History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

Im nächsten Sommer lief der einjährige Waffenstillstand ab, und es war wieder Krieg bis zu den Pythischen Spielen. Noch während des Waffenstillstandes hatten die Athener die Bewohner von Delos zur Auswanderung ge­ zwungen. Sie glaubten nämlich, einer alten Schuld wegen wären diese nicht rein genug für die Heilige Insel, und die Reinigung, die sie, wie oben erzählt, früher ihrer Meinung nach durch Wegschaffung der Särge der Verstorbenen richtig vorgenommen hatten, sei insofern doch nicht genügend gewesen. Den Deliern bot Pharnakes Atramyttion in Asien zum Wohnsitz an, und soweit sie dazu geneigt waren, ließen sie sich dort nieder.

Kleon, der die Athener bewogen hatte, ihn mit einem Heere nach dem thrakischen Küstenlande zu schicken, ging nach Ablauf des Waffenstillstandes mit zwölfhundert athenischen Hopliten, dreihundert Reitern und zahlreichen Bundesgenossen mit dreißig Schiffen dahin unter Segel. Nachdem er zuerst Skione, das noch belagert wurde, angelaufen und von hier eine Anzahl der vor der Stadt liegenden Hopliten mitge­ nommen, landete er bei Torone in dem unweit der Stadt ge­ legenen Hafen Kophos. Da er von Überläufern erfahren, daß Brasidas selbst nicht in Torone wäre und die Besatzung zu schwach, um den Ort zu halten, rückte er mit dem Land­ heere vor die Stadt und ließ zehn Schiffe nach dem Hafen herumfahren. Er gelangte zuerst bis an die neue Mauer, mit welcher Brasidas die Stadt umgeben hatte, um die Vorstadt mit einzubeziehen, wobei ein Stück der alten Mauer niedergelegt und so das Ganze zu einer Stadt gemacht worden war.

Hier stellte sich der lakedämonische Befehlshaber Pasitelidas mit der in der Stadt vorhandenen Mannschaft auf, um den Angriff der Athener abzuschlagen. Da jedoch der Angreifer Fortschritte machte und gleichzeitig die abgesandten Schiffe in den Hafen herumkamen, fürchtete er, man könnte sich von den Schiffen aus der von Streitkräften entblößten Stadt inzwischen bemächtigen, er selbst aber, wenn die Mauer genommen würde. [*]( II )

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abgeschnitten werden, und zog deshalb spornstreichs wieder in die Stadt zurück. Unterdessen aber war Torone schon von den Athenern genommen, teils von den Schiffen aus, teils von dem Landheere, welches hinter ihm durch die Lücke der alten Stadtmauer sogleich mit eingedrungen war. Peloponnesier und Toroner wurden zum Teil gleich im Handgemenge von den Athenern niedergemacht, während die übrigen, darunter auch ihr Befehlshaber Pasitelidas, ihnen lebend in die Hände fielen. Brasidas war zum Entsatz von Torone aufgebrocken, als er jedoch unterwegs hörte, daß es bereits genommen sei, kehrte er wieder um; nur noch ungefähr vierzig Stadien, und er wäre zur rechten Zeit gekommen. Kleon und die Athener errichteten zwei Siegeszeichen, eins am Hafen, das andere an der Mauer; Weiber und Kinder in Torone verkauften sie als Sklaven, die Männer aber und die Peloponnesier und was sonst an Chalkidiern in der Stadt war, im ganzen iseben­ hundert, schickten sie nach Athen. Später beim Friedensschluß wurden die Peloponnesier von ihnen herausgegeben, die übrigen von den Olynthern übernommen und Mann gegen Mann aus­ gewechselt. Um dieselbe Zeit bemächtigten sich die Böotier Panaktons, eines festen Platzes an der athenischen Grenze, durch Verrat. Kleon ging von Torone, wo er eine Besatzung ließ, wieder in See und fuhr um den Athos, um sich gegen Amphipolis zu wenden.

Phaiax, Erasistratos' Sohn, war selbdritter als athenischer Gesandter um diese Zeit mit zwei Schiffen nach Italien und Sizilien abgegangen. In Leontinoi nämlich hatte man nach dem Frieden und dem Abzüge der Athener aus Sizilien viele neue Bürger aufgenommen, und das Volk verlangte eine neue Ackerverteilung. Als die vornehmen Bürger das merkten, riefen sie die Syrakuser zu Hilfe und vertrieben die Demo­ kraten, die seitdem aufs Geratewohl im Lande umherzogen. Die Vornehmen aber schlossen einen Vertrag mit den Syra­ kusern, infolgedessen sie ihre Stadt aufgaben und nach Syrakus übersiedelten, wo sie Bürgerrecht erhalten sollten. Später ver­ ließen einige von ihnen Syrakus wieder, weit es ihnen dort

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nicht gefiel, und bemächtigten sich in Leontinoi eines Stadtteils namens Phokaiai und des im Leontinischen belegenen Kastells Brikinniai. Hier schlossen sich die seinerzeit vertriebenen Demo­ traten ihnen größtenteils wieder an und machten diese festen Plätze zu Stützpunkten kriegerischer Unternehmungen. Als die Athener davon hörten, schickten sie Phaiax nach Sizilien, um zu versich en, ob man nicht die dortigen Bundesgenossen und womöglich auch die übrigen sizilischen Griechen zu einem ge­ meinsamen Feldzuge gegen das allzu mächtig werdende Syrakus bewegen und der Demokratie in Leontinoi wieder aufhelfen könnte. Auch gelang es Phaiax nach seiner Ankunft dort, Kamarina und Akragas für die Sache zu gewinnen. In Gela aber wollte man davon nichts wissen. Deshalb gab er es auf, noch andere Städte zu besuchen, die, wie er wohl merkte, ebensowenig dafür zu haben gewesen wären, sondern kehrte durch das Land der Sikeler nach Katana zurück, wo er, nachdem er unterwegs noch einen Abstecher nach Brikinniai gemacht und den Leuten dort Mut eingesprochen hatte, sich einschiffte und wieder abfuhr.

Auf der Fahrt nach Sizilien und jetzt wieder auf der Rück­ reise verhandelte er in Italien mit verschiedenen Städten über ein Bündnis mit Athen. Er traf auch die kürzlich aus Messene vertriebenen lokrischen Ansiedler, welche nach dem Abschluß deS Friedens unter den sizilischen Griechen, als eine Partei in Messene die Lokrer bei einem Aufstand zu Hilfe gerufen hatte, nach Messene geschickt worden waren, das darauf eine Zeit­ lang lokrifch geworden war. Mit ihnen also traf Phaiax auf ihrem Rückwege zusammen, machte ihnen aber keine Schwierig­ keiten, da die Lokrer sich inzwischen mit ihm über ein Bündnis mit Athen verständigt hatten. Sie waren nämlich die einzigen unter den Bundesgenossen, welche damals, als die sizilischen Griechen Frieden schlossen, sich auf keinen Vertrag mit den Athenern eingelassen hatten, und sie hätten das auch jetzt nicht getan, wenn sie nicht mit Itonern und Melaievn, ihren Nach­ barn und Kolonisten, im Kriege gewesen wären. Einige Zeit nachher kam Phaiax nach Athen zurück.

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Kleon unternahm damals auf jener Fahrt von Torone nach Amphipolis von Eion aus einen Angriff auf Stageiros, eine Kolonie von Andros, eroberte es aber nicht. Dagegen nahm er Galepsos, die Kolonie von Thasos, mit Sturm. Er schickte Gesandte an Perdikkas und forderte ihn auf, dem Bündnis gemäß mit seinem Heere zu ihm zu stoßen, und ebenso nach Thrakien an Polles, den König der Odomanter, der ihm möglichst viele thrakische Söldner zuführen sollte. Er selbst blieb einstweilen in Eion, um sie dort zu erwarten. Auf die Nachricht hiervon lagerte sich auch Brasidas ihm gegen­ über bei Kerdylion, einem argilischen Orte an der anderen Seite des Flusses, nicht weit von Amphipolis, von wo man die ganze Gegend übersehen konnte, so daß Kleon nicht un­ bemerkt mit seinem Heere hätte aufbrechen können. In der Tat erwartete Brasidas es nicht anders, als daß er das tun und angesichts der geringen Zahl des GegnerS schon mit seinem jetzigen Heere stromaufwärts gegen Amphipolis ziehen würde. Zugleich richtete er sich auf eine Schlacht ein, indem er fünfzehn­ hundert thrakische Söldner und die Edonen, Peltasten und Reiter, sämtlich an sich zog. An myrkinischen und chalkidischen Peltasten hatte er außer denen in Amphipolis tausend, an schwerem Fußvolk alles in allem etwa zweitausend Mann, dazu dreihundert griechische Reiter. Davon hatte Brasidas in seinem Lager bei Kerdylion gegen fünfzehnhundert selbst bei sich, die übrigen standen unter Klearidas in Amphi­ polis.

Kleon rührte sich indes eine Zeitlang nicht von der Stelle, sah sich dann aber schließlich doch gezwungen, zu tun, was Brasidas erwartet hatte. Denn seine Leute murrten über das lange Stillsitzen und hielten sich darüber auf, was bei seiner ungeschickten und schwächlichen Führung einem so erfahrenen und kühnen Gegner gegenüber aus der Sache werden solle, wie sie auch nur ungern mit ihm zu Felde gezogen wären. Als er das merkte, brach er auf, um sie durch längeres Still­ sitzen nicht noch unzufriedener zu machen, und setzte sich in Marsch. Er rechnete dabei auf ebenso glücklichen Erfolg wie

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bei der Unternehmung gegen Pylos, worauf er sich so viel zu­ gute tat. Daß man sich ihm zur Schlacht stellen würde, dachte er gar nicht. Nur um eine Übersicht über die Gegend zu ge­ winnen, sagte er, begäbe er sich stromaufwärts, und wartete auf Verstärkungen. Aber für den Fall, daß er schlagen müsse, eine günstige Stellung zu wählen, hielt er nicht für nötig, meinte vielmehr, die Stadt einfach einschließen und mit Sturm nehmen zu können. Bei Amphipolis angelangt, ließ er sein Heer auf einer abschüssigen Höhe haltmachen und betrachtete sich selbst die sumpfige Niederung am Strymon und die Lage der Stadt nach Thrakien hin. Dabei glaubte er, jeden Augen­ blick ohne Schwertstreich wieder abziehen zu können; denn auf der Mauer ließ sich niemand sehen, und ebensowenig kam vor den Toren jemand zum Vorschein, die alle verschlossen blieben. Deshalb bedauerte er schon, kein Sturmzeug mitgebracht zu haben, sonst hätte er ja die von Truppen entblößte Stadt gleich nehmen können.

Sobald Brasidas die Athener sich in Bewegung setzen sah, brach er ebenfalls von der Höhe bei Kerdylion auf und rückte mit seinem Heere in Amphipolis ein. Aus der Stadt zu kommen und den Athenern in Reih und Glied entgegenzutreten, wagte er nicht, weil er seinen Truppen nicht traute, die er den Athenern nicht für gewahcsen hielt, nicht an Zahl, denn die war einiger­ maßen gleich, wohl aber an Güte; denn ihr Heer bestand aus athenischen Kerntruppen und den besten Leuten auS Lemnos und Jmbros. Dagegen dachte er ihnen durch List beizukommen. Er glaubte nämlich, wenn er den Gegnern seine Truppen nicht vorher zeigte, eher Aussicht zu haben, sie zu besiegen, als wenn er ihnen schon vorher Gelegenheit gegeben, sich mit eigenen Augen von der Zahl und der nur notdürftigen Bewaffnung seiner Leute zu überzeugen. Er wählte sich also selbst hundert­ funfzig Hopliten aus und übergab die übrigen Klearidas in der Absicht, die Athener, bevor sie abzögen, unversehens an­ zugreifen, weil er glaubte, wenn sie erst ihre Verstärkungen erhalten, würde er sie schwerlich wieder so allein zu fassen kriegen. Er rief deshalb alle seine Soldaten zusammen, um

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sie zu ermutigen und sie über seine Absicht aufzuklären, und redete sie also an:

„Peloponnesier! Aus was für einem Lande wir kommen, daß dies Land von jeher die Freiheit seiner Tapferkeit ver­ dankt, und daß ihr Dorier jetzt gegen Jonier kämpfen sollt, die ihr zu besiegen gewohnt seid, brauche ich nur eben anzu­ deuten. Aufklären aber will ich euch darüber, wie ich den Angriff zu machen beabsichtige, damit ihr mir nicht meint, wir wären zu schwach, weil wir nur zu wenigen und nicht gleich alle ins Gefecht gehen, und deshalb den Mut sinken laßt. Unsere Gegner, die sich vermutlich nur, weil sie uns verachten und gar nicht darauf rechnen, daß man eS im freien Felde mit ihnen aufnehmen würde, bis hierher verstiegen haben, halten keine Ordnung und haben auch jetzt nichts Besseres zu tun, als sich die Gegend zu besehen. Wenn man auf solche Fehler des Gegners gut acht gibt und dann auch seinen An­ griff mit Rücksicht auf die eignen Kräfte einrichtet, nicht gleich seine ganze Macht einsetzt, sondern die Umstände geschickt zu benutzen weiß, hat man die beste Aussicht, ihn zu besiegen. Und je besser man versteht, die Feinde durch List zu täuschen und den Seinigen dadurch Vorteile zu vershcaffen, um so größer der Ruhm. Darum will ich, solange sie noch arglos und unvorbereitet sind und, wie es mir vorkommt, überhaupt nicht standhalten, sondern wieder abziehen wollen, bevor sie zur Be­ sinnung kommen und ihren Schlachtplan machen, mit meinen Leuten hier über sie herfallen und im Sturmschritt womöglich mitten in ihr Heer dringen, und du, Klearidas, mußt dann, sobald du siehst, daß ich ihnen auf der Kappe bin und sie gehörig in Schreck gesetzt habe, plötzlich das Tor öffnen lassen und mit deinen Leuten und den Mannschaften aus Amphi­ polis und den anderen Bundesstädten vorbrechen und so schnell wie möglich handgemein mit ihnen zu werden suchen. Denn so haben wir die beste Hoffnung, sie in die Flucht zu schlagen. Denn ein unerwarteter zweiter Angriff ist für den Feind schrecklicher als ein Kampf, in dem er sich dem Gegner von vornherein Mann gegen Mann gegenübersieht. Du selbst

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hatte dich brav, wie es einem Spartaner ziemt, und ihr, wackere Bundesgenossen, folgt eurem Führer mutig nach und glaubt nur, daß williger und pünktlicher Gehorsam gegen die Vorgesetzten die erste Bedingung glücklichen Erfolgs im Kriege ist. Bedenkt auch, daß es sich heute entscheiden wird, ob ihr dank eurer Tapferkeit hinfort frei sein und Bundesgenossen der Lakedämonier heißen, oder den Athenern gehorchen sollt und, wenn es dann auch ohne Sklaverei und Hinrichtungen abgeht, jedenfalls einer drückenderen Knechtschaft als bisher verfallen und die Befreiung der übrigen Griechen verhindern werdet. Also nur Mut, und denkt daran, was heute auf dem Spiel steht. Ich aber werde euch zeigen, daß ich nicht nur anderen Mut predigen, sondern auch selbst mutig meinen Mann stehen kann."

Nach diesen Worten machte Brasidas selbst sich zum Aus fall fertig und stellte die übrigen Truppen unter Klearidas am sogenannten Thrakischen Tore auf, aus dem sie nahcher seiner Anordnung gemäß vorbrechen sollten. Nun hatte man bemerkt, daß Brasidas von Kerdylion abgezogen und jetzt, wie man von draußen sehen konnte, in der Stadt zu Gange war und am Tempel der Athena opferte. Kleon hatte sich zur Be­ . obachtung des Gegners in die Nähe der Stadt begeben, und hier wurde ihm gemeldet, daß das ganze feindliche Heer in der Stadt auf den Beinen sei und nach der Menge der Menshcen- und Pferdefüße, die man unter dem Tore durch sehen könne, offenbar ein Ausfall beabsichtigt werde. Auf die Meldung ging er selbst bis dicht an das Tor, und nachdem auch er sich davon überzeugt, ließ er, weil er vor Ankunft seiner Verstärkungen keine Schlacht liefern wollte und sie durch seinen Abzug noch vermeiden zu können glaubte, das Zeichen zum Rückzüge geben und befahl, wie das auch allein möglich war, vom linken Flügel in der Richtung nach Eion abzu­ marshcieren. Als es ihm damit zu langsam ging, schwenkte er selbst mit dem rechten Flügel ab und setzte sich, indem er dem Feinde die offene Flanke bot, mit dem Heere in Marsch. Sobald Brasidas sah, daß eS an der Zeit und daS feindliche

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Heer sich in Bewegung setzte, rief er seinen Leuten und den übrigen zu: „Die Kerls halten nicht stand; man sieht das an der Bewegung ihrer Speere und Köpfe, wo eS dazu kommt, will man dem Gegner nicht standhalten. Jetzt also daS bezeichnete Tor auf und, was wir können, hinaus und dem Feinde zu Leibe!" Damit stürmte er durch das nach den Palisaden führende und das erste Tor der damaligen langen Mauer auf dem graden Wege, da, wo jetzt oben daS Sieges­ zeichen steht, in vollem Lauf hinaus und mitten hinein in die Haufen der infolge ihrer Unordnung und durch die Kühnheit des Feindes erschreckten Athener und trieb sie in die Flucht. Gleichzeitig brach Klearidas, wie ihm befohlen, auS dem Thra­ kischen Tore vor und warf sich auf das feindliche Heer, so daß die plötzlich von zwei Seiten angegriffenen Athener vollends in Verwirrung gerieten. Ihr linker Flügel auf der Straße nach Eion, der schon etwas voraus war, suchte gleich in wilder Flucht das Weite. Da dieser schon das Feld geräumt hatte, warf Brasidas sich auf den rechten Flügel, wurde dabei aber selbst verwundet. Die Athener bemerkten nicht, daß er gestürzt war, die Seinigen aber hoben ihn auf und trugen ihn weg. Der rechte Flügel der Athener hielt besser stand. Kleon freilich, der ja von vornherein an kein Standhalten gedacht hatte, nahm gleich Reißaus, wurde aber von einem myrkini­ schen Peltasten eingeholt und niedergemacht. Seine Hopliten aber zogen sich enggeschlossen auf die Anhöhe, schlugen Klea­ ridas' Angriffe zwei- bis dreimal ab und wichen nicht eher vom Platze, bis die myrkinische und chalkidische Reiterei und die Peltasten von allen Seiten auf sie eindrangen und sie mit ihren Speerwürfen zum Weichen brachten. So war nunmehr das ganze Heer der Athener in die Flucht geschlagen, und was davon nicht gleich auf dem Schlachtfelde geblieben oder von der chalkidischen Reiterei und den Peltasten niedergemacht war, gelangte auf vershciedenen Wegen durch die Berge mit Mühe und Not wieder nach Eion. Die Gefährten des Bra­ sidas, die ihn vom Schlachtfelde aufgehoben, hatten ihn noch lebend in die Stadt gebracht. Auch hörte er noch, daß die
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Seinigen gesiegt, gab aber bald nahcher den Geist auf. DaS übrige Heer unter Klearidas nahm nach der Rückkehr von der Verfolgung den gefallenen Feinden die Rüstungen ab nnd er­ richtete ein Siegeszeichen.

Darnach wurde Brasidas von sämtlichen Bundesgenossen mit kriegerischen Ehren auf öffentliche Kosten in der Stadt, dem jetzigen Marktplatze gegenüber, bestattet. Später wurde sein Grabmal dort eingefriedigt. In Amphipolis bringt man ihm jetzt als Heros Totenopfer und hat ihm zu Ehren Kampf- spiele und jährliche Totenopser eingeführt. Von nun an be­ trachtete man ihn als Gründer der Kolonie, riß Hagnons Bauten nieder und beseitigte alles, was an ihn als Gründer der Stadt erinnern konnte, teils weil man Brasidas wirklich als den Retter der Stadt ansah, teils weit man unter den damaligen Verhältnissen aus Furcht vor den Athenern auf daS Bündnis mit den Lakedämoniern den höchsten Wert legte, während man sich bei der Feindschaft mit Athen von einer weiteren Verehrung Hagnons nicht die gleichen Vorteile ver­ sprach und wohl überhaupt nichts mehr davon wissen wollte. Den Athenern gab man ihre Toten heraus. Athener waren gegen sechshundert gefallen, auf seiten ihrer Gegner nur sieben, weil man nicht in Reihe und Glied, sondern unter so günstigen Umständen gegen einen im Grunde schon geschlagenen Feind gefochten hatte. Nach Bestattung der Toten fuhren die Athener nach Hause, Klearidas aber und seine Truppen richteten sich in Amphipolis ein.

Um dieselbe Zeit gegen Ende des Sommers führten die Lakedämonier Rhamphias, Antocharidas und EpikydidaS neun­ hundert Hopliten als Nachschub nach dem thrakischen Küsten­ lande. Sie kamen bis Herakleia, wo sie die dort von ihnen vorgefundenen Mißstände abstellten. Während ihres dortigen Aufenthalts wurde die Schlacht geschlagen, und damit ging der Sommer zu Ende.

Gleich im Beginn deS WinterS hatte RhamphiaS mit seinen Leuten seinen Marsch bis an daS Gebirge Pierien in Thessalien fortgesetzt. Da die Thessaler sie nicht durchlassen

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wollten, auch Brasidas, zu dem sie ja stoßen sollten, inzwischen gestorben war, kehrten sie wieder nach Hause zurück. Auch hatte die Sache ihrer Meinung nach jetzt keinen Zweck mehr, da die Athener nach ihrer Niederlage abgezogen waren, sie aber zu weiteren Unternehmungen, wie sie Brasidas im Sinne gehabt, nicht fähig gewesen wären. Hauptsächlich aber kehrten sie um, weil sie wußten, daß die Lakedämonier schon damals, als sie auszogen, gern Frieden geschlossen hätten.

Gleich nach der Schlacht bei Amphipolis und dem Rück­ züge des Rhamphias aus Thessalien zeigte sich denn auch, daß beide Teile des Krieges müde waren und sich nach Frieden sehnten. Die Athener, die bei Delion und bald darauf zum zweiten Male bei Amphipolis geschlagen waren, trauten ihrer Macht nicht mehr so wie früher, wo sie sich auf keinen Ver­ trag einlassen wollten und bei den damaligen Erfolgen als Sieger aus dem Kriege hervorzugehen glaubten. Zudem fürchteten sie, infolge jener Niederlagen könnten ihnen ihre Bundes­ genossen aufsässig werden und immer mehr von ihnen abfallen. Sie bereuten deshalb, daß sie nach den Kämpfen bei Pylos keinen Frieden geschlossen, wo sich ihnen dazu die günstigste Gelegenheit geboten hatte. Für die Lakedämonier wiederum hatte der Krieg, in dem sie die Macht der Athener durch Ver­ heerung ihres Landes in wenig Jahren vernichten zu können meinten, einen unerwarteten Verlauf genommen; sie hatten auf der Insel eine Niederlage erlitten, wie sie Sparta noch nie erlebt, ihr Land wurde von Pylos und Kythera aus durch Streifzüge verheert, die Heloten liefen ihnen weg, und sie mußten immer darauf gefaßt sein, daß die im Lande Gebliebenen sich durch die Ausgetretenen verführen lassen würden, sich wie früher auch jetzt wieder zu empören. Dazu kam, daß ihr dreißigjähriger Friede mit Argos zu Ende ging, und daß die Argeier sich zu dessen Verlängerung nur verstehen wollten, wenn man ihnen die Landschaft Kynosuria abträte. Gleich­ zeitig gegen Argos und Athen Krieg zu führen, hielten sie aber nicht für möglich. Auch hatten sie mehrere peloponnesische

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Städte in Verdacht, sie würden zu den Argeiern übergehen, wie es dann ja auch wirklich kam.

Aus solchen Erwägungen wünschten beide, daß es zum Frieden käme, besonders die Lakedämonier, denen sehr daran lag, ihre Gefangenen von der Insel zurückzuerhalten; denn unter diesen befanden sich die ersten Spartiaten und Angehörige der besten Familien. Schon gleich nach der Gefangennahme hatten sie den Athenern Friedensanträge gemacht, diese aber, die damals in ihrem Glück noch zu hoch hinaus wollten, waren darauf nicht eingegangen. Nach ihrer Niederlage bei Delion aber hatten die Lakedämonier gleich gemerkt, daß sie jetzt schon eher smit sich reden lassen würden, und den einjährigen Waffen­ stillstand geschlossen, in welchem Bevollmächtigte beider Teile zusammentreten und über dessen Verlängerung verhandeln sollten.

Seitdem waren die Athener nun auch noch bei Amphi­ polis geschlagen und Kleon und Brasidas gefallen, die Männer, welche auf beiden Seiten die Hauptgegner des Friedens ge­ wesen waren, dieser, weil der Krieg ihm, dem glücklichen Feldherrn, Ruhm und Ehre brachte, jener, weil er fürchtete, in ruhigen Zeiten möchten seine schlechten Streiche eher anS Licht kommen und seine Lügen und Verdächtigungen nichts mehr verschlagen. Um so eifriger traten jetzt zwei Männer für den Frieden ein, welche beide in ihrer Heimat nach der Führerschaft tsrebten, Pleistoanax, der Sohn des Pausanias, König der Lakedämonier, und Nikias, Nikeratos' Sohn, ein damals besonders glücklicher Feldherr. Nikias, der bis dahin immer Glück gehabt hatte und in diesem Rufe stand, wollte sein Glück nicht aufs Spiel setzen und wünschte, nicht nur selbst keine schwere Zeiten mehr zu erleben, sondern auch seine Mitbürger davor zu bewahren und der Nachwelt den Namen eines Mannes zu hinterlassen, unter dem seiner Vaterstadt niemals ein Unglück zugestoßen sei. Zu dem Ende, glaubte er, müsse man sich vor Gefahren hüten und sich auf keine gewagten Unternehmungen einlassen, der beste Schutz vor Gefahren aber sei der Friede. Pleistoanax dagegen wurde

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seiner Zurückberufung wegen von seinen Gegnern angefeindet, die, so oft den Lakedämoniern ein Unglück zustieß, ihnen be­ ständig damit in den Ohren lagen, das komme davon, daß man ihn rechtswidrig zurückberufen habe. Sie gaben ihm nämlich schuld, mit seinem Bruder Aristokles die Priesterin in Delphi angestiftet zu haben, den Lakedämoniern, wenn sie das Orakel beschickten, immer wieder den Bescheid zu erteilen, sie sollten den vom Halbgotte, dem Sohne des Zeus, Ent­ sprossenen aus der Fremde wieder in ihr Land versetzen, sonst würden sie mit silberner Pflugschar pflügen, wodurch die Lake­ dämonier endlich bewogen seien, ihn vom Lykaion, wo er unter dem Verdacht, seinerzeit zum Abzüge auS Attika be­ stochen zu sein, als Verbannter lebte und aus Furcht vor den Lakedämoniern ein zur Hälfte im Heiligtume deS ZeuS befindliches Haus bewohnte, nach neunzehn Jahren unter Tänzen und Opfern zurückzuführen, so wie man bei der Besitz­ nahme von Lakedämon die ersten Könige eingesetzt hatte.

Aus Ärger über diese Anfeindungen und weil er glaubte, im Frieden, wenn die Niederlagen ein Ende und die Lakedämonier ihre Gefangenen wieder hätten, würden auch seine Feinde ihn wohl in Ruhe lassen, im Kriege aber alle Niederlagen natürlich immer der Regierung in die Schuhe geschoben werden, wünschte er dringend, daß es zum Frieden käme. Auch trat man noch in diesem Winter zu Verhand­ lungen zusammen, und um dabei auf die Athener einen Druck zu üben, rasselten die Lakedämonier schon gegen das Frühjahr wieder mit dem Säbel und gaben Befehle über Festungs­ bauten an die Bundesstädte aus. Nach längeren Verhand­ lungen, in denen von beiden Seiten eine Menge Forderungen geltend gemacht worden waren, kam man schließlich überein, daß beide Teile die im Kriege gemachten Eroberungen zurück- geben, die Athener jedoch im Besitz von Nisaia bleiben sollten, und daraufhin Frieden zu schließen. Als es sich nämlich dabei auch um die Herausgabe von Platää handelte, behaup­ teten die Thebaner, sie hätten den Ort nicht durch Gewalt oder Verrat gewonnen, sondern er sei ihnen freiwillig v«nt

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den Einwohnern übergeben, und ans demselben Grunde be­ anspruchten die Athener, Nisaia zu behalten. Hierauf riefen die Lakedämonier ihre Bundesgenossen zusammen, und da sie alle bis auf die Böotier, Korinth, Elis und Megara, die mit den Vereinbarungen nicht einverstanden waren, für den Frieden stimmten, nahmen sie ihn an und beshcworen ihn feierlich gegenüber den Athenern und diese gegenüber den Lakedämoniern, und zwar folgendergestalt:

„Die Athener und die Lakedämonier und ihre Bundes­ genossen haben Frieden geschlossen unter folgenden Bedingungen und ihn Stadt für Stadt beschworen.

Anlangend die gemeinsamen Heiligtümer, so soll jedem frei­ stehen, sie wie von alters her zu besuchen, dort zu opfern und die Orakel zu befragen und zu dem Zwecke Gesandte hin­ zuschicken, auch niemandem dabei ein Hindernis in den Weg gelegt werden, weder zu Lande noch zur See.

Das Heiligtum und der Tempel des Apollon in Delphi und ganz Delphi soll unabhängig sein mit dem Rechte der Selbst­ besteuerung und eigener Gerichtsbarkeit über Land und Leute wie von alters her.

Der Friede soll zwischen den Athenern und den Bundes­ genossen der Athener einerseits und den Lakedämoniern und den Bundesgenossen der Lakedämonier anderseits fünfzig Jahre ohne Gefährde unverbrüchlich gehalten werden zu Lande wie zur See.

Wegen vermeintlicher Ansprüche gegen den anderen Teil Waffengewalt anzuwenden oder sich List oder ähnlicher Mittel zu bedienen, soll weder den Lakedämoniern und deren Bundes­ genossen gegen die Athener und deren Bundesgenossen, noch den Athenern und deren Bundesgenossen gegen die Lake­ dämonier und deren Bundesgenossen gestattet sein, etwaige Streitigkeiten unter ihnen sollen vielmehr im Wege Rechtens ausgetragen werden. Die Lakedämonier und ihre Bundes­ genossen sollen Amphipolis den Athenern herausgeben, die Bewohner aller von den Lakedämoniern an die Athener heraus­ gegebenen Städte aber berechtigt sein, mit Hab und Gut ab­

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zuziehen, wohin sie wollen. Die nach dem Ansatz des AristeideS tseuernden Städte sollen unabhängig sein, die Athener aber und ihre Bundesgenossen ihnen nach Abschluß deS Friedens keine Truppen in feindlicher Absicht ins Land schicken, wenn sie die Steuer zahlen. Es sind dies Argilos, StageiroS, Akanthos, Skolos, OlynthoS und Spartolos. Sie brauchen sich keinem der beiden Bündnisse anzuschließen, weder dem Lakedämonischen noch dem Athenischen; wenn sie sich aber freiwillig dazu bereitfinden lassen, so dürfen die Athener sie als Bundesgenossen annehmen. In Mekyberne, Sane und Singos soll es bei der bestehenden Verfassung bleiben, ebenso wie in Olynthos und Akanthos. Die Lakedämonier und ihre Bundesgenossen sollen Panakton den Athenern, die Athener aber den Lakedämoniern Koryphasion, Kothera, Methone, Pteleon und Atalanta abtreten, auch alle Lakedämonier heraus­ geben, die sich in Athen oder sonstwo innerhalb ihres Macht­ bereichs in Kriegsgefangenschaft befinden. Auch sollen sie den in Skione belagerten Peloponnesiern und allen in Skione befindlichen, von Brasidas dahin geschickten Bundesgenossen der Lakedämonier freien Abzug gewähren und alle Bundesgenossen der Lakedämonier freilassen, die sich in Athen oder sonstwo innerhalb des Machtbereichs der Athener in Kriegsgefangen­ schaft befinden. Ebenso sollen auch die Lakedämonier und ihre Bundesgenossen alle Athener und deren Bundesgenossen freilassen, die sich bei ihnen in Gefangenschaft befinden. Mit Skione, Torone, Sermyle und den etwa sonst noch von ihnen er­ oberten Städten mögen die Athener nach Gutdünken verfahren. Die Athener und ihre Bundesgenossen sollen den Frieden den Lakedämoniern gegenüber Stadt für Stadt beschwören und die aus jeder Stadt Schwörenden den ortsüblich höchsten Eid leisten. Der Eid aber soll also lauten: Ich will den Vertrag und den Frieden gewissenhaft halten ohne Gefährde. In gleicher Weise sollen die Lakedämonier und ihre Bundes­ genossen den Athenern gegenüber schwören. Beide Teile haben den Eid alljährlich von neuem zu leisten.

Säulen sollen aufgestellt werden zu Olympia, Pntho, auf dem

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Isthmus, in Athen auf der Burg und im Amyklaion in Lake­ dämon.

Sollte einer von beiden Teilen hierbei etwas vergessen haben, so soll es beiden nach dem Eide unbenommen sein, das offen und ehrlich zur Sprache zu bringen, um, falls beide, Athener und Lakedämonier, damit einverstanden sind, in dieser Beziehung eine Änderung des Vertrags herbeizu­ führen."

Beim Friedensschluß hatte den Vorsitz der Ephor Pleistolas am vierundzwanzigsten Artemisios, in Athen der Archon Altaios am sechsundzwanzigsten Elaphebolion. Den Frieden beshcworen von seiten der Lakedämonier Pleistoanax, Agis, Pleistolas, Damagetos, Chionis, Metagenes, Akanthos, Dailthos, Jscha­ goras, Philocharidas, Zeuxidas, Antippos, Tellis, Alkidanas, Empedias, Menas und Laphilos, von seiten der Athener Lampon, Jsthmionikos, Nikias, Laches, Euthydemos, Prokles, Pythodoros, Hagnon, Myrtilos, Thrafykles, Theagenes, Aristo­ krates,Jolkios,Timokrates, Leon, Lamachos und Demosthenes.

Dieser Friede wurde geschlossen zu Ende des Winters gegen Frühlingsanfang gleich nach den städtischen Dionysien, grade zehn Jahre und ein paar Tage nach dem ersten Einfall in Attika und dem Ausbruch des Krieges. Nur muß man dabei auch die Jahreszeiten berücksichtigen und sich nicht bloß an die Namen der Archonten oder sonstigen Würdenträger halten, wonach in den einzelnen Orten bei geschichtlichen Er­ eignissen gerechnet wird. Denn das ist nicht genau genug, weil es auf den Zeitpunkt ankommt, an dem das Ereignis während ihres Amtsjahrs eingetreten ist, ob zu Anfang, in der Mitte, oder wann sonst. Zählt man aber nach Sommern und Wintern, wie ich es hier getan habe, so ergibt sich, da die beiden Hälften zusammen das Jahr ausmachen, daß in diesem ersten Abschnitt des Krieges zehn Sommer und eben­ so viel Winter verflossen waren.