History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Wahrmund, Adolf, translator. Stuttgart: Krais and Hoffmann, 1864.

„Hierin ist unsere Stadt der Bewunderung würdig: aber nicht minder in anderen Stücken. Denn wir sind Freunde des Schönen, ohne im Auswande das Maß zu überschreiten, und pflegen der

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Wissenschaft, ohne uns verweichlichen zu lassen. Aus unserem Reich- [*]( 431 v. Chr. ) thum machen mir eine Gelegenheit zur That, nicht zur Prahlerei imt c Worten, und zu gestehen, daß Einer arm sei, gereicht ihm nicht zur Schande; viel schimpflicher ist's, die Armuth durch Fleiß nicht fern zu halten. Ein und dieselben Männer widmen sich den eigenen Angelegenheiten und den Aemtern des Staates, und die Andern, die dem Landban und den Gewerben obliegen müssen, haben deshalb keinen schlechten Verstand in Staatsdingen; denn allein bei uns wird Einer, der von Staatssachen sich ganz fern hält, nicht für einen Ruheliebenden, sondern für einen unnützen Menschen angesehen. Auch sind wir es, welche die Verhältniss; auf die richtige Weise beurtheilen, oder doch wenigstens in Erwägung ziehen, denn wir sind nicht der Ansicht, daß durch das Reden die Thaten Schaden leiden, sondern im Gegentheil dadurch, wenn man an die That geht, ohne vorher durch die Rede belehrt worden zu sein. Denn auch das ist ein großer Vorzug, den wir vor Andern voraus haben, daß muthiges Wagen und bedächtige Ueberlegung dessen, was wir unternehmen wollen, bei uns vereinigt sind, während bei Andern nur Unkenntniß der Gefahr Kühnheit erzeugt, Ueberlegung aber Zagheit. Für die tapfersten Seelen werden aber mit Recht wohl die gehalten, welche das Schreckliche wie das Angenehme genau kennen und dabei doch vor Gefahr nicht zurückshceuen."

„Und auch von der Tugend des Wohlthnns denken wir anders als die meisten; denn nicht durch Empfangen, sondern durch Wohlthaten erweisen erwerben wir uns Freunde. Beständiger ist ja die Gesinnung des Wohlthäters, der das schuldige Dankgefühl durch fortgesetztes Wohlwollen bei dem Empfänger zu erhalten bemüht ist. Der zum Dank Verpflichtete ist schon weniger eifrig, da er nicht um freie Gunst zu erweisen, sondern um eine Schuld abzutragen, das empfangene Gute erwidern muß. Wir allein sind es, die weniger aus Berechnung des Nutzens als aus edlem Vertrauen einer freien Denkart Andern Wohlthaten erweisen, ohne Undank zu fürchten."

„Und um es mit Einem Worte zu sagen, so behaupte ich, daß unsere Stadt eine Bildungsschnle für ganz Griechenland sei, und daß Mann für Mann bei uns sich Jeder den meisten Anforderungen mit größter Anmuth und Gewandtheit gewachsen zeige. Und daß dies Alles nicht für diese Gelegenheit erfundener Redeprunk, sondern die

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[*]( 431 v. Chr. ) Wahrheit der Dinge selbst ist, davon ist Beweis die Macht des Staates , die wir eben durch jene Eigenschaften erworben haben. Denn hervorragend über Alles, was bis jetzt erhört worden ist, geht er der Erprobung seiner Kraft entgegen, und er allein erregt weder dem angreifenden Feinde Entrüstung, daß er von Solchen Ungemach erleide, noch Tadel bei dem Unterworfenen, als ob er von Unwürdigen beherrscht werde. Unter großen redenden Beweisen und gewißlich nicht unbezeugt haben wir unsere Macht entfaltet und werden darum von den Lebenden und den Zukünftigen bewundert werden, und wir bedürfen weder eines Homer als Lobredners, noch sonst eines Andern, der mit seinen Gesängen zwar für den Augenblick ergötzt, aber bald wird die Wirklichkeit seine Anschauung der Dinge Lügen strafen, sondern zu allem Land und Meer hat unsere Kühnheit sich den Weg gebrochen, überall sich unvergängliche Denkmale im Guten und Bösen gründend. Für eine solche Stadt nun sind die hier im tapferen Kampfe gefallen, entschlossen, sich ihrer nicht berauben zu lassen, und von den Ueberlebenden ist Jeder mit Recht bereit, um dieser Stadt willen Mühen und Gefahren zu erdulden."

„Deshalb habe ich mich auch länger bei der Schilderung unseres Staates verweilt, um zu zeigen, daß wir und Andere, die Nichts dem Geschilderten Aehnliches besitzen, nicht um gleichen Preis kämpfen, und zugleich um die Ruhmwürdigkeit dieser hier, um deren willen ich jetzt rede, in deutlichen Beweisen vor Augen zu stellen. Denn was ich eben an unserer Stadt Lobwürdiges erwähnt, damit haben dieser Männer und ihres Gleichen Tugenden sie geschmückt, und sürwahr nicht bei vielen Hellenen möchte ein solcher Ausspruch, wie bei diesen, die Thaten nicht zu überbieien scheinen. Ein solches Ende aber, wie Diese es erlangten, scheint mir als erstes Probestück Mannestapferkeit zu bekunden, und als letztes sie zu besiegelte. Denn auch bei Solchen, die in andern Dingen sich schlechter gezeigt, wäre es billig, daß die für das Vaterland im Kampfe gegen den Feind bewiesene Tapferkeit über jenes hinaus hoch angerechnet werde; denn indem sie durch ihre Tapferkeit die Erinnerung an das Schlechte austilgten, haben sie dem Gemeinwesen mehr genützt, als im Einzelnen geschadet. Von diesen hier aber hat weder Einer, den Genuß vorziehend, im Reichthums sich verweichlicht, noch auch in der Hoffnung, der Armuth zu entgehen

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lind Reichthümer zu erwerben, es hinausgeschoben, sich der Gefahr zu [*]( 431 v. Chr. ) stellen; vielmehr schien ihnen Rache an den Feinden süßer, und indem sie die Gefahr des Todes für die schönste erachteten, wollten sie mit ihr an diesen sich rächen und jene Güter erringen. Den ungewissen Erfolg überließen sie der Hoffnung, im Handeln aber um da?, was sichtbar vor Augen lag, glaubten sie sich selbst vertrauen zu müssen, und indem sie lieber kämpfen und leiden wollten als weichen und gerettet werden, entgingen sie schimpflicher Nachrede; die That aber bestanden sie mit ihrem Leibe, und im kurzen Schicksalsaugenblicke, von höchsten Ruhmes Odem, nicht von Furcht umflossen, sind sie geschieden."

„Als so tapfere Männer also haben sieh diese erwiesen, wie es ihre Pflicht.g^en die Stadt war. Die Ueberlebenden nun mögen zwar die Götter um ein ungefährdetes Leben bitten, aber es auch für Pflicht halten, nicht minder kühne Gesinnung gegen den Feind zu hegen. Den Nutzen derselben sollt ihr aber nicht blos durch Worte euch anschaulich machen, die Einer gar weitschweifig machen könnte, indem er euch vorhält, was Alles für gute Dinge von Abwehr der Feinde abhängen, ohne daß ihr es darum nicht auch schon vorher gewußt hättet; vielmehr sollt ihr die Kräfte des Staates täglich euch vor Augen stellen und ihn liebgewinnen, und wenn euch seine Macht groß zu sein dünkt, so bedenkt, daß kühne Männer, die wußten, was Noth thut, und die im Kampfe aus die Stimme der Schaam und der Ehre hörten, jene Macht erworben haben, — die, wenn ihnen auch einmal ein Unternehmen fehlschlug, darum nicht gleich dem Staate ihre Tapferkeit entziehen wollten, sondern für ihn sich selbst als schönstes Opfer Hingaben. Gemeinsam mit den Andern haben sie ihr Leben blosgestellt. und für sich haben sie unsterbliches Lob errungen und das schönste Grab, nicht nur das, in welchem sie ruhen, sondern das vielmehr, in welchem in der Brust eines jeden Mannes bei jedem Anlaß der Rede oder der That unvergessen ihr Ruhm lebt. Berühmter Männer Graberde ist jedes Land, und nicht mir die Inschrift einer Säule in der eigenen Heimath bezeichnet sie, sondern auch im fremden Lande lebt in Jedem ungeschrieben das Gedächtniß mehr ihres Muthes als ihrer That. Diese also ahmet nach und suchet das Glück in der Freiheit, die Freiheit aber im eigenen Muthes, und übersehet nicht die vom Feinde drohende Gefahr. Denn nicht die, welche ein elendes Dasein führen,

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[*]( 43l v. Chr. ) und die keine Hoffnung auf Besseres haben, werden mehr Ursache haben, ihr Leben in die Schanze zu schlagen, sondern die, welche Gefahr lausen, einen Umschwung des Glückes zum Unglück zu erleben, und bei denen nachher der Unterschied sehr groß ist, wenn ein Unfall sie betroffen hat. Denn viel empfindlicher trifft einen Mann, der hochherzig denkt, die durch Feigheit herbeigeführte Schmach als Tod, der nicht empfunden wird, bei unerschrockener Tapferkeit und begeisterter Aussicht auf die Größe des Vaterlandes."

„Deshalb will ich euch Aeltern der Gefallenen, soviel eurer anwesend sind, nicht beklagen, sondern vielmehr nur trösten. Denn ihr selbst wißt, in wie vielfachem Wechsel des Glückes ihr gelebt habt, und daß glücklich sein nur dem zu Theil wurde, der einen so ruhmvollen Tod erlangt wie diese, und eine so ruhmvolle Trauer wie ihr, und dem es zugemessen wurde, in Dem auch seinen Tod zu finden, was das Glück seines Lebens ausmachte. Ich weiß wohl, daß es schwer ist, euer Gemüth zu überreden, da ihr ost Anlaß zur Erinnerung an jene haben werdet, wenn ihr Andere in einem Glücke seht, dessen ihr euch selbst einst erfreutet. Auch betrübt man sich ja nicht um Güter, durch deren Verlust unsere Zukunft keines gewohnten Genusses beraubt wird, sondern um solche, an deren Genuß man gewöhnt war. Aber auch in der Hoffnung auf andere Kinder sollen die ihr Gemüth auf« richten, die noch in dem Alter sind, Nachkommen zu erzielen; denn im eigenen Hause werden die Neugeborenen den Schmerz heilen um die, die nicht mehr sind, und dem Staate wird es doppelter Vortheil sein, nicht arm zu werden an Bürgern und an Sicherheit zuzunehmen. Denn es ist nicht möglich, daß Einer in recht gleicher Denkart mit den. Andern an den Berathungen um das Gemeinwohl theilnehme, wenn er nicht, wie die Andern, Kinder daran zu wagen hat. Ihr aber, die ihr über jenes Alter hinaus seid, sollt es als Gewinn betrachten, daß ihr den längeren Theil eures Lebens in Glück verbracht habt, und daß das Uebrige nur noch kurz sein wird; und an dem Ruhme dieser Todten möget ihr euer Gemüth heben, denn die Ehre allein ist nicht alternd, und in den Jahren unnützlicher Schwäche ist es nicht Geldgewinn, was am meisten erfreut, wie Viele sagen, sondern Ehre zu genießen."

„Euch Söhnen aber und Brüdern der Gefallenen, sopiel Euer anwesend sind, seh ich großen Wettjamps bevorstehen. Denn

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wer nicht mehr unter den Lebenden ist, den lobt Jeder; ihr aber werdet [*]( 431 v. Chr ) es auch durch ein Uebermaß von Tapferkeit nicht erreichen, diesen gleich- geachtet zu sein, sondern immer noch um etwas tiefer angesetzt werden. Denn die Lebenden verläßt nicht der Neid gegen den Nebenbuhler, wer aber nicht mehr im Wege ist und durch keinen Wetteifer hemmt, der wird wohlwollend geehrt. — Soll ich aber nun auch noch der weiblichen Tugend derer Erwähnung thun, die nun als Wittwen leben werden, so will ich in kurzem Ermunterungswort Alles sagen. Euch wird groß der Ruhm sein, wenn ihr eurer weiblichen Art treu bleibt, und wenn unter Männern in Lob oder Tadel von Einer am wenigsten die Rede ist."

„So habe denn auch ich, dem Gesetze gehorchend, was ich zu sagen wußte, in der Rede vorgebracht; durch die That sind die Be> grabenen schon geehrt. Ihre Kinder aber wird die Stadt von jetzt an bis zur Mannesreife auf öffentliche Kosten erziehen, und damit fetzt sie diesen Todten wie den Ueberlebenden einen nützlichen Siegerkranz als Kampfpreis aus. Denn die Bürgerschaft wird die tapfersten Männer zählen, in welcher die Tapferkeit der höchste Preis erwartet. Nun aber weihet Jeder den Seinigen dieTodtenklage, nnd dann gehet nach Hause."

So wurde die Grabfeier in diesem Winter abgehalten, und mit ihm war auch das erste Jahr dieses Krieges abaelanfen. Sobald aber der Sommer seinen Ansang genommen hatte, fielen allsogleich die [*](430 v. Chr. ) peloponneper und ihre Bundesgenossen mit zwei Drittheuen ihrer Heeresmacht in Attika ein, wie auch das erste Mal. Anführer war Archidamos , des Zeuxidamos Sohn, König der Lakcdämonier. Sie schlugen ein Lager und fingen dann an das Land zu verwüsten. Noch waren sie erst wenige Tage in Attika, da sing zuerst die Seuche an sich unter den Athenern zu zeigen, und sie soll zwar, wie erzählt wird, schon früher zu mehreren Malen auf Lemnos und auch ander, wärts ausgebrochen sein, aber seit Menschengedenken war keine solche Pest und kein solches Sterben irgendwo vorgekommen. Denn auch die Aerzte vermochten Anfangs Nichts auszurichten, da sie die Krankheit behandelten, ohne sie zu kennen, sondern grade sie starben am häufigsten weg, da sie ja auch am meisten mit ihr in Berührung kamen. Und auch keine andere menschliche Kunst wollte helfen. Alles Beten in den Tempeln, Orakelbefragen und dergleichen war Alles nutzlos, und endlich, vom Uebel ganz bewältigt, unterließ man auch das.

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[*]( 430 v. Chr. ) Zuerst soll sie sich, wie erzählt wird, in Aethiopien jenseits AegMen gezeigt haben, dann stieg sie nachAegypten und Libyen hinab und in viele Länder des persischen Königs. In die Stadt der Athener aber kam sie ganz plötzlich, und zwar befiel sie zuerst die Leute im Piräeus, so daß unter diesen sich Stimmen vernehmen ließen, als hätten die Pcloponnesier Gift in die Cisternen geworfen, — denn Brunnen gab es damals dort noch nicht. Bald kam sie aber auch in die obere Stadt, und es starben nun schon viel mehr Menschen daran. Mag nun aber über die Krankheit, wo sie wahrscheinlich ihren Ursprung genommen, und über die Ursachen, die eine so große Veränderung zu bewirken die Kraft hatten, Jeder reden, wie er denkt, sei er Arzt oder Laie, — ich will hier nur erzählen, wie sie sich gezeigt hat, und will sie so schildern, daß Einer, wenn sie einmal wiederkommen sollte, genug von ihr wisse, um sie nicht zu verkennen; denn ich selbst habe sie über« standen uud habe auch Andere gesehen, die daran Niederlagen.

Wie einstimmig anerkannt wurde, war das Jahr in Bezug auf sonstige Krankheiten ein vorzüglich gesundes, und wenn Einer an sonst etwas litt, so schlugen alle Uebel in dies Eine um. Die Andern aber ergriff ohne irgend welche Veranlassung, sondern ganz plötzlich und in voller Gesundheit, zuerst eine starke Hitze im Kopfe und Nöthe und Entzündung der Augen. Die innern Theile, Schlund und Zunge, unterliefen dann sogleich mit Blut, und der Athem wurde schlecht und übelriechend; dann folgten Niesen und Heiserkeit, und binnen Kurzem stieg das Uebel in die Brust hinab, unter starkem Husten, und wenn es sich aus den Magen gesetzt hatte, kehrte es diesen um, und es erfolgten nach einander alle die Entleerungen der Galle, wie sie von den Aerzten mit Namen ausgezählt werden , und zwar unter großen Schmerzen. Die Meisten befiel ein leeres Schluchzen und dics verursachte einen heftigen Krampf, der bei den Einen bald, bei den Andern aber erst nach langer Zeit nachließ. Aeußerlich war der Körper nicht sehr heiß zum Anfühlen nnd auch nicht blaß, sondern geröthet und in's Blcisarbige spielend, uud in kleine Blasen und Geschwüre aufgefahren. Innerlich aber litt man solchen Brand, daß man nicht einmal die Bedeckung ganz leichter Gewänder oder der feinsten Leinwand ertragen und nur völlige Nacktheit leiden mochte; am liebsten hätte man sicb in kaltes Wasser gestürzt, und das thaten auch Viele von denen, deren

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Niemand Acht hatte, indem sie in die Brunnen sprangen, von unauf-[*]( 430 v. Chr. ) hörlichem Durste gequält. Und es war ganz gleichgültig, ob Einer viel trank oder wenig. Ruhelosigkeit und Mangel an Schlaf quälten unaufhörlich. Der Körper selbst, wie lange auch die Krankheit schon währte, welkte nicht, sondern leistete über Erwarten dem Verderben Widerstand, so daß die Meisten erst am neunten oder siebenten Tag an innerem Brande starben, obgeich sie sonst noch bei Kräften waren, oder — wenn sie hier entrannen, so stieg die Krankheit in den Unterleib hinab, und dann bildeten sich große Geschwüre, und nichtzustillender Durchsall trat ein, in dessen Folge die Meisten später aus Entkräftung zu Grunde gingen. Denn den ganzenKörper durchlief das Uebel, anfangend beim Kopfe, wo es sich zuerst festsetzte; und wenn Einer über das Schlimmste hinausgekommen war, so zeigte sich dies an, indem das Uebel die äußersten Körpertheile befiel; denn es ergriff die Scham- theile und die Finger und die Zehen, und Viele kamen mit dem Verluste dieser Gliedmaßen davon, Manche aber verloren auch die Augen. Einige ergriff, nachdem sie Alles überstanden, augenblicklich Vergessen» heit aller Dinge, und sie kannten sich selbst und ihre nächsten Angehörigen nicht mehr.

Daß die Besonderheit dieser Seuche über alle Beschreibung geht, zeigt sich schon darin, daß sie den Einzelnen mit einer Gewalt anfiel, welche die menschliche Natur nicht zu ertragen vermochte; daß sie aber etwas ganz Unerhörtes war, beweist das Folgende. Von den Vögeln und Vierfüßlern, welche sonst von Leichnamen fressen, rührte keiner die vielen unbegrabenen Todten an, oder wenn das Thier davon sraß, so verendete es selbst. Beweis dafür ist das unzweifelhafte Verschwinden von dergleichen Vögeln, und man sah weder sonstwo einen, noch auch in der Nähe der Leichnam. Am deutlichsten war diese Wirkung bei den Hunden wahrzunehmen, weil sie in Gesellschaft der Menschen leben.

Dies war im Ganzen die Art der Krankheit, um von vielen andern seltsamen Dingen zu schweigen, die dabei vorzugsweise dem Einen oder dem Anderen zustießen. Zu gleicher Zeit hatte man von den sonst gewöhnlichen Krankheiten Nichts zu leiden, und wenn etwas der Art vorkam, so schlug es in jene um. Es starben aber wie die, denen es an Pflege mangelte, so auch die mit aller Sorgfalt Gevflea« [*]( ThukydideZ. II. ) [*]( 12 )

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[*]( 430 v. Chr. ) ten. Es gab auch nicht cm besonderes Heilmittel, von dem man sagen konnte, daß sein Gebrauch hätte nützen müssen; denn was dem Einen nützte, erwies sich dem Andern schädlich. Die Leibesbeschaffcnheit für sich genommen, war es ganz gleichgültig, ob Einer kräftig war oder schwächlich, sondern Alles ohne Unterschied raffte die Seuche dahin, ob sich nun Einer so oder so behandeln ließ. Das Furchtbarste dabei war aber die Muthlosigkeit, wann sich Einer von dem Uebel ergriffen fühlte, — dein dann überließ man sich allsogleich der Hoffnungslosigkeit, gab sich über Gebühr selbst auf und leistete keinen Widerstand, — und daß, Einer durch die Pflege des Andern angesteckt, die Menschen dahinstarben wie die Schafe. Das war es, was den stärksten Verlust verursachte. Denn wenn man aus Furcht sich den Andern zu nähern vermied, so gingen diese in ihrer Verlassenheit zu Grunde, wie denn viele Häuser aus Mangel an Wärtern ganz ausgestorben waren. Wer aber sich jenen näherte, ging auch zu Grunde, und besonders die, welche den Tugendpflichten ein Genüge leisten wollten; denn aus Scham schonten sie sich selbst nicht und besuchten ihre Freunde, da auch die nächsten Anverwandten, überwältigt von dem endlosen Elende, des Klagens über die Gestorbenen müde wurden. Größeres Mitleid aber, mit den Gestorbenen sowohl wie mit den noch Leidenden, hatten die Geretteten, weil sie das Uebel kannten und sich selbst bereits in Sicherheit wußten. Denn zum zweiten Male befiel Keinen die Krankheit so, daß er daran gestorben wäre. Und die Andern und sie selbst priesen sich glücklich, vor großer Freude über die Gegenwart sowohl, als auch weil sie der Hoffnung lebten, daß ihnen nun vielleicht keine Krankheit mehr tödtlich werden könnte.

Es bedrängte sie aber zudem vorhandenen Elend mehr noch der Zusammenfluß von Menschen vom Lande nach der Stadt, und nicht weniger litten dadurch die Ankömmlinge selbst. Denn da die Häuser für sie nicht hinreichten, sondern sie sich zur Sommerszeit in dumpfigen Hütten aushalten mußten, so gingen sie in wüstem Unwesen zu Grunde, ja sogar aus und über einander starben sie dahin und blieben als Leichen liegen, oder sie wälzten sich auf den Straßen und um alle Brunnen, halbtodt aus Begierde nach Wasser. Die Tempel, in denen sie ein Unterkommen gesucht hatten, waren gestillt mit Leichen,

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da sie an heiliger Stelle dahin starben. Denn ganz überwältigt von [*]( 430 v. Chr. ) dem Elend wußten die Menschen nicht, was da noch werden sollte, < und fingen an sich nm göttliche wie um menschliche Dinge nicht mehr zu kümmern. Alle gesetzlichen Gebräuche, die man früher bei Begräbnissen beobachtet hatte, wurden vernachlässigt, und Jeder begrub seine Todten, wie er eben konnte. Viele ans Mangel an den nöthigen Erfordernissen, da ihnen schon zu Viele gestorben waren, wurden so schamlos, daß sie ihre Todten auf fremde Scheiterhaufen legten und diese in Brand steckten, ehe noch die dazu kommen konnten, welche sie ausgerichtet hatten, oder auch warfen sie ihren mitgebrachten Leichnam aus den ersten besten brennenden Scheiterhaufen und machten sich davon.

Auch in andern Dingen war die Seuche für die Stadt der Anfang vermehrter Gesetzlosigkeit. Denn womit Einer früher geheim gethan hatte, darin ließ er jetzt schon mit größerer Frechheit seiner Lust die Zügel schießen, weil er sah, wie schnell ein Glückswechsel eintrat, wie die Reichen plötzlich dahinstarben, und solche, die früher Nichts besessen, jener Hab und Gut in Besitz nahmen. So trachteten sie also ihre Genüsse zu beschleunigen und deren Süßigkeit zu erhöhen, denn Leib und Gut sahen sie beides gleich schnell vergänglich. Und um des Guten und Rühmlichen wegen sich einer Mühe zu unterziehen, war Keiner geneigt, da er es für ungewiß hielt, ob er nicht zu Grunde gehen werde, bevor er das Ziel erreicht habe. Was aber schon an sich selbst angenehm war oder irgendwie dem Genuß förderlich schien, das galt auch sür schön und nützlich. Weder Furcht der Götter noch menschliches Gesetz hielt da Einen zurück, denn weil man Alle in gleicher Weise umkommen sah, so urtheilte man auch, daß es gleichgültig sei, ob man die Götter fürchte oder nicht fürchte, und Keiner hoffte so lange zu leben, bis er wegen seiner Verbrechen vor Gericht gestellt und gestraft würde; vielmehr sah er eine bereits fest verhäugte und viel größere Strafe über seinem Haupte schweben, und bevor diese hereinbreche, sei es doch billig, daß man seines Lebens noch in etwas genieße.

In solchem Elend lebten die bedrängten Athener: in der Stadt starben die Menschen dahin, und draußen wurde ihnen das Land verwüstet. In dieser Noth erinnerten sich auch, wie leicht zu denken, die älteren Leute des Wahrspruchs, der vor Zeiten sollte gegeben worden sein: [*]( 12* )

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430 v. [*]( Chr. ) „Kommen wird einstmals dorischer Krieg lind mit ihm die Seuche." Hierüber entstand nun ein Streit unter den Leuten, es habe in dem von den Alten überlieferten Wahrspruch nicht geheißen „die Seuche" (loimos), sondern „der Hunger" (liinos); unter den gegenwärtigen Umständen siegte aber natürlich die Meinung, es habe geheißen, „die Seuche." Denn das Gedächtnis; der Menschen war willig, sich nach tem gegenwärtigen Leiden zu richten, und ich glaube, wenn später wieder einmal ein dorischer Krieg käme und dabei eine Hungersnoth ansbräche, so würde man ganz gewiß die Weissagung danach zustutzen. Wem aber die Sache bekannt war, der erinnerte sich auch des den Lakedämoniern gegebenen Götterspruches, als ihnen damals, da sie den Gott befragten, ob sie den Krieg anfangen sollten oder nicht, zur Antwort wurde: wer mit Macht den Krieg betreibe, dessen werde der Sieg sein, und dem werde auch der Gott selbst beistehen; — und diese urtheilten nun, daß das Eingetroffene der Weissagung ganz entspreche, denn gleich nach dem Einfalle der Peloponnesier fing auch die Seuche an, und im Peloponnes trat sie nicht so auf, daß es der Rede werth gewesen wäre, sondern wüthete grade am ärgsten in Athen, und dann später auch in den volkreichsten anderen Städten. Das ist's, was von der Pest zu berichten war.

Die Peloponnesier nun, nachdem sie das flache Land verwüstet, zogen sich nach der Landschaft, welche das Seeland genannt wird, bis nach Laurion hinab, wo die Athener ihre Silbergruben haben, und verheerten zuerst die Seite, welche gegen den Peloponnes hin schaut, und dann die, welche gegen Enböa und Andros gekehrt ist. Perikles aber, der auch für dies Jahr Feldherr war, blieb bei seiner Meinung, daß die Athener nicht aus der Stadt gehen dürften, um jene anzugreifen, wie auch während des ersten Einsalles.

Während jene aber noch in der Ebene lagen, und bevor sie sich nach dem Seelande gezogen hatten, rüstete er eine Flotte von hundert Schiffen zum Augriff auf den Peloponnes, und als sie nun bereit war, ging er unter Segel. Aus diesen Schiffen führte er 4000 athenische Schwerbewaffnete und drei Hundert Reiter auf Fahrzeugen, die damals aus alten Schiffen zum ersten Male für Pferde eingerichtet worden waren. Die Chier und Lesbier schifften mit fünfzig Segeln mit. Als diese Unternehmung der Athener abging, ließ sie die Pelo

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ponnesier im Küstengebiet von Attika zurück. Im Peloponnes lan­ [*]( 430v. Chr. ) deten sie bei Epidauros und verheerten weithin das Land, griffen auch die Stadt an, und es hatte zwar den Anschein, als ob sie dieselbe würden nehmen können, aber es gelang ihnen nicht. Von Epidauros schifften sie weiter und verheerten das Gebiet von Tränen, Halias und Hermione, lauter Städte, an der peloponnesischen Küste gelegen. Von da gingen sie wieder unter Segel und kamen nach Pyrajla, einem Lakedämonischen Seestädtchen, verwüsteten das Land, nahmen das Städtlcin und zerstörten es. Nachdem sie dies ausgerichtet, kehrten sie nach Hause zurück, trafen aber die Peloponnesier nicht mehr ans attischem Boden, sondern bereits abgezogen.

Während der ganzen Zeit, als die Peloponnesier auf attischein Gebiet waren und die Athener aus den Schiffen, würgte die Seuche die Athener sowohl ans der Flotte als in der Stadt, so das; auch behauptet wurde, die Peloponnesier hätten das Land schneller geräumt aus Furcht vor der Krankheit, deren Austreten in der Stadt sie durch Ueberläufer erfuhren, während sie auch selbst die mit dem Begraben Beschäftigten sehen konnten. Doch waren sie bei dem diesjährigen Einfalle die längste Zeit im Land geblieben, denn ihr Aufenthalt auf attischem Boden hatte ungefähr vierzig Tage gewährt.

Noch in demselben Sommer nahmen Hagnon, Sohn des Nikias, und Theopompos, des Kleinias Sohn, die Mitseldherrn des Perikles, dieselben Schiffe, mit welchen dieser seine Unternehmungen ausgeführt hatte, und zogen gegen die Chalkidier an der thrakifchen Gränze und gegen Potidäa, das immer noch belagert wurde. Als sie gelandet waren, ließen sie ihr Sturmzeug gegen Potidäa spielen und suchten die Stadt ans jegliche Weise zu nehmen. Aber es gelang ihnen weder die Einnahme derselben, noch hatten sie sonst einen Erfolg, der ihre Rüstung gelohnt hätte. Denn die mitgebrachte Krankheit bedrängte hier die Athener aus's Aergste und lichtete ihre Reihen, ja auch die alten Belagerungstrnppen, die bis dahin gesund gewesen waren, wurden durch die Mannschaft des Hagnon angesteckt. Phormion mit seinen sechzeynhundert Mann stand nicht mehr im Gebiet der Chalkidier. So kehrte nun Hagnon mit den Schissen nach Athen zurück, nachdem er in ungefähr vierzig Tagen von vier Tausend Schwerbewaffneten fünfzehn Hundert durch die Seuche verloren hatte. Die

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430 v. Chr. alte Truppe aber bli.b am Platz, die Belagerung von Potidäa fortzusetzen.

Nach dem zweiten Einfalle der Peloponnesier fingen die Athener an, anderes Sinnes zu werden, da ihr Land nun schon zum zweiten Male verheert worden war, und mit dem Kriege auch die Seuche sie bedrängte. Sie klagten den Perikles an, daß er sie zum Kriege beredet habe, und durch sein Verschulden sei so viel Unglück über sie gekommen; und mit den Lakedämoniern hätten sie sich gerne verglichen. Auch schickten sie wirklich Gesandte dahin, aber ohne etwas auszurichten. Jetzt waren sie durchaus unschlüssig und hörten nicht aus dem Perikles zuzusetzen. Da er nun sah, wie sie die gegenwärtige Lage unwillig ertrugen, und sich ganz so benahmen, wie er es im Voraus vermuthet hatte, so berief er eine Versammlung, — denn er war noch Feldherr, — um ihnen Muth einzusprechen, ihren Unwillen abzuleiten und sie gemäßigter und vertrauensvoller zu stimmen. Er trat also auf, und redete wie folgt: