrer Macht, da im Kriege das meiste auf Klug­ heit und Geld ankomme. Übrigens brauchten sie sich keine Sorgen zu machen; denn abgesehen von sonstigen Einkünften nähme die Stadt allein aus Steuern der Bundesgenossen alle Jahre durchschnittlich sechshundert Talente ein, und außerdem befänden sich im Schatze auf der Burg sechstausend Talente geprägtes Silber. - Der höchste Betrag war neuntausendsieben­ hundert Talente gewesen, davon aber waren Auslagen für die Propyläen und andere Bauten betsritten. - Dazu kämen an ungeprägtem Gold und Silber, an öffentlichen und Privat­ weihgeschenken und an dem, was an heiligen Geräten für fest­ liche Aufzüge und Spiele, an Perserbeute und dergleichen vor­ handen sei, mindestens fünfhundert Talente. Nötigenfalls könne man auch noch auf recht ansehnliche Schätze in den übrigen Tempeln und, wenn alle Stricke reißen sollten, auf das goldene Gewand der Göttin greifen, an deren Standbilde, wie er ihnen nachwies, sich vierzig Talente reines Gold befänden, das alles abgenommen werden könne, später freilich, wenn man sich dessen in der Not bediene, voll ersetzt werden müsse. Auf diese Weise suchte er sie über die Zulänglichkeit ihrer Geldmittel zu be- ruhigen. Ihre Streitkräfte anlangend, rechnete er ihnen vor, sie hätten dreizehntausend Mann schweres Fußvolk ohne die Besatzungen in den festen Plätzen und die sechzehntausend zur Bewachung der Mauern. So viel aus den ältesten und jüngsten Jahrgängen und den Schutzverwandten entnommene Hopliten waren nämlich gleich anfangs für den Fall eines feindlichen Angriffs zum Dienst auf den Mauern bestimmt. Die Länge der phalerischen Mauer bis an die Ringmauer der Stadt betrug fünfunddreißig Stadien und die der Ringmauer selbst, soweit sie besetzt wurde, dreiundvierzig Stadien; denn ein Teil, das
106
Stück zwischen der langen und der phalerischen Mauer, wurde nicht besetzt. Die langen Mauern nach dem Peiraieus, von denen jedoch nur die äußere besetzt wurde, waren vierzig Stadien lang. Die Mauer um den Peiraieus mit Einschluß von Muny­ chia war im ganzen sechzig Stadien lang, und etwa die Hälfte davon wurde besetzt. An Reiterei, gab er weiter an, hätten sie mit Einschluß der reitenden Bogenschützen zwölfhundert Mann, Bogenschützen zu Fuß sechzehnhundert, an Kriegsschiffen aber dreihundert seetüchtige Trieren. So viel und von allem mindestens so viel hatten die Athener damals in der Tat, als der erste Einfall der Peloponnesier bevorstand und sie in den Krieg gingen. Aber auch sonst sagte ihnen Perikles, wie bei jeder Gelegenheit, auch diesmal noch alles mögliche, um ihnen zu beweisen, daß sie den Krieg siegreich bestehen würden.

Die Athener aber befolgten seinen Rat und schafften Weiber und Kinder, sowie alles, was sie an Hausgerät draußen hatten, ja selbst das Holzwerk der Häuser, die sie abbrachen, vom Lande in die Stadt. Schafe und Zugtiere brachten sie nach Euboia und den benachbarten Inseln hinüber. Es kam sie freilich hart an, so mit Sack und Pack abzuziehen, da sie meist gewohnt waren, immer auf dem Lande zu leben.

Das war nämlich bei ihnen mehr als anderswo schon seit ältester Zeit Sitte gewesen. Unter Kekrops und den ersten Königen bis auf Theseus lebte man in Attika in einzelnen Ortschaften, die ihre eigenen Prytanen und Archonten hatten. Wenn nicht grade eine besondere Gefahr drohte, kam man auch nicht beim Könige zu gemeinsamer Beratung zusammen, sondern die einzelnen Gemeinden halfen und regierten sich selbst, führten wohl gar mal Krieg untereinander, wie die Eleusinier mit Eumolpos gegen Erechtheus. Als aber Theseus König geworden war, der, ein ebenso kluger wie mächtiger Herr, über­ haupt erst Ordnung im Lande schuf, machte er den Prytanen und Archonten in den einzelnen Ortschaften ein Ende und ver­ einigte diese zu der jetzigen einen Stadt mit nur einem Rat und Prytaneum für alle. Er ließ ihnen zwar die selbständige Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten wie bisher, machte

107
sie aber politisch zu einem Gemeinwesen, das damit, weil ihm nun alle angehörten, zu einer ansehnlichen Stadt wurde und als solche von Theseus auf seine Nachfolger überging. Darum feiern die Athener bis auf den heutigen Tag von Staats wegen noch ihr Eingemeindungsfest zu Ehren der Göttin. Früher bestand die Stadt nur aus der.Burg und dem südlich daran stoßenden Stadtteil. Das kann man noch daran sehen, daß die Tempel auch anderer Götter auf der Burg selbst oder doch vorzugsweise in diesem Stadtteil liegen, so der Tempel des olympischen Zeus, das Phythion, der Tempel der Ge und der ! des Dionysos im Brühl, dem zu Ehren am Zwölften des E Monats Anthesterion die alten Dionysien gefeiert werden, wie es auch bei den von den Athenern abstammenden Joniern noch jetzt gehalten wird. In dieser Gegend liegen noch mehrere andere alte Tempel. Auch die Quelle dort in der Nähe, welche, seit sie von den Tyrannen in jetziger Weise gefaßt wurde, Enneakrunos heißt, in älterer Zeit aber, wo sie noch ungefaßt war, Kallirrhoe genannt wurde, stand vor alters in besonderem Ansehen, und von der Zeit hat sich bis heute der Glaube er­ halten, daß man bei Hochzeiten und dergleichen feierlichen Ge­ legenheiten das Wasser aus dieser Quelle holen müsse. Und eben, weil man sich hier zuerst angebaut hatte, wird die Burg von den Athenern immer noch die Stadt genannt.

Da die Athener so lange als ihre eigenen Herren auf dem Lande gelebt und auch nach ihrer Vereinigung sowohl in älterer Zeit als auch später noch bis zu diesem Kriege dort vielfach nach alter Gewohnheit nicht nur ihre eingerichteten Wohnungen gehabt, sondern auch wirklich gewohnt hatten, wurde ihnen dieser Aufbruch schwer genug, zumal sie sich dort nach dem Perserkriege eben erst wieder häuslich eingerichtet hatten. Es wollte ihnen nicht in den Sinn und war ihnen schmerzlich, sich von ihren Häusern und den ihnen aus der Zeit der älteren Verfassung immer ehrwürdig und teuer gebliebenen Heiligtümern zu trennen und sich völlig umleben zu müssen; ja es kam ihnen allen gradezu wie ein Abschied von der Heimat vor.

Bei ihrer Ankunft in der Stadt fanden die wenigsten dort

108
Wohnungen oder ein Unterkommen bei Freunden und Ver­ wandten. Die meisten behalfen sich auf den freien Plätzen der s Stadt oder quartierten sich überall in den Tempeln der Götter und Heroen ein, ausgenommen allein die Burg und das Eleu­ l sinion und was sonst etwa Schloß und Riegel hatte. Selbst das sogenannte Pelasgikon am Fuße der Burg richtete man jetzt notgedrungen zu Wohnungen ein, obgleich ein Fluch darauf stand, dort zu wohnen, und ein pythisches Orakel ausdrück­ lich davor gewarnt hatte, an dessen Schlüsse es hieß: „Doch besser, das Pelasgikon bleibt unbewohnt." Nach meiner Meinung freilich war das Orakel gar nicht so gemeint, wie man es damals verstand: nicht das unerlaubte Wohnen dort werde die Stadt in Not bringen, sondern der Krieg werde dermaleinst dazu nötigen, dort zu wohnen. Den hatte das Orakel allerdings nicht genannt, wohl aber vorher gewußt, daß nur die Not dazu zwingen würde, auch dort Wohnungen ein­ zurichten. Viele behalfen sich auch in den Türmen der Stadt­ mauer oder wo sie sonst ein Unterkommen fanden. Denn es '.fehlte in der Stadt an Platz für die vielen darin zusammen­ ! gepferchten Menschen, so daß später sogar die langen Mauern uund der größte Teil der Mauer um den Peiraieus zu Woh­ nungen eingerichtet werden mußten, um die Leute unterzubringen. Unterdessen wurden jedoch die Rüstungen fortgesetzt, die Bundes­ genossen aufgeboten und hundert Schiffe zu einer Fahrt nach dem Peloponnes in Dienst gestellt. So weit war man in Athen mit den Anstalten zum Kriege.

Inzwischen gelangte das Heer der Peloponnesier auf seinem Marsche zunächst nach Oinoe, wo der Einfall erfolgen sollte. Hier machte es halt und schickte sich an, die Festung mit Sturm zu nehmen. Denn Oinoe, an der Grenze von Attika und Böotien, war Festung und diente als solche den Athenern, die, wenn es nach Krieg aussah, eine Besatzung hineinlegten. Man kam jedoch über die Vorbereitungen nicht hinaus und verlor hier unnütz seine Zeit. Dadurch aber zog Archidamos sich arge Nackenschläge zu. Meinte man, daß er sich schon vor Beginn des Krieges schwach und als Athenerfreund gezeigt habe, so

109
wollte man ihm jetzt, nachdem das Heer beisammen, sein Zaudern auf dem Isthmus und die Langsamkeit des weiteren Vormarsches, namentlich aber den langen Aufenthalt bei Oinoe, erst recht nicht verzeihen. Denn unterdessen hatten die Athener alles in Sicherheit gebracht, während es, wenn er sich nicht so viel Zeit gelassen und seinen Marsch beschleunigt hätte, den Peloponne­ siern wahrscheinlich noch in die Hände gefallen wäre. So war man wegen dieses Aufenthalts im Heere auf Archidamos schlecht zu sprechen. Er aber hielt sich, wie es heißt, deshalb so lange dort aus, weit er immer noch darauf rechnete, die Athener würden nachgeben und es nicht auf die Verwüstung ihres Landes ankommen lassen.

Da alle Versuche der Peloponnesier, das von ihnen be­ lagerte Oinoe zu nehmen, erfolglos blieben, auch die Athener sich nicht auf Verhandlungen einließen, brachen sie, etwa acht­ zig Tage nach dem Überfall von Platää durch die Thebaner, im Sommer, als das Korn zur Reife stand, von dort auf und rückten nach Attika ein. Archidamos, Zeuxidamos' Sohn, König der Lakedämonier, befehligte das Heer. Nachdem sie ein Lager bezogen, verheerten sie erst Eleusis und die Ebene von Thria, lieferten auch bei den sogenannten Rheitoi ein glückliches Ge­ fecht gegen athenische Reiterei. Darauf zogen sie weiter, das Gebirge Aigaleos zur Rechten, durch Kropeia nach Acharnai, i dem größten unter den sogenannten attischen Demen. Hier ! machten sie halt und schlugen ein Lager auf, von wo sie längere Zeit die Umgegend verheerten.

Angeblich hat sich Archidamos damals, als er hier bei Acharnai schlachtbereit stehen blieb und bei diesem Einfall nicht weiter in die Ebene vordrang, die Sache so gedacht: Er nahm an, daß die Athener, mit ihrer zahlreichen jungen Mann­ schaft und zum Kriege gerüstet wie nie zuvor, sich sicherlich außerhalb der Stadt zur Schlacht stellen und der Verwüstung ihres Landes nicht ruhig zusehen würden. Nachdem es bei Eleusis und in der Ebene von Thria dazu nicht gekommen war, wollte er versuchen, ob sie sich jetzt nicht zu einem Angriff auf seine Stellung bei Acharnai verleiten ließen. Denn wie er

110
einerseits Acharnai für einen besonders geeigneten Lagerplatz hielt, so glaubte er anderseits, die Acharner, die einen sehr ansehnlichen Teil der Bürgerschaft ausmachten und dreitausend Hopliten stellten, würden die Verwüstung ihrer Besitzungen schwerlich ruhig mit ansehen, sondern auch die übrigen zu einer Schlacht zu bestimmen suchen. Sollten die Athener trotzdem bei diesem Einfall nicht herauskommen, so würde er ihnen das nächste Mal um so unbedenklicher die Ebene verheeren und bis an die Stadt selbst rücken können; denn dann würden die Acharner, nachdem sie das Ihrige verloren, keine Lust mehr haben, ihre Haut für fremdes Gut zu Markte zu tragen, und die Athener sich infolgedessen untereinander in die Haare ge­ raten. In dieser Weise wird Archidamos bei Acharnai die Sache angesehen haben.