History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

Noch in der Nacht brachen die Peloponnesier in aller Eile auf und machten sich an der Küste entlang auf den Rück­ weg. Bei Leukas zogen sie, um bei der Fahrt um die Insel

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nicht gesehen zu werden, ihre Schiffe über die Nehrung und kamen auch glücklich nach Hause. Als die Kerkyräer hörten, daß die athenische Flotte im Ansegeln nnd die feindliche ab­ gezogen sei, nahmen sie die Messenier, die bis dahin draußen gelegen hatten, in die Stadt auf und ließen die von ihnen be­ mannten Schiffe nach dem hylläischen Hafen herumfahren, töteten auch auf der Fahrt alles, was ihnen von Gegnern in die Hände fiel. Die Leute, welche sich auf ihr Zureden zum Schiffsdienst verstanden hatten, setzten sie wieder an Land und brachten sie um. Dann zogen sie nach dem Heratempel und überredeten etwa fünfzig der darin befindlichen Flüchtlinge, sich einem gerichtlichen Verfahren zu unterwerfen, und ver­ urteilten sie alle zum Tode. Die meisten aber, die sich dem nicht unterworfen hatten und nun sahen, wie es den anderen erging, brachten einander im Heiligtum um, erhängten sich an den Bäumen oder nahmen, so gut eben jeder konnte, sich selbst das Leben. Sieben Tage, solange Eurymedon nach seiner Ankunft mit den sechzig Schiffen dort blieb, währte das Morden der Kerkyräer gegen alle, welche ihrer Meinung nach in der Stadt zu ihren Gegnern gehörten. War es dabei zunächst nur auf diejenigen abgesehen, die den Sturz der Demokratie ver­ schuldet, so wurden doch auch manche aus Privatfeindschaft oder Gläubiger von ihren Schuldnern umgebracht. Ein grausiger Zug des Todes! Was immer bei solchen Gelegenheiten Ent­ setzliches vorzukommen pflegt, wurde hier womöglich noch über­ boten. Väter töteten ihre Söhne; die Menschen wurden von den Altären gerissen und an den Stufen niedergemacht. Einige mauerte man im Tempel des Dionysos ein und ließ sie darin verschmachten.

Zu solch wilder Wut artete der Parteikamps aus, und das machte damals um so tieferen Eindruck, weil es hier eigentlich zum erstenmal vorkam. Später ging es dann freilich in ganz Griechenland sozusagen drunter und drüber, da es überall Parteikämpfe gab, in denen die Führer der Volkspartei die Athener, die Oligarchen aber die Lakedämonier zu Hilfe riefen. Im Frieden hätte man dazu wahrscheinlich weder Veranlassung

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noch Neigung gehabt, jetzt aber, wo sie miteinander im Kriege lagen, bot sich in solchen Kämpfen beiden Parteien die beste Gelegenheit, sich auf diese Weise zur Unterdrückung der Gegen­ partei und zur Befestigung der eigenen Macht fremde Hilfe zu verschaffen. Es waren schwere Leiden, welche damit über die Städte hereinbrachen, Leiden, wie sie freilich in solchen Parteikämpfen je nach Umständen mehr oder weniger zu allen Zeiten vorgekommen sind und vorkommen werden, solange die menschliche Natur dieselbe bleibt. In Frieden und guten Tagen, wo die bittere Not noch nicht an sie herantritt, sind die Staaten wie die Menschen so böse nicht; wenn aber der Krieg sie in die harte Schule nimmt und ihnen ungewohnte Ent­ behrungen auferlegt, entfesselt er damit auch die Leidenschaften der Menge. Dieser beständige Parteikampf in den Städten, und was man von den Dingen hörte, die dabei früher schon vorgekommen, trug nicht wenig dazu bei, die Sinnesart der Menschen völlig umzuwandeln und dem Gegner gegenüber jede Art von Hinterlist und maßloser Rache für erlaubt zu halten. Selbst die gewöhnliche Bedeutung der Wörter änderte man nach Belieben. Unverschämtheit hieß Freiheit und Brüderlich­ keit, vernünftige Überlegung bloße Feigheit, der besonnene Mann war ein Hasensuß, der Bedächtige eine Schlafmütze, tolles Zufahren männlich, ruhiges Nachdenken nur ein Vor- wand, sich zu drücken. Wer auf alles schimpfte, war gesinnungs­ tüchtig, und wer ihm widersprach, verdächtig. Wem ein hinter­ listiger Streich gegen einen anderen geglückt war, galt für klug, für noch klüger aber der andere, der sich nicht hatte hinters Licht führen lassen, und wer sich auf dergleichen über­ haupt nicht einließ, war ein Duckmäuser und eine Bange­ büchse. Wer einem ihm zugedachten Streich zuvorkam oder jemand dazu anstiftete, einem anderen einen solchen Streich zu spielen, der wurde gerühmt. Die Partei war ein festeres Band als selbst die Verwandtschaft, weil bei ihr auf unbedingte Bereitwilligkeit zu jedem Wagnis zu zählen war. Solchen Verbindungen war es nicht um Förderung erlaubter Zwecke, sondern um gesetzwidrige Erweiterung ihrer Macht und ihres
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Einflusses zu tun; man verband sich nicht, um die göttlichen Gesetze zu halten, sondern um sie zu brechen. Versöhnliche Anerbietungen der Gegner nahm man an, wenn sie die Ober­ hand hatten, aber nicht auf Treu und Glauben, sondern nur gegen handfeste Sicherheit. Sich zu rächen, galt für ehren- voller, als sich nichts gefallen zu lassen. Eide, die man einander bei einer Aussöhnung etwa geleistet hatte, betrachtete man nur als einstweiligen Notbehelf und hielt sich dadurch nicht länger für gebunden, bis man anderweit wieder zu Kräften gekommen war. Wer sich dann zufällig zuerst wieder MannS genug fühlte, rächte sich an dem Gegner weit lieber in einem un­ bewachten Augenblick, wo er sich sicher fühlte, als in offenem Kampfe; denn dabei konnte er nicht nur gewisser auf Erfolg rechnen, sondern auch auf den Ruhm, den Gegner durch Schlauheit überlistet zu haben. Die meisten Menschen wollen aber lieber, daß man sie für gescheite Bösewichter als für ehrliche Dummköpfe hält; denn hierüber schämen sie sich, darauf aber tun sie sich was zugute. Schuld an alledem war das Umsichgreifen der Mächtigen und die Leidenschaft, womit sie den Kampf um die Herrschaft führten. Denn während die Häupter beider Parteien in den Städten die schönen Namen Gleichberechtigung aller oder gemäßigte Aristokratie im Munde führten und für das Wohl der Stadt zu kämpfen behaupteten, stritten sie in der Tat nur miteinander um die Herrschaft, schreckten dabei vor keinem Mittel zurück und übten ohne Rück­ sicht auf Recht und Gemeinwohl in fanatischer Parteiwut maßlose Rache an den Gegnern, die sie unbedenklich durch un­ gerechte Abstimmung verurteilen ließen oder mit Gewalt zu Boden schlugen. Gottesfurcht war ein leerer Wahn und jede unter hochtönenden Phrasen verübte Untat ein neuer Ruhmes­ titel. Diejenigen Bürger aber, die es mit keiner Partei hielten, wurden von beiden mißhandelt, teils weil sie nicht mitmachten, teils weil man ihnen nicht gönnte, daß sie un­ geschoren blieben.

So waren in Griechenland infolge der Parteikämpfe Hinter­ list und Tücke jederart im Schwange, redliche Einfalt aber.

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welche mit Adel der Gesinnung so eng zusammenhängt, wurde verlacht und war verschwunden. Fast überall standen sich die Parteien feindlich und mißtrauisch einander gegenüber. Auch die feierlichsten Versicherungen und furchtbare Eide änderten daran nichts; denn über Treu und Glauben war man längst erhaben. Einer traute dem anderen nicht über den Weg, und jeder mußte sehen, wie er sich selbst vor Schaden hütete. Und grade die geistig unbedeutenderen Persönlichkeiten behielten dabei meist die Oberhand; denn im Bewußtsein ihrer Schwäche und aus Furcht, von ihren überlegenen Gegnern auf der Rednerbühne aus dem Felde geschlagen oder durch deren größere Gewandtheit in die Falle gelockt zu werden, griffen sie lieber gleich zu Gewaltmaßregeln. Die anderen aber, die in ihrem Hochmut meinten, ihnen schon auf den Dienst passen und mit ihrer Klugheit auch ohne Gewalt auskommen zu können, waren nicht genug auf ihrer Hut und kamen darüber um so eher zu Fall.

1 Mit diesem Unfug machte man großenteils in Kerkyra den ersten Versuch, mag man nun auf die Handlungen der Rache sehen, welche sie an ihren Regenten verübten, die in dieser Stellung mehr Stolz und Übermut als kluge Mäßigung bewiesen und den Anfang mit harten Ahndungen machten; oder auf die ungerechten Maßregeln, wozu andere die Begierde, sich aus ihrer bisherigen Dürftigkeit zu reißen, oder vielmehr die Sehnsucht nach ihres Nächsten Eigentum verleitete, oder auf die unbändige Hitze, wodurch sich diejenigen, welche nicht in der Absicht, sich zu bereichern, sondern wirklich das Recht zu handhaben, jemandem zu Leibe gingen, hinreißen ließen, höchst grausam und unerbittlich mit ihnen umzugehen. Bei dieser allgemeinen Verwirrung in der Stadt, wo die Gesetze von den natürlichen Neigungen der Menschen, die schon gewohnt sind, auch bei wirklicher Gültigkeit der Gesetze doch dagegen zu sündigen, gänzlich besiegt wurden, zeigte sich's frei, daß der [*]( 1 Kap. 84 gilt schon lange als »neckt. Ich verzichte auf einen neuen Versuch, eS in lesbares Deutsch zu übertragen, und gebe dafür im Text die Heil­ mannscke Überschnnq. — Lemgo nun. )

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Mensch, so wie er von Natur beschaffen ist, nicht Meister über seine Leidenschaften sei, daß er sich nicht durch Begriffe von der Gerechtigkeit in Schranken halten lasse, und daß er keinen über sich leiden könne. Gewiß, man würde nicht die heiligsten Pflichten dem Vergnügen an der Rache, noch das Bewußtsein, niemand unrecht getan zu haben, zeitlichen Vorteilen aufopfern, wo nicht der Neid eine so schädliche Gewalt über die Menschen hätte. So aber pflegen die Menschen die allgemeinen Gesetze dieser Art, auf welche sich alle Hoffnung ihrer eigenen Rettung, wenn es ihnen mißlich geht, gründet, sobald es darauf an­ kommt, sich an anderen zu rächen, gänzlich aufzuheben und sich also selbst auf den Fall, daß sie etwan im Notstande der­ selben benötigt sein sollten, ihren Schutz entziehen.^

Hier also zum erstenmal wüteten die Kerkyräer in der Stadt mit solcher Leidenschaft gegeneinander; Eurymedon und seine Athener aber fuhren mit ihren Schiffen wieder ab. Später bemächtigten sich die kerkyräischen Flüchtlinge, deren gegen fünfhundert entkommen waren, einiger fester Plätze auf dem Festlande und damit der Herrschaft über das dortige städtische Gebiet, unternahmen von da Raubzüge nach der Insel und taten den Einwohnern vielen Schaden, so daß in der Stadt große Hungersnot entstand. Sie schickten auch nach Lakedämon und Korinth und baten, sie nach Kerkyra zurückzu­ führen. Als sie damit keinen Erfolg hatten, versahen sie sich bald nachher selbst mit Schiffen und Soldaten und setzten damit, im ganzen etwa sechshundert Mann, nach der Insel über. Damit ihnen nichts übrigbleibe als die Eroberung des Landes, steckten sie ihre Schiffe in Brand und zogen dann auf den Berg Jstone, wo sie eine Burg erbauten, von der sie die Stadt in Athem hielten und das platte Land beherrschten.

Gegen Ende desselben Sommers schickten die Athener zwanzig Schiffe unter Laches, Melanopos' Sohn, und Charriades, Euphiletos' Sohn, nach Sizilien. Die Syrakuser und die Leontiner waren nämlich miteinander im Kriege. Zu den Syrakusern hielten alle dorischen Städte mit Ausnahme von Kamarina, die sich ja auch gleich bei Beginn des Krieges dem [*]( I )

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Lakedämonischen Bunde angeschlossen, wenn auch bisher am Kriege nicht beteiligt hatten, zu den Leontinern aber Kamarina und die chalkidischen Städte. In Italien hielten es die Lokrer mit Syrakus, die Rhegier der Verwandtschaft wegen mit den Leontinern. Da die leontinischen Bundesgenossen zu Lande und zur See den Syrakusern gegenüber den kürzeren zogen, hatten sie Gesandte nach Athen geschickt und die Athener ge­ beten, ihnen als Joniern und alten Freunden Schiffe zu schicken. Die Athener schickten ihnen auch die Schiffe, und zwar angeb­ lich mit Rücksicht auf die alte Freundschaft, in der Tat aber, um die Getreidezufuhr von dort nach dem Peloponnes zu ver­ hindern und auch um vorläufig mal zu versuchen, ob sie die Hand nicht auf Sizilien legen könnten. Sie landeten bei Rhegion in Italien und beteiligten sich von hier aus am Kriege ihrer Bundesgenossen. Damit endete der Sommer.

Im folgenden Winter trat in Athen die Pest zum zweiten­ mal auf, die zwar niemals ganz aufgehört, aber doch eine Zeitlang erheblich nachgelassen hatte. Diesmal dauerte sie ein volles Jahr und das vorige Mal zwei Jahre, so daß die Macht der Athener durch nichts mehr geschwächt wurde als durch diese Krankheit; denn von der Mannschaft bei den Fahnen waren ihnen mindestens viertausend Hopliten und dreihundert Reiter, von der übrigen Bevölkerung aber Unzählige daran gestorben. Damals traten auch vielfach Erdbeben ein, in Athen, auf Euboia, in Böotien, besonders dem böotischen Orchomenos. -

Die Athener in Sizilien und die Rhegier unternahmen in diesem Winter mit dreißig Schiffen einen Zug nach den Aolischen Inseln, was im Sommer Wassermangels wegen nicht möglich war. Diese Inseln werden von Liparäern, knidischen Kolonisten, bebaut, die jedoch nur eine ziemlich kleine, namens Lipara, bewohnen, von wo aus sie auch die übrigen, Didyme, Strongyle und Hiera, bebauen. Die Leute dort glauben, auf Hiera sei die Schmiede des Hephaistos, weil man des NachtS eine Feuersäule und bei Tage Rauch von der Insel aufsteigen steht. Die Inseln liegen dem Lande der Sikeler und der

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Messenier gegenüber und waren damals mit Syrakus verbündet. Die Athener verwüsteten die Felder und fuhren darauf, da die Einwohner sich nicht ergeben wollten, nach Rhegion zurück. Damit endete der Winter und das fünfte Jahr deS Krieges, den Thukydides beschrieben hat.

Im folgenden Sommer wollten die Peloponnesier und ihre Verbündeten unter König Agis, Archidamos' Sohn, wieder nach Attika einfallen, kamen auch bis' auf den Isthmus, kehrten aber der vielen Erdbeben wegen wieder um, so daß aus dem Einfall nichts wurde. In dieser Zeit beständiger Erdbeben ergoß sich bei Orobiai auf Euboia eine mächtige Flutwelle aus der See, die vorher zurückgewichen war, über einen Teil der Stadt, wobei das Wasser zum Teil die Stadt verschlang, zum Teil wieder zurückströmte, so daß dort jetzt See ist, wo früher Land war. Auch viele Menshcen, die sich nicht schnell genug auf die Höhen retten konnten, kamen dabei ums Leben. Eine ähnliche Flut trat an der der Küste der opuntischen Lokrer gegenüberliegenden Insel Atalanta ein, durch welche ein Teil der athenischen Festungswerke weggerissen und von zwei auf den Strand gezogenen Schiffen eins zertrümmert wurde. Auch bei Peparethos wich die See etwas zurück, aber die Flutwelle trat dann doch nicht ein; dagegen zerstörte das Erdbeben einen Teil der Stadtmauer, das Prytaneum und eine Anzahl Häuser. Meiner Ansicht nach erklärt sich die Sache so, daß die Wassermasse da, wo der Erdstoß am stärksten ist, in der Richtung deS Stoßes aus der Lage gedrängt wird, dann aber zurück­ schnellt und sich mit um so größerer Gewalt über das Land ergießt. Daß so was auch ohne Erdbeben eintreten könnte, möchte ich nicht glauben.

In Sizilien gab es in diesem Sommer Krieg an allen Ecken und Enden; sowohl die dortigen Griechen unter sich als auch die Athener mit ihren Bundesgenossen standen im Felde. Ich erwähne nur das Wichtigste, was von den Athenern und ihren Bundesgenossen sowie von deren Gegnern gegen die Athener unternommen wurde. Der athenische Feldherr Char­ riades war im Kriege gegen die Syrakuser bereits gefallen.

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Laches, der jetzt den Oberbefehl über die ganze Flotte führte, zog nun mit den Bundesgenossen gegen die messenische Stadt Mylai. Die Besatzung von Mylai bildeten zwei Abteilungen Messenier, und diese hatten den von den Schiffen kommenden Feinden einen Hinterhalt gelegt. Die Athener und ihre Bundesgenossen aber schlugen die Leute aus dem Hinterhalt in die Flucht, töteten viele davon und zwangen dann die Gegner durch einen Angriff auf den Wall, die Burg vergleichsweise zu übergeben und mit ihnen gegen Messene zu fechten. Die Messenier aber mußten sich, als die Athener und ihre Ver­ bündeten ihnen darauf vor die Stadt rückten, ebenfalls ergeben, Geiseln stellen und sonstige Sicherheit gewähren.

In demselben Sommer schickten die Athener dreißig Schiffe unter Demosthenes, Alkisthenes' Sohn, und Prokles, Theodoros' Sohn, nach dem Peloponnes, und sechzig mit zweitausend Hopliten unter Nikias, Nikeratos' Sohn, nach Melos. Sie wollten nämlich die Melier, die sich auf ihrer Insel weder ihrer Herrschaft unterwerfen noch ihrem Bunde beitreten wollten, zum Anschluß zwingen. Da diese sich jedoch auch nach Verheerung ihres Landes dazu nicht verstanden, fuhren sie von Melos nach Oropos auf dem Festlande hinüber, wo sie bei Nacht landeten. Von da marschierten die Hopliten so­ gleich nach Tanagra in Böotien, wo das inzwischen aus der Stadt unter Hipponikos, Kallias' Sohn, und Eurymedon, Thukles' Sohn, auf ein gegebenes Zeichen zu Lande aufge­ brochene Hauptheer der Athener zu ihnen stieß. Bei Tanagra bezogen sie ein Lager, verheerten an dem Tage das Land und blieben dort auch über Nacht. Am folgenden Tage schlugen sie einen Ausfall der durch eine Anzahl Thebaner verstärkten Tanagräer siegreich zurück, erbeuteten die Waffen der Gefallenen und errichteten ein Siegeszeichen; darauf zogen sie wieder ab, die einen nach der Stadt, die anderen auf die Schiffe. Nikias mit seinen sechzig Schiffen kreuzte noch eine Zeitlang an der lokrischen Küste und richtete dort Verheerungen an, kehrte dann aber auch nach Hause zurück.

Um diese Zeit gründeten die Lakedämonier die Kolonie

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Herakleia in TrachiS, und zwar aus folgender Veranlassung. Die Melier im ganzen bestehen aus drei Teilen, den Paraliern, Hieräern und Trachiniern. Von diesen wollten die Trachinier nach einer im Kriege mit ihren Nachbarn, den Oitaiern, er­ littenen schweren Niederlage sich anfangs den Athenern an­ schließen, fanden das dann aber doch bedenklich und wandten sich deshalb um Hilfe nach Lakedämon, wozu sie Tisamenos als Gesandten wählten, dem sich zu gleichem Zweck eine Ge­ sandtschaft aus Doris anschloß, dem Mutterlande der Lake­ dämonier, wo man ebenfalls von den Oitaiern viel zu leiden hatte. Infolgedessen beschlossen die Lakedämonier, zum Schutz der Trachinier und der Dorier die Kolonie zu gründen. Zu­ gleich schien ihnen die Stadt dort für den Krieg mit den Athenern sehr gelegen, weil man dort unter Umständen eine Flotte ausrüsten und damit auf kürzestem Wege nach Euboia übersehen, aber auch Thrakien von da leicht erreichen könne. Kurz, sie hielten es für gut, den Platz zu besetzen. Zunächst befragten sie jedoch den Gott in Delphi, und da dieser zuriet, schickten sie Lakedämonier und Periöken als Kolonisten hinaus, stellten aber auch allen übrigen Griechen mit Ausnahme von Joniern, Achäern und einigen anderen Völkerschaften anheim, sich nach Belieben anzuschließen. Die Führung der Kolonie übernahmen die drei Lakedämonier Leon, Alkidas und Damagon. Nachdem sie sich dort niedergelassen, befestigten sie die Stadt von neuem, die jetzt Herakleia heißt und ungefähr vierzig Stadien von den Thermopylen und zwanzig von der See ent­ fernt ist. Sie richteten auch Lagerplätze für Schiffe ein, und zwar zuerst bei den Thermopylen selbst zur Sicherung des Passes.

Die Athener erfüllte die Gründung der Stadt anfangs mit Besorgnis, und sie meinten, daß eS wegen der Kürze der Überfahrt nach Kap Kenaion dabei hauptsächlich auf Euboia abgesehen sei. Es wurde aber damit doch nicht so schlimm, wie sie befürchtet: denn gefährlich ist sie ihnen nie geworden. Das kam davon, daß die thessalischen Machthaber jene Gegend und die Stämme, in deren Land die Kolonie geführt worden

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war, die Ankömmlinge aus Furcht, sie könnten ihnen über den Kopf wachsen, beständig schädigten und bekriegten und schließ­ lich nahezu aufrieben, so zahlreich sie anfangs auch gewesen waren; denn da die Gründung von den Lakedämoniern aus­ ging, hatte jedermann die Stadt für völlig sicher gehalten und sich unbedenklich dort niedergelassen. Freilich trugen auch die dortigen lakedämonischen Beamten wesentlich selbst die Schuld an dem Mißgeschick der Kolonie und dem Rückgange der Be­ völkerung, weil sie sich durch ihr herrisches Regiment verhaßt machten und lauter Dummheiten begingen, so daß es den Nachbarstämmen um so leichter wurde, die Kolonie unterzu­ kriegen.

In demselben Sommer um die Zeit, wo die Athener in Melos waren, hatten die Athener von den dreißig Schiffen am Peloponnes erst bei Ellomenos in Leukadien aus einem Hinter­ halt einen Teil der dortigen Besatzung niedergemacht; später erschienen sie dann vor Leukas mit größeren Kräften, den Akarnaniern, die sich ihnen mit Ausnahme der Oiniader mit ihrem Heerbann angeschlossen hatten, Zakynthiern, Kepha­ leniern und fünfzehn Schiffen aus Kerkyra. Die Leukadier kamen, obwohl ihr Land zu beiden Seiten der Landenge, auf der Leukas und der Tempel des Apollon liegt, verwüstet wurde, nicht heraus, weil sie sich der Übermacht nicht gewachsen fühlten. Die Akarnanier aber verlangten von Demotshenes, dem athenischen Feldherrn, er solle die Stadt durch eine Mauer einschließen, da sie glaubten, sie auf diese Weise leicht zu er­ obern und damit eine ihnen von jeher feindliche Stadt loszu­ werden. Zu gleicher Zeit schlugen ihm die Messenier vor, mit dem unter seinem Befehl vereinigten großen Heere doch gleich gegen die Atolier zu ziehen, die Feinde von Naupaktos, nach deren Unterwerfung es ihm ein leichtes sein würde, auch die übrige festländische Bevölkerung dort für Athen zu gewinnen. Die Atolier wären allerdings ein zahlreiches und kriegerisches Volk, führten aber nur leichte Waffen, wohnten auch in offenen, weit auseinanderliegenden Ortschaften, so daß man ise', ehe sie ihr Heer beisammen hätten, unschwer werde unterwerfen

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können. Ihrer Meinung nach müsse er sich zuerst gegen die Apodoter wenden, dann gegen die Ophioner und nach ihnen gegen die Eurytaner, welche den größten Teil der Bevölkerung Ätoliens bildeten, aber eine unverständliche Sprache sprächen und angeblich rohes Fleisch äßen.

Demosthenes ging den Messeniern zu Gefallen auf den Vorschlag ein. Er glaubte nämlich, auch ohne athenische Truppen mit den Bundesgenossen vom Festlande und dann noch durch die Htolier verstärkt zu Lande nach Böotien ziehen und durch das Gebiet der ozolischen Lokrer nach dem dorischen Kytinion und, dem ParnassoS zur Rechten, zu den Phokiern gelangen zu können, die sich ihm als alte Freunde der Athener wahrscheinlich anschließen würden, nötigenfalls dazu gezwungen werden müßten. Phokien aber grenzt schon an Böotien. Gegen den Wunsch der Akarnanier brach er dann auch mit dem ganzen Heere von Leukas auf und fuhr an der Küste entlang nach Sollion. Hier eröffnete er den Akarnaniern seinen Plan, und als diese darauf nicht eingingen, unternahm er seinerseits mit den übrigen Streitkräften, den Kephaleniern, Messeniern, Zakynthiern und den dreihundert Seesoldaten von der athe­ nischen Flotte - die fünfzehn Schiffe aus Kerkyra waren näm­ lich wieder abgefahren -, den Zug gegen die Ätolier. Von Oineon in Lokris setzte sich das Heer in Bewegung. Die ozolischen Lokrer dort waren Bundesgenossen der Athener und sollten sich mit ihrer ganzen Macht im Innern des Landes dem Zuge anschließen. Denn da sie Nachbarn der Htolier, wie diese bewaffnet, auch mit ihrer Kampfesweise und der Zärtlich­ keit vertraut waren, so erschien ihre Teilnahme daran von be­ sonderem Wert.

Er übernachtete mit dem Heere im Heiligtum des nemei­ schen Zeus, wo der Dichter Hesiodos, dem sein Tod in Nemea prophezeit worden war, von den Einwohnern erschlagen sein soll, und trat bei Tagesanbruch den Marsch nach Ältolien an. Gleich am ersten Tage nahm er Potidania, am zweiten Kroky­ leion, am dritten Trichion, wo er haltmachte und die Beute nach Eupalion in Lokris schickte. Er beabsichtigte nämlich,

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wenn er die übrigen Landesteile unterworfen, zunächst auf Naupaktos zurückzugehen und von da erst später gegen die Ophioner zu ziehen, wenn sie ihm bis dahin nicht von selbst kämen. Den Atoliern war sein Vorhaben von vornherein kein Geheimnis geblieben. Sobald das Heer ihnen ins Land ge­ fallen war, erschienen sie in hellen Haufen gleich alle im Felde, und selbst die Bomieer und Kallieer, ganz hinten aus dem Ophionerlande, deren Sitze sich bis an die Melische Bucht er­ streckten, hatten sich mit ihrer Mannschaft eingefunden.

Die Messenier aber blieben Demotshenes gegenüber noch immer bei ihrer früheren Meinung und stellten ihm vor, mit den Ätoliern könne er leicht fertig werden, er möge nur mög­ lichst schnell von Ort zu Ort ziehen und einen nach dem anderen einzunehmen suchen, bevor sie sich ihm mit vereinten Kräften entgegenstellten. Demotshenes glaubte ihnen auch und rechnete auf sein gutes Glück. Da sich kein Feind sehen ließ, rückte er, ohne die Lokrer abzuwarten, die er bei seinem Mangel an leichten Speerschützen grade sehr nötig gehabt hätte, vor Aigition und nahm es mit Sturm. Die Einwohner hatten sich nämlich davongemacht und in die Berge oberhalb der Stadt geflüchtet. Denn sie lag hoch am Gebirge, ungefähr achtzig Stadien von der See. Die Atolier aber, die inzwischen bereits auf Aigition marschiert waren, richteten nun ihre Angriffe auf die Athener und deren Verbündete, die sie von den Höhen her bald hier, bald dort anfielen und mit Speeren beschossen. Rückte das athenische Heer vor, so wichen sie aus; ging es zurück, so waren sie ihm auf den Fersen. Auf diese Weise schwankte der Kampf längere Zeit zwischen Verfolgung und Rückzug hin und her, und bei beidem waren die Athener im Nachteil.

Solange die Bogenschützen sich noch nicht verschossen hatten und von ihrer Waffe Gebrauch machen konnten, hielten die Athener stand; denn die Atolier, die keine Panzer hatten, wurden durch die Pfeile in Schach gehalten. Als jedoch der Führer der Bogenschützen gefallen war und diese zersprengt, sie selbst aber infolge der langen, unausgesetzten Anstrengung

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erschöpft wurden, auch die Ätolier nun auf sie eindrangen und mit Speerwürfen überschütteten, gaben sie schließlich Fersengeld und suchten daS Weite, wobei sie in unwegsame Schluchten und unbekannte Gegenden gerieten und große Verluste erlitten. Denn zu ihrem Unglück war auch ihr wegkundiger Führer, der Messenier Chromon, gefallen. Die flinken, leichtbewaffneten Ätolier aber mit ihren Speeren ereilten viele von ihnen gleich auf der Flucht und machten sie nieder; die meisten aber, die sich in einen Wald verirrt hatten, aus dem sie sich nicht wieder hinausfinden konnten, verbrannten sie, indem sie ringsherum Feuer anlegten. Unter allen Schrecken der Flucht und des Todes gelangten die Trümmer des athenischen Heeres mit ge­ nauer Not an die See und nach Oineon in Lokris, von wo man aufgebrochen war. Von den Bundesgenossen waren viele, von den Athenern selbst gegen hundertzwanzig Hopliten ge­ fallen. So viele grade ihrer besten Männer im kräftigsten Alter hatte die Stadt Athen auf diesem Feldzuge eingebüßt. Auch Prokles, der eine Feldherr, war geblieben. Nachdem sie unter dem ihnen von den Atoliern gewährten Waffenstillstands ihre Toten gesammelt hatten, zogen sie nach Naupaktos ab, von wo sie später zu Schiff nach Athen zurückkehrten. Demo­ sthenes aber blieb in Naupaktos und in jener Gegend, weil er sich nach den: unglücklichen Ausgange des Feldzugs vor den Athenern fürchtete.

Um dieselbe Zeit fuhren die Athener in den sizilischen Gewässern nach Lokris, schlugen bei einer Landung die Lokrer, die sich zur Wehr setzten, in die Flucht und eroberten eine Schanze am Flusse Hals.

In diesem Sommer erreichten es die Ätolier, die zu dem Ende schon früher den Ophioner Tolophos, den Erytaner BoriadeS und den Apodoter Tysandros als Gesandte nach Korinth und Lakedämon geschickt hatten, daß ihnen von dort Hilfe gegen Naupaktos geschickt wurde, weil dies die Athener ins Land gerufen. Die Lakedämonier schickten ihnen auch im Herbst dreitausend Hopliten aus den Bundesstaaten, darunter fünfhundert aus Herakleia, der damals in Trachis neugegrün­

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deten Stadt. Den Befehl darüber führten der Spartaner Eury­ lochos und neben ihm Makarios und Menedaios, beide eben­ falls Spartaner.