History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

So Athenagoras. Hierauf erhob sich einer der Feldherren und redete, ohne jemand weiter daS Wort zu geben, die Ver­ sammlung nunmehr seinerseits also an:[*]( II )

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„Es ist nicht wohlgetan, daß man sich hier einander ver­ dächtigt, und daß ihr dem bereitwillig euer Ohr leiht. Statt dessen sollten wir, nachdem wir die Nachricht erhalten, alle­ samt, jeder einzelne und die ganze Stadt, lieber bedacht sein, uns auf mutige Abwehr des feindlichen Angriffs einzurichten. Und wenn das auch wirklich nicht nötig wäre, so wird eS doch nicht schaden, die Stadt mit Rossen und Waffen und sonstigem kriegerischen Schmuck zu versehen. Die dazu erforderlichen Vorbereitungen werden wir treffen, auch Gesandte an die anderen Städte schicken, sowohl um Erkundigungen einzuziehen, als auch um die etwa weiter zweckmäßigen Schritte zu tun. Zum Teil ist das Nötige schon in die Wege geleitet, und wenn wir weitere Nachrichten erhalten, werden wir sie euch mitteilen."

Nach diesen Worten des Feldherrn wurde die Versammlung entlassen.

Inzwischen waren die Athener und ihre Bundesgenossen sämtlich in Kerkyra eingetroffen. Die Feldherren musterten zunächst ihre Streitkräfte von neuem und teilten sie ein, so wie sie später landen und sich lagern sollten. Sie bildeten drei Geschwader, deren jedes sie einem von ihnen durchs Los zuteilten, damit es nicht für alle zusammen unterwegs an Wasser und Häfen und an Lebensmitteln an den Landungsplätzen fehle, aber auch um überhaupt bessere Ordnung halten zu können und den Befehlshabern ihre Aufgabe zu erleichtern, wenn jede Ab­ teilung ihren eigenen Feldherrn hätte. Darauf schickten sie nach Italien und Sizilien drei Schiffe voraus, um sich zu er­ kundigen, welche Städte sie aufnehmen würden, mit dem Be­ fehl, ihnen wieder entgegenzukommen, damit sie wüßten, wo sie anlaufen könnten.

Hierauf brachen die Athener nun wirklich von Kerkyra auf und fuhren nach Sizilien hinüber, und zwar in folgender Stärke: Sie hatten im ganzen hundertvierunddreißig Trieren und zwei rhodische Funfzigruderer, darunter hundert attische, und zwar sechzig schnelle, die übrigen als Transportschiffe für die Truppen, die anderen aus Chios und den übrigen Bundes­

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staaten, - schweres Fußvolk im ganzen fünftausendeinhundert Mann, darunter fünfzehnhundert Athener aus der Bürgerstamm­ rolle, siebenhundert aus der Klasse der Tagelöhner (Thetes) als Seesoldaten, die übrigen teils von den abhängigen Bundes­ genossen, fünfhundert Mann, von Argos und Mantinea gestellt, und zweihundertfunfzig Söldner, - Bogenschützen im ganzen vierhundertachtzig, davon die achtzig aus Kreta, - siebenhundert Schleuderer aus Rhodos, hundertzwanzig leichtbewaffnete Flücht­ linge aus Megara und ein für Pferde eingerichtetes Schiff mit. dreißig Reitern an Bord.

Das die Kriegsmacht, mit der sie zu Anfang hinüberzogen. Dazu kamen dreißig Lastschiffe, auf denen sich die Lebensmittel, so wie die Bäcker, Maurer und Zimmerleute mit dem nötigen Schanzzeug befanden, und in deren Gefolge noch hundert zwangs­ weise ausgehobene kleinere Fahrzeuge. Außerdem hatten sich zahlreiche Lastschiffe und sonstige Fahrzeuge zu Handelszwecken dem Zuge freiwillig angeschlossen. Das alles setzte sich nun von Kerkyra über das Ionische Meer in Bewegung. Als die Athener mit der ganzen Flotte am Japygischen Vorgebirge und bei Tarent oder wie es sich eben traf, Italien erreicht hatten, fuhren sie an der Küste entlang, wobei die Städte dort ihnen Markt und Tore verschlossen und lediglich Wasser und Anker- grund, Tarent und Lokroi selbst das nicht gewährten. Endlich kamen sie nach Rhegion an der Südspitze von Italien, wo sie sich sammelten. Da man sie dort nicht einließ, schlugen sie außerhalb der Stadt beim Tempel der Artemis ein Lager auf, wo man ihnen auch einen Markt eröffnete, zogen die Schiffe ans Land und lagen einstweilen still. Mit den Rhegiern nüpften sie Verhandlungen an und forderten sie auf, auf Seite der Leontiner zu treten, die ja auch wie sie Chalkidier wären. Die erklärten jedoch, sie würden sich zu keiner Partei halten, sondern sich darnach richten, was die übrigen italischen Griechen gemeinschaftlich beschließen würden. Die Athener aber überlegten, auf welche Weise sie unter diesen Umständen in Sizilien am besten zu ihrem Zweck kommen könnten, und warteten zugleich auf die Rückkehr der nach Egesta voraus­

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geschickten Schiffe, um zu hören, ob es mit dem, was die Bot­ schafter in Athen von dem Gelde dort gesagt, seine Richtigkeit habe.

Inzwischen hatten die Syrakuser von allen Seiten und auch durch ihre Kundschafter bereits die Nachricht erhalten, daß die Flotte bei Rhegion wäre, und da sie nunmehr daran nicht länger zweifeln konnten, rüsteten sie sich mit allem Eifer zum Kriege. Sie schickten zu den Sikelern, um ihre Unter­ tanen zu überwachen und mit den anderen Verbindungen an­ zuknüpfen, legten Besatzungen in die Wachthäuser im Land­ gebiete, musterten in der Stadt das Fußvolk und die Reiterei, zu sehen, ob alles in gutem Stande sei, und richteten sich überhaupt auf einen baldigen und unmittelbar bevorstehenden Krieg ein.

Die drei vorausgeschickten athenischen Schiffe kamen von Egesta nach Rhegion mit der Nachricht zurück, daß dort von den verheißenen Schätzen, bis auf dreißig Talente, die sich vor­ gefunden, nichts vorhanden sei. Den Feldherren war es von vornherein verdrießlich, daß ihnen das gleich anfangs in die Quere kam, auch daß die Rhegier nicht mit ihnen gehen wollten, die sie zuerst auf ihre Seite zu ziehen gesucht, und auf die sie um so sicherer gerechnet, da sie Stammverwandte der Leontiner waren und mit den Athenern immer auf gutem Fuß gestanden hatten. Nikias freilich hatte von den Egestern nichts anderes erwartet, die beiden anderen aber wollten es kaum glauben. Die Egester hatten sich damals, als die ersten Ge­ sandten von Athen zu ihnen kamen, um sich nach ihren Schätzen umzusehen, einer List bedient. Sie hatten sie nämlich in den Tempel der Aphrodite auf dem Eryx geführt und ihnen die Weihgeschenke gezeigt, Schalen, Kellen, Rauchfässer und allerlei andere Geräte, die von Silber und geringem Wert waren, aber einen übertriebenen Eindruck von ihren Reichtümern auf sie machten. Sie hatten auch die Schiffsmannschaft in ihren Häusern zu Tisch geladen und dabei goldene und silberne Becher, die sie aus der ganzen Stadt und anderen griechischen und phönizischen Städten zusammengeliehen, aufgesetzt, wie

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wenn sie dem Hausherrn gehörten. Meist diente dazu dasselbe Geschirr, und da es überall in solcher Menge zum Vorschein kam, hatte das bei den athenischen Seeleuten große Ver­ wunderung erregt, und sie hatten bei ihrer Rückkehr in Athen nicht genug davon zu erzählen gewußt, wieviel Gold und Silber sie dort gesehen. Diese armen Schelme, die damals selbst hinters Licht geführt waren und auch andere in solchen Glauben versetzt hatten, wurden jetzt, wo es bekannt geworden, daß es mit den Schätzen in Egesta nichts war, von den Soldaten arg verhöhnt und mit Vorwürfen überhäuft. Die Feldherren aber berieten miteinander, was nunmehr zu tun sei.

Nikias war dafür, mit der ganzen Flotte nach Selinus zu fahren, gegen das sie ja zunächst ausgesandt seien. Wenn die Egester die Kosten für daS Ganze bestreiten wollten, so könnte man sich danach einrichten; anderenfalls müsse man verlangen, daß sie die Verpflegung für die von ihnen erbetenen sechzig Schiffe übernähmen, und so lange vor Selinus bleiben, bis es sich entweder aus freien Stücken zum Frieden mit Egesta verstehen oder dazu gezwungen sehen würde; ebenso solle man auch die anderen Städte anlaufen, um ihnen die Macht der Athener zu zeigen und deren Eifer für ihre Freunde und Bundesgenossen zu beweisen, dann aber wieder nach Hause fahren, es sei denn, daß sich alsbald unverhofft Gelegenheit böte, etwas für Leontinoi zu tun oder eine der anderen Städte auf seine Seite zu ziehen; die eigene Stadt aber dürfe man nicht in Gefahr und Kosten stürzen.

Alkibiades dagegen sagte, nachdem man mit einer so mächtigen Flotte ausgefahren sei, dürfe man nicht schimpflich wieder abziehen, ohne etwas ausgerichtet zu haben. Vielmehr solle man alle Städte bis auf Syrakus und Selinus durch Herolde beschicken, auch die Sikeler zum Abfall von Syrakus zu bewegen, die unabhängigen auf seine Seite zu bringen suchen, um Lebensmittel und Soldaten von ihnen zu erhalten. Zunächst aber müsse man das unmittelbar an der Meerenge für eine Landung in Sizilien so günstig gelegene, auch als Hafenplatz und Stützpunkt für weitere Unternehmungen äußerst

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wertvolle Messene zu gewinnen suchen. Erst wenn man die Städte gewonnen und wisse, inwieweit man sie auf seiner Seite haben werde, sei eS dann an der Zeit, Syrakus und Selinus anzugreifen, falls dieses sich nicht mit Egesta ver­ tragen, jenes den Leontinern ihre Stadt nicht wieder ein­ räumen wolle.

Lamachos aber meinte, man müsse sich ohne weiteres gegen Syrakus wenden und baldmöglichst in der Nähe der Stadt eine Schlacht liefern, solange man dort darauf nicht vorbereitet und noch nicht wieder zur Besinnung gekommen sei. Im ersten Augenblick sei ein Heer immer am furchtbarsten. Warte man zu lange, ehe man sich blicken lasse, so fasse der Gegner wieder Mut, und auch der Anblick sei ihm nicht mehr so furchtbar. Wenn man also die Syraknser jetzt, solange sie noch in banger Erwartung seien, unversehens angreife, so habe man die meiste Aussicht, sie zu besiegen und sie sowohl durch den Anblick, der Masse, mit der man auftrete, als auch durch die Furcht vor dem, was ihnen bevorstehe, besonders vor der ihnen unmittelbar drohenden Schlacht, völlig aus der Fassung zu bringen. Wahrscheinlich seien viele von ihnen noch draußen auf dem Felde geblieben, weil sie nicht an die An­ kunft der Athener geglaubt; aber auch wenn sie ihre Habe in die Stadt geschafft, werde das Heer keinen Mangel leiden, wenn es sich nach dem Siege vor die Stadt lege. Um so eher würden dann auch die übrigen Griechen in Sizilien sich nicht ihnen, sondern den Athenern anschließen und nicht erst ab­ warten, wer von beiden die Oberhand behielte. Für den Fall eines Rückzugs müsse man das zurzeit unbesetzte Megara zum Standort für die Flotte machen, wohin es von Syrakus zu Wasser und zu Lande nicht weit sei.

Nachdem Lamachos sich in diesem Sinne geäußert, schloß er sich dann doch der Meinung des Alkibiades an. Alkibiades aber fuhr nun gleich mit seinem Schiffe nach Messene hinüber und verhandelte dort über ein Bündnis; als man darauf jedoch nicht einging, sondern erklärte, draußen wolle man den Athenern wohl einen Markt eröffnen, in die Stadt einlassen

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aber könne man sie nicht, fuhr er wieder ab nach Rhegion. Nun bemannten die Feldherren sofort sechzig, aus allen drei Geschwadern entnommene Schiffe, versahen sie mit Lebens­ mitteln und fuhren damit nach Naxos, während die übrige Flotte und einer von ihnen bei Rhegion zurückblieb. Von Naxos, wo sie in die Stadt eingelassen wurden, fuhren sie nach Katana und von da, wo man sie nicht einließ, weil eS dort manche mit Syrakus hielten, weiter an den Fluß Terias, wo sie übernachteten. Von hier gingen sie am folgenden Tage in Kiellinie nach Syrakus unter Segel. Sie schickten jedoch zehn Schiffe voraus, um in den großen Hafen einzulaufen und sich darnach umzusehen, ob schon Schiffe zu Wasser gelassen wären, und um dort nahe am Lande von Bord aus öffentlich aus­ rufen zu lassen, sie wären Athener und kämen, um die Leon­ tiner, ihre Bundesgenossen und Stammverwandten, in ihre Stadt zurückzuführen; die in Syrakus befindlichen Leontiner hätten also nichts zu fürchten und würden von den Athenern mit offenen Armen aufgenommen werden. Nachdem sie daS bekanntgemacht und sich die Stadt, die Häfen und das Gelände,, von wo der Angriff erfolgen mußte, angesehen hatten, fuhren sie wieder nach Katana zurück.

Unterdessen wurde in Katana eine Volksversammlung ge­ halten und beschlossen, das Heer nicht einzulassen, jedoch den Feldherren zu gestatten, in die Stadt zu kommen und ihr An­ liegen vorzubringen. Während nun Alkibiades dort redete und die Einwohner durch die Volksversammlung in Anspruch genommen waren, erbrachen die Soldaten ein schlecht einge­ bautes Mauerpförtchen, drangen in die Stadt und erschienen auf dem Markte. Als die nicht sehr zahlreichen Anhänger der Syrakuser in Katana das eingedrungene fremde Kriegs­ volk erblickten, gerieten sie so in Schrecken, daß sie sich gleich aus dem Staube machten, die anderen aber beschlossen, sich mit den Athenern zu verbünden, und forderten sie auf, auch ihre übrige Kriegsmacht von Rhegion kommen zu lassen. Hierauf brachen die Athener, nachdem ein Schiff die Meldung nach Rhegion gebracht, mit der ganzen Flotte von dort

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nach Katana auf und richteten hier, als sie angelangt, ihr Lager ein.

Da erhielten sie die Nachricht auS Kamarina, daß dieses, wenn sie dort hinkämen, wahrscheinlich zu ihnen übergehen würde, und daß die Syrakuser jetzt ihre Schiffe bemannten. Sie segelten also mit ihrer ganzen Flotte an der Küste entlang, zunächst nach Syrakus, und als sie hier nichts von bemannten Schiffen sahen, fuhren sie weiter nach Kamarina, hielten auf den Strand zu und knüpften durch einen Herold Verhand­ lungen an. Die Kamariner aber nahmen sie nicht auf, sondern erklärten, nach den bestehenden Verträgen hätten sie die Athener aufzunehmen, wenn sie mit einem Schiffe kämen, aber nicht, wenn sie eine große Flotte hinterherschickten. So fuhren sie unverrichteter Sache wieder ab und landeten an der syra­ kusischen Küste, wo sie sich ans Plündern machten. Als jedoch die syrakusische Reiterei gegen sie vorging und einige ver­ sprengte Leichtbewaffnete niederhieb, zogen sie wieder ab nach Katana.

Hier trafen sie die Salaminia, die von Athen gekommen war mit dem Auftrage, Alkibiades abzuberufen, um sich wegen der dort gegen ihn erhobenen Beschuldigungen zu verant­ worten, und mit ihm eine Anzahl seiner Leute, welche auch wegen Verspottung der Mysterien oder wegen Beteiligung an dem Hermenfrevel angegeben worden waren. Die Athener hatten nämlich, auch nachdem die Flotte abgefahren war, doch noch eine Untersuchung eingeleitet und ohne Rücksicht auf die Glaubwürdigkeit der Angeber jeder Verdächtigung Raum ge­ geben. Auch völlig unbeshcoltene Bürger hatten sie auf das Zeugnis schlechter Menschen hin ohne weiteres festgenommen und inS Gefängnis geworfen in der Meinung, es sei besser, die Sache zu untersuchen und aufzuklären, als wegen der Schlechtigkeit des Angebers einen auch anscheinend noch so rechtschaffenen Mann, den man bezichtigt, ohne Untersuchung laufen zu lassen. Denn das Volk, das immer gehört hatte und wußte, wie drückend die Herrschaft des Peisistratos und seiner Söhne schließlich geworden, und wie diese obendrein

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nicht mal durch Harmodios und die Bürger selbst, sondern durch die Lakedämonier gestürzt waren, lebte in beständiger Furcht und witterte überall Gefahren.

Der Tyrannenmord Harmodios' und AristogeitonS war nämlich durch eine Liebesgeschichte veranlaßt, auf die ich hier ausführlicher eingehen will, um zu zeigen, wie ungenau alles ist, was man auswärts und in Athen selbst über die Tyrannen und jenes Ereignis erzählt.

Nachdem Peisistratos als Tyrann in hohem Alter gestorben war, gelangte nicht Hipparchos, wie man gewöhnlich glaubt, sondern Hippias als ältester Sohn zur Regierung. i Harmodios war damals ein bildschöner, junger Mann und Aristogeiton, ein Bürger aus dem Mittelstande, sein begünstigter Liebhaber. Hipparchos, Peisistratos' Sohn, aber machte ihm auch Anträge, hatte damit jedoch kein Glück, und Harmodios verriet es dem Aristogeiton. Der aber, der das, leidenschaftlich verliebt, wie er war, sehr schmerzlich empfand und fürchtete, der mächtige Hipparchos möchte Gewalt gegen ihn gebrauchen, nahm sich gleich vor, alles dranzusetzen, um die Tyrannen zu stürzen. - Hipparchos, der auch mit erneuten Anträgen bei Harmodios keinen besseren Erfolg gehabt hatte und doch keine Gewalt gegen ihn gebrauchen wollte, legte es nun darauf an, ihm bei Gelegenheit in unauffälliger Weise, als ob es damit nichts zu tun hätte, einen Schimpf zuzufügen. Auch sonst nämlich machte er dem Volke gegenüber von seiner Macht keinen ge­ hässigen Gebrauch, sondern suchte jeden Anstoß zu vermeiden. Überhaupt gaben sich ja die Peisistratiden als Tyrannen alle Mühe, gut und verständig zu regieren; sie erhoben von den Athenern nur den Zwanzigsten vom Einkommen, führten ihre Kriege, verschönerten die Stadt und ordneten ihre Festfeiern. Auch im übrigen ließen sie es in Athen bei den bestehenden Gesetzen und sorgten nur dafür, daß immer einer von ihnen unter den Archonten war. Einer von diesen, welche das ein­ jährige Archontenamt in Athen bekleideten, war auch Peisi­ stratos, der den Namen seines Großvaters führende Sohn des Tyrannen Hippias, welcher als Archon den Altar der zwölf

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Götter auf dem Markte und den Altar deS Apollon beim Pythion weihte. Als später das athenische Volt den Altar auf dem Markte durch einen Anbau vergrößern ließ, ist die Inschrift daran verschwunden, an dem beim Pythion aber ist sie noch jetzt mit unleserlichen Buchstaben zu sehen und lautet: „Hippias' Sohn, der Archon Peisistratos, weihte dies Denkmal Phoibos dem pythischen Gott hier in des Tempels Bereich."

Daß aber Hippias der älteste war und zur Regierung gelangte, kann ich bestimmt behaupten, da ich darüber genauere Erkundigungen eingezogen habe als andere', wie denn dafür auch Folgendes sprechen dürfte. Offenbar nämlich war er der einzige unter seinen ebenbürtigen Brüdern, der Kinder hatte, wie dies der Altar und die zum Andenken an die Gewalt­ herrschaft der Tyrannen auf der Burg in Athen errichtete Säule beweist, an welcher weder Kinder des Thessalos noch des Hipparchos genannt werden, wohl aber fünf des Hippias, welche ihm von Myrrhine, der Tochter des Kallias, Hyperechides' Sohn, geboren waren. Wahrscheinlich hat dann doch der älteste zuerst geheiratet. Auch ist er an derselben Säule gleich nach seinem Vater ausgeführt, und auch das doch wahrshcein­ lich, weil er sein ältester Sohn war und nach ihm zur Regie­ rung kam. Vermutlich hätte auch Hippias sich in dem Augen­ blick nicht so leicht als Tyrann behaupten können, wenn Hipparchos, als er ermordet wurde, dies gewesen wäre und er sich erst an dem Tage dazu hätte auswerfen müssen. Eben weil die Bürger seine Macht und die Söldner seine strenge Zucht schon gewohnt waren, behauptete er seine Herrschaft mit voller Sicherheit und nicht wie ein jüngerer Bruder, der sich nicht zu helfen weiß, weil er dabei nicht hergekommen. Da aber Hipparchos durch sein trauriges Ende so berühmt wurde, glaubte man später, er sei damals auch Tyrann gewesen.

Also, um auf Harmodios zurückzukommen, Hippias fügte diesem, weil er ihm nicht zu Willen gewesen war, den ihm zugedachten Schimpf zu. Man wies nämlich seine Schwester, eine Jungfrau, nachdem man sie erst aufgefordert, bei einem

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Festzuge einen Korb zu tragen, nachträglich mit dem Bemerken zurück, man habe sie gar nicht aufgefordert, da ihr das nicht zukomme. Harmodios empfand das als eine schwere Kränkung, und seinetwegen wurde nun auch Aristogeiton vollends Gift und Galle. Die verabredeten alles mit ihren Mitverschworenen, warteten aber die großen Athenäen ab, den einzigen Tag, wo es kein Aufsehen erregte, wenn die Bürger beim Festzuge alle bewaffnet erschienen. Sie selbst sollten den Anfang machen, die übrigen aber gleich bei der Hand sein, mit ihnen über die Leibwache herzufallen. Die Zahl der Verschworenen war nicht groß, der Sicherheit wegen; sie rechneten nämlich darauf, wenn nur erst ein paar mutig vorangingen, so würden sich auch die Uneingeweihten, da sie ja Waffen hätten, von selbst am Kampfe für ihre Freiheit beteiligen.

Als das Fest herangekommen und Hippias auf dem so­ genannten Topfmarkte vor der Stadt inmitten seiner Leibwache eben damit beschäftigt war, den Festzug zu ordnen, schritten Harmodios und Aristogeiton, mit Dolchen bewaffnet, zur Aus­ führung ihres Planes. Da sie jedoch einen ihrer Mitver­ schworenen in vertraulichem Gespräch mit Hippias sahen, wie dieser eben für jedermann leicht zugänglich war, wurden sie bange und glaubten, sie seien verraten und würden jeden Augenblick verhaftet werden. An dem Manne aber, der sie beleidigt und um des willen sie das ganze Wagnis unternommen hatten, wollten sie sich womöglich vorher noch rächen, und so eilten sie, wie sie waren, durchs Tor in die Stadt hinein, trafen Hipparchos beim Leokorion, iselen, der eine aus Eifer- sucht, der andere wegen des ihm angetanen Schimpfes, voller Wut hinterrücks über ihn her und stachen ihn nieder. Aristo­ geiton gelang es zwar, zunächst im Volksgedränge vor der Leibwache zu entkommen, wurde aber später ergriffen und übel zugerichtet. Harmodios aber wurde gleich auf der Stelle niedergemacht.

AlS Hippias auf dem Topfmarkte die Nachricht erhielt, begab er sich nicht etwa an den Ort der Tat, sondern gradeS­ wegS zu den weiter hinten im Zuge befindlichen bewaffneten

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Bürgern, bevor die Nachricht dort hinten auch an sie gelangte. Ohne sich von dem Vorfall was merken zu lassen, befahl er ihnen, sich ohne ihre Waffen an einen von ihm bezeichneten Platz zu verfügen, was diese auch taten in der Meinung, er habe ihnen etwas zu sagen. Darauf befahl er seinen Tra­ banten, die Waffen wegzunehmen und ließ jeden, der ihm ver­ dächtig war oder den man im Besitz eines Dolches fand, ohne weiteres abführen. Bei den Festzügen erschien man nämlich regelmäßig nur mit Speer und Schild.

So war es gekränkte Liebe, was den ersten Anlaß zu der Verschwörung gab, und plötzliche Furcht, wodurch Harmodios und Aristogeiton zu dieser unbesonnenen Ausführung ihres Unternehmens bestimmt wurden. Seit der Zeit aber lastete die Herrschaft der Tyrannen schwerer auf den Athenern, und Hippias, der jetzt ängstlicher geworden war, ließ nicht nur viele Bürger umbringen, sondern sah sich zu seiner Sicherheit auch auswärts für alle Fälle nach Verbindungen um. Wenigstens gab er seine Tochter Archedike Aiantides, dem Sohne des Tyrannen Hippokles von Lampsakos, zur Frau, trotzdem er ein Athener und der nur aus Lampsakos war, weil er gehört, daß sie bei König Dareios großen Einfluß hätten. In Lamp­ sakos befindet sich ihr Grabdenkmal mit folgender Inschrift: „Diese Asche beschließt Archedike, Hippias' Tochter, Welchen Griechenland einst unter die besten gezählt. War sie auch Tochter und Gattin und Schwester und Mutter von Fürsten, Hat das ihr edeles Herz doch nicht zum Hochmut verführt." Noch drei Jahr behauptete sich Hippias in Athen als Tyrann, im vierten aber wurde er von den Lakedämoniern und den aus der Verbannung zurückgekehrten Alkmäoniden vertrieben. Nachdem man ihm freien Abzug gewährt, begab er sich erst nach Sigeion und dann zu Aiantides nach Lampsakos, von dort aber zum König Dareios, von wo er zwanzig Jahr später, schon hochbetagt, den Zug der Perser nach Marathon mit­ machte.

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Weil das athenische Volk hieran dachte und sich alles, was es davon gehört, ins Gedächtnis rief, war es damals so hart und argwöhnisch gegen die, welche wegen Verspottung der Mysterien beschuldigt wurden, und glaubte nicht anders, als daß es sich dabei um eine oligarchische Verschwörung oder um Einführung der Tyrannei gehandelt habe. Infolge der dadurch hervorgerufenen Erbitterung waren schon viele an­ gesehene Männer ins Gefängnis geworfen, und augenscheinlich ließ diese auch nicht nach, sondern wurde von Tag zu Tag größer, so daß die Verhaftungen kein Ende nahmen. Da ließ sich einer der Gefangenen, der für besonders verdächtig galt, durch einen Mitgefangenen bereden, ein Geständnis abzulegen, mit dem es nun seine Richtigkeit gehabt haben mag oder nicht. Das eine ist so gut möglich wie das andere; denn wer die wirklich Schuldigen gewesen, hat damals und später kein Mensch mit Sicherheit sagen können. Der stellte ihm vor, um sein Leben zu retten und der weiteren Schnüffelei in der Stadt ein Ende zu machen, müsse er, auch wenn er unschuldig sei, gegen Zusicherung von Straflosigkeit die Tat eingestehen. Denn wenn er sich durch sein Geständnis Straflosigkeit sichere, habe er eher Aussicht, mit dem Leben davonzukommen, als wenn er leugne und vor Gericht gestellt werde. Er gab denn auch sich und andere als die Urheber des Hermenfrevels an. Das Volk war über dies Geständnis, dem es vollen Glauben schenkte, hocherfreut, während es bis dahin sehr ungehalten gewesen war, daß man den Treibereien seiner Feinde nicht hatte auf die Spur kommen können. Der Angeber selbst und die übrigen Gefangenen, die er nicht mit angegeben hatte, wurden auch sofort auf freien Fuß gesetzt. Den von ihm Angegebenen aber machte man den Prozeß und ließ die Gefangenen hinrichten, die Entflohenen aber zum Tode verurteilen und einen Preis auf ihren Kopf setzen. Indessen stand es sehr dahin, ob die davon Betroffenen nicht mit Unrecht verurteilt waren; immer­ hin war es für die übrige Bevölkerung unter den damaligen Umständen eine Wohltat.