History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

Aber auch die Athener erhielten alsbald Nachricht vom Abfall der Städte, und als sie dann weiter hörten, daß Aristeus mit Truppen zu ihnen gestoßen sei, schickten sie vierzig Schiffe mit zweitausend athenischen Hopliten an Bord gegen die Auf­ ständischen ab, worüber Kallias, Kalliades' Sohn, selbfünfter " den Oberbefehl führte. Bei ihrer Ankunft in Makedonien trafen sie die ersten Tausend, welche Therme soeben erobert hatten und jetzt Pydna belagerten. Nun beteiligten auch sie sich an der Belagerung von Pydna, mußten sich aber bald zu einem Vergleich und Bündnis mit Perdikkas verstehen, weit Potidäa, wo Aristeus inzwischen angekommen war, ihnen auf den Nägeln brannte. Infolgedessen zogen sie aus Makedonien ab, kamen bis Beroia und von da bis Strepsa, von wo sie nach einem vergeblichen Versuch, sich der Stadt zu bemächtigen, zu Lande den Weg nach Potidäa fortsetzten, insgesamt drei­ tausend athenische Hopliten mit zahlreichen Bundesgenossen und sechshundert makedonische Reiter unter Philipp und Pausa­ nias. Die Flotte fuhr ihnen, sechzig Segel stark, längs der Küste zur Seite. Auch gelangten sie in drei kurzen Tagemärschen nach Gigonos, wo sie ein Lager aufschlugen.

Die Potidäer aber und die Peloponnesier unter Aristeus bezogen vor der Stadt auf der Landenge auf der Seite nach Olynth ebenfalls ein Lager und richteten dort einen Markt ein, um die Athener zu erwarten. Die Verbündeten hatten ihr gesamtes Fußvolk unter AristeuS' Befehl, die Reiterei aber unter den Befehl des Perdikkas gestellt. Der hatte sich nämlich von den Athenern gleich wieder getrennt und den Potidäern angeschlossen, die Regierung aber an seiner Statt dem IolaoS übertragen. Aristeus' Absicht war, mit den Truppen unter seinem unmittelbaren Befehl den Angriff der Athener auf der Landenge zu erwarten, während die Chalkidier und die übrigen Bundesgenossen von jenseits der Landenge mit den zweihundert

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Reitern deS Perdikkas in Olynth bleiben sollten, um den Athe­ nern im Falle eines Angriffs auf seine Stellung in den Rücken zu fallen und den Feind in die Mitte zu nehmen. KalliaS aber, der Anführer der Athener, und seine Mitfeldherren schickten ihrerseits wieder die makedonishcen Reiter zu ihrer Deckung gegen einen etwaigen Angriff von daher gegen Olynth vor und brachen dann selbst aus ihrem Lager gegen Potidäa auf. Als sie an die Landenge kamen und den Feind hier zur Annahme einer Schlacht bereit sahen, stellten sie sich ihm gegen­ über in Schlachtordnung, und nach kurzer Zeit kam eS zum Gefecht. Der Flügel des Aristeus mit den von ihm selbst befehligten Korinthern und anderen Kerntruppen brachte die ihm gegenüberstehenden Feinde zum Weichen und verfolgte sie eine Strecke weit. Das übrige Heer der Potidäer und Peloponnesier dagegen wurde von den Athenern geschlagen und flüchtete in die Stadt.

Aristeus, der die Verfolgung aufgegeben hatte, als er sein übriges Heer geschlagen sah, war anfangs zweifelhaft, wohin er sich wenden sollte, um sich aus der Gefahr zu ziehen, ob nach Olynth oder nach Potidäa, entschloß sich dann aber, seine Truppen möglichst eng zusammenzuziehen und sich mit ihnen im Sturmschritt nach Potidäa durchzuschlagen. Auch gelang es ihm, vom Hasendamme her durchs Wasser um die Stadt herumzukommen und, wenn auch beschossen und nur mit Mühe und nicht ganz ohne Verluste, das meiste in Sicher­ heit zu bringen. Die Truppen, welche von Olynth Potidäa, das etwa sechzig Stadien von Olynth entfernt und von dort sichtbar ist, zu Hilfe kommen sollten, setzten sich, als die Schlacht begann und die Signale hochgingen, eine kurze Strecke weit in Marsch, um in den Kampf einzugreifen, und um sie daran zu hindern, ritten die makedonishcen Reiter gegen sie auf. Als sich jedoch der Sieg so bald für die Athener entschied und die Signale verschwanden, zogen sie sich in die Stadt, die Makedonier aber auf die Athener zurück, so daß die Reiterei von keiner Seite ins Gefecht kam. Nach der Schlacht errich­ teten die Athener ein Siegeszeichen und gewährten den Poti­

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däern zur Bestattung ihrer Toten einen Waffenstillstand. Ge­ blieben waren auf seiten der Potidäer und ihrer Bundes­ genossen nicht ganz dreihundert, auf seiten der Athener hundert­ funfzig Bürger, darunter auch Kallias, ihr Feldherr.

Die Athener führten der Stadtmauer gegenüber auf der Seite nach der Landenge sogleich eine zweite Mauer auf und besetzten sie. Auf der Seite nach Pallene dagegen hatten sie keine Mauer. Denn sie fühlten sich nicht stark genug, um die Landenge be­ setzt zu halten und gleichzeitig nach Pallene hinüberzugehen und auch dort eine Mauer herzustellen, da sie im Fall einer solchen Teilung ihrer Kräfte einen Überfall der Potidäer und ihrer Verbündeten zu gewärtigen gehabt hätten. Als man aber in Athen hörte, daß auf der Seite von Pallene noch keine Mauer wäre, schickte man bald darauf sechzehn hundert athenische Hopliten unter Phormion, Asopios' Sohn, von dort noch nach. Der setzte sich nach seiner Ankunft auf Pallene von Amphytis, das er zum Stützpunkt nahm, mit seinem Heere in Bewegung und rückte, das Land beizu verwüstend, langsam gegen Potidäa vor und führte, als sich ihm niemand zur Schlacht stellte, auch auf der Seite von Pallene der Stadtmauer gegen­ über eine Mauer auf. So wurde Potidäa nunmehr zu Lande von beiden Seiten hart belagert, während es zugleich durch die Flotte von der See abgeschnitten war.

Nachdem die Stadt auf diese Weise eingesperrt war, hatte Aristeus keine Hoffnung auf Errettung, wenn nicht vom Pelo­ ponnes oder sonst woher wider Erwarten noch Hilfe käme. Er schlug deshalb vor, damit die Lebensmittel länger vorhielten, sollten alle bis auf fünfhundert beim ersten günstigen Winde die Stadt zu Schiffe verlassen, und erbot sich, selbst mit drin zu bleiben. Damit fand er jedoch keinen Anklang. Um trotzdem nichts zu versäumen und auch auswärts für die Stadt sein möglichstes zu tun, setzte er sich selbst in ein Schiff und ge­ langte damit unbemerkt durch die athenischen Posten. Während seines Aufenthaltes in Chalkidike beteiligte er sich dort mehrfach an kriegerischen Unternehmungen, insbesondere brachte er den Sermyliern durch einen ihnen in der Nähe ihrer Stadt gelegten

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Hinterhalt eine blutige Niederlage bei. Zugleich setzte er auch im Peloponnes alle Hebel in Bewegung, um von dort Hilfe zu erhalten. Unterdessen verheerte Phormion mit seinen sech­ zehnhundert Hopliten Chalkidike und Bottike und eroberte dort auch einige kleinere Plätze.

Dies aber wurde die zweite Veranlassung zum Kriege zwischen den Athenern und den Peloponnesiern, weil die Ko­ rinther den Athenern nicht vergeben konnten, daß sie ihre Pflanzstadt Potidäa und die darin befindlichen Korinther und Peloponnesier belagerten, die Athener aber sich dadurch gekränkt fühlten, daß die Peloponnesier eine steuerpflichtige Stadt ihres Bundes zum Abfall verleitet und mit den Potidäern offen gegen sie gefochten hatten. Förmlich ausgebrochen aber war der Krieg damit noch nicht, sondern das Schwert steckte einstweilen noch in der Scheide, denn bis dahin hatten die Korinther nur auf eigene Hand gehandelt.

Denen aber ließ die Belagerung von Potidäa keine Ruhe, nicht nur weil ihre Landsleute sich in der Stadt befanden, sondern auch weil sie sich selbst Sorge darüber machten. Sie luden auch gleich zu einer Versammlung nach Lakedämon ein, wo sie dann gegen die Athener, die Friedensbrecher, die sich gegen den Peloponnes jede Gewalttat erlaubten, gewaltig ins Zeug gingen. Auch die Ägineten, welche zwar aus Furcht vor den Athenern die Versammlung nicht offen beschickt hatten, hetzten dort unter der Hand um so eifriger zum Kriege, indem sie sich darüber beschwerten, daß man die ihnen vertragsmäßig gewährleistete Unabhängigkeit ihnen vorenthalte. Aber auch die Lakedämonier luden ihre Bundesgenossen und alle, die sich sonst über die Athener zu beshcweren hätten, zu einer ihrer regelmäßigen Versammlungen ein und forderten sie auf, ihre Beschwerden vorzubringen. Und da traten sie denn einer nach dem anderen auf, um sich zu beschweren, insbesondere beklagten sich die Megarer namentlich auch darüber, daß man ihnen vertragswidig die Häfen innerhalb des athenischen Macht­ bereichs und den attischen Markt verschlossen habe. Zuletzt traten die Korinther auf, die damit gewartet hatten, um die

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Lakedämonier durch die anderen erst scharf machen zu lassen, und redeten also:

„Ehrlichkeit in Politik und Verkehr versteht sich bei euch zu Lande so sehr von selbst, Lakedämonier, daß ihr immer un­ gläubig seid, wenn wir anderen uns über jemand beshcweren. Allerdings schützt euch das vor Übereilungen, ist aber doch auch wieder schuld daran, daß ihr über auswärtige Verhält­ nisse vielfach so schlecht unterrichtet seid. Wie oft haben wir euch vorhergesagt, was die Athener gegen uns im Schilde führten, aber niemals habt ihr es der Mühe wert gehalten, die Richtigkeit unserer Behauptungen ernstlich zu prüfen, weil ihr uns immer im Verdacht hattet, daß es nur kleinliche Sonder­ interessen seien, deretwegen man solche Rede führe. Deshalb habt ihr auch diesmal die Bundesgenossen nicht beizeiten zu­ sammenberufen, sondern erst jetzt, wo es ihnen bereits an den Kragen geht. Unter denen aber kommt es uns hier um so mehr zu, das Wort zu nehmen, je mehr grade wir Ursache haben, uns über den Übermut der Athener und über eure Gleichgültig­ keit zu beklagen. Wenn die Athener ihren Unfug in Griechen­ land im verborgenen getrieben hätten, dann müßte man frei­ lich denken, daß euch nichts davon bekannt geworden sei, und euch darüber belehren. Aber bedarf es jetzt noch langer Reden? Seht ihr doch selbst, wie sie die einen schon unterjocht haben und im Begriff sind, es mit anderen, und zwar grade unseren Bundesgenossen, ebenso zu machen, und auch für den Fall eines Krieges mit ihren Rüstungen längst fertig sind. Sonst hätten sie uns ja Kerkyra nicht mit Waffengewalt nehmen und Potidäa nicht belagern können, von denen dies für die Aus­ nutzung deS thrakischen Küstenlandes so günstig liegt, jenes aber den Peloponnesiern eine vortreffliche Flotte verschafft haben würde.

„Und daran seid ihr schuld; denn ihr habt sie nach den Perserkriegen erst ihre Stadt befestigen und dann die langen Mauern bauen lassen und damit nicht nur ihre bisherigen eigenen Untertanen, sondern jetzt auch eure Bundesgenossen für immer der Freiheit beraubt. Nicht wer die Ketten schmiedet,

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sondern wer das hindern kann und nicht hindert, ist der wirk­ lich Schuldige, mag er sich auch noch soviel darauf zugute tun, der Befreier Griechenlands zu heißen. Mit knapper Not sind wir hier jetzt wenigstens zusammengekommen, wissen aber immer noch nicht, wozu. Nicht darum handelt eS sich jetzt, erst lange zu untersuchen, ob man uns wirklich auf die Füße tritt, sondern darum, uns unserer Haut zu wehren. Denn unser Gegner weiß, was er will, und wird sich nicht lange besinnen, unS zu Leibe zu gehen. Wir kennen ja die Methode der Athener, Schritt für Schritt gehen sie gegen die anderen vor. Solange sie glauben, daß ihr mit eurem Fischblut kein Arg daraus habt, lassen sie sich Zeit; merken sie aber erst, daß ihr Bescheid wißt und sie doch gewähren laßt, so werden sie uns bald ganz anders kommen. Unter allen Griechen seid ihr Lakedämonier die einzigen, die sich dadurch in ihrer Ruhe nicht stören lassen. Statt dem Feinde die Zähne zu zeigen, meint ihr, es sei schon mit dem guten Willen genug, um ihn sich vom Leibe zu halten. Nur ihr laßt den Feind erst seine Kräfte verdoppeln, statt jeden Versuch dazu gleich im Keime zu ersticken. Es heißt freilich, auf euch könne man sich verlassen. Aber eure Taten sind nicht danach gewesen. Wir wissen noch, wie die Perser damals ihr Heer von den Enden der Welt schneller nach dem Peloponnes führten, als ihr eures glücklich auf die Beine brachtet. Auch jetzt wieder macht ihr euch um die Athener keine Sorgen, obgleich diese nicht wie die Perser hinten fern in Asien, sondern hier vor euren Toren wohnen. Statt dem Feinde zuerst zu Leibe zu gehen, meint ihr, euch auf die Ver­ teidigung beschränken zu können, um es im Kampfe mit einem so mächtigen Gegner schließlich auf gut Glück ankommen zu lassen. Bekanntlich haben sich die Perser ihre Niederlagen meist durch eigene Schuld zugezogen, und auch wir haben unsere gelegentlichen Erfolge den Athenern gegenüber ihren Fehlern, nicht etwa eurer Hilfe zu verdanken gehabt. Schon manchem, der sich nicht selbst vorgesehen, weil er sich auf euch verließ, ist das zum Verderben geworden. Glaubt nicht, daß wir das hier aus Feindschaft gegen euch sagen. O nein; es ist uns
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nur um die Wahrheit zu tun. Mit dem Feinde, der uns be­ leidigt, geht man ins Gericht; einem Freunde, der sich nur auf falschem Wege befindet, sagt man die Wahrheit.

„Jedenfalls halten wir uns so gut wie jeder andere für berechtigt, den Leuten offen zu sagen, was wir an ihnen aus­ zusetzen haben, zumal in einer so kritischen Lage, wo Interessen auf dem Spiel stehen, von deren Bedeutung ihr anscheinend keine Ahnung habt. Wahrscheinlich habt ihr noch nie daran gedacht, mit wem ihr es zu tun habt und wie sehr die Athener euch in vieler Beziehung überlegen sind. Bei ihnen macht man sich jede Erfindung gleich zunutze, hat immer neue Ideen und weiß sie sofort praktisch zu verwerten. Ihr dagegen hängt immer am Alten, habt überhaupt keine Ideen, und selbst das Notwendigste unterbleibt. Und weiter: Bei ihnen gilt nichts für unmöglich, sie wagen das Unglaubliche und lassen auch im Unglück den Kopf nicht hängen. Ihr dagegen meint immer, alles gehe über eure Kräfte; ist die Gelegenheit noch so günstig, habt ihr Bedenken, und wenn euch mal was fehlschlägt, gebt ihr gleich alles verloren. Sie die Tätigkeit selbst, hier alles Schlendrian; sie beständig unterwegs, ihr bleibt zu Hause; sie überzeugt, daß jede auswärtige Unternehmung sich bezahlt macht, ihr in ewiger Furcht, dabei wohl gar vom Kapital zuzusetzen. Einen Sieg wissen sie wohl auszunutzen und auch nach einer Niederlage dem Feinde immer noch an der Klinge zu bleiben. Für ihre Stadt lassen sie ihr Leben, als ob nichts daran ge­ legen wäre, und nur in der Hingebung an daS Vaterland er­ blicken sie ihr wahres Selbst. Jeden mißglückten Plan be­ trachten sie als ein persönlich zugefügtes Unrecht und jede ge­ lungene Unternehmung nur als den ersten Schritt zu neuen, größeren Erfolgen. Schlägt ihnen ein Unternehmen fehl, so haben sie gleich einen neuen Plan bei der Hand und hoffen damit das Loch wieder zu verstopfen. Nur bei ihnen ist, wo es was zu erreichen gilt. Hoffen und Haben schon dasselbe, weil bei ihnen daS Vollbringen dem Wollen auf dem Fuße folgt. So arbeiten sie sich unter Mühen und Gefahren Tag für Tag ab, ohne ihres Besitzes wirklich froh zu werden, weil

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sie immer noch mehr haben wollen. Außer der Erfüllung ihrer Pflicht kennen sie kein Vergnügen, und müheloses Nichtstun ist ihnen mehr zuwider alS angestrengte Arbeit. So könnte man nicht unzutreffend mit einem Worte sagen, sie seien dazu geschaffen, nie zur Ruhe zu kommen und andere nicht in Ruhe zu lassen.

„Solcher Stadt gegenüber, Lakedämonier, verzichtet ihr auf jede aktive Politik und wollt nicht glauben, daß man niemand lieber in Ruhe läßt als einen schlagfertigen Gegner, der selbst niemand zu nahe tritt, aber zeigt, daß er gegebenen­ falls den Krieg nicht fürchten wird. Ihr möchtet selbst niemand angreifen, aber einen feindlichen Angriff ohne Schaden bestehen können und dabei beidem zugleich gerecht werden. Aber daS wird euch schwerlich gelingen, selbst wenn eure Herren Nachbarn ebenso dächten. Augenblicklich sind, wie schon gesagt, eure Ein­ richtungen ihnen gegenüber völlig veraltet. Wie in technischen Betrieben, so läuft man mit den neuesten Erfindungen anderen eben überall den Rang ab. In Zeiten politischen Stillebens hat es ja viel für sich, an den bestehenden Einrichtungen nicht zu rütteln; sieht man sich aber dann mit einmal vor eine Fülle neuer Aufgaben gestellt, so wird es unvermeidlich, hie und da die bessernde Hand anzulegen. Darum ist es auch bei den rührigen Athenern weit mehr zu Neuerungen gekommen als bei euch. Laßt es also endlich mal mit eurem Zuwarten genug sein und kommt euren Freunden, namentlich, wie ihr es ver­ sprochen habt, Potidäa zu Hilfe. Fallt unverzüglich nach Attika ein, um nicht eure Freunde und Stammesgenossen ihren ärgsten Feinden preiszugeben und uns alle zu nötigen, uns aus Ver­ zweiflung nach neuen Bundesgenossen umzusehen. Weder in den Augen der Götter unseres Bundes noch nach dem Urteil einsichtiger Menschen würden wir damit ein Unrecht tun. Denn nicht wer sich in der Not nach neuer Hilfe umsieht, sondern wer seinen Bundesgenossen in der Not im Stich läßt, ist der Bundbrüchige. Wollt ihr uns helfen, so bleiben wir; denn dann wäre es gegen unser Gewissen, die Farbe zu wechseln, würden wir doch auch niemand finden, mit dem wir lieber

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gingen als mit euch. Das also überlegt euch und hütet euch, den Peloponnes unter eurer Herrschaft schwächer werden zu lassen, als ihr ihn von euren Vätern überkommen habt."

So die Korinther. Zufällig waren damals schon vorher auch aus Athen in einer anderen Angelegenheit Gesandte nach Lakedämon gekommen. Als sie von diesen Reden hörten, glaubten sie auch vor den Lakedämoniern auftreten zu müssen, nicht um sich vor ihnen gegen die Klagen der Städte zu verteidigen, sondern um ihnen zu empfehlen, keinen übereilten Beschluß zu fassen, und sich die Sache erst reiflich zu überlegen. Zugleich wollten sie ihnen einen Begriff von der Macht ihrer Stadt beibringen und die Alteren an die Dinge erinnern, die sie selbst mit durchgemacht, den Jüngeren aber, die sie noch nicht mit­ erlebt, davon erzählen, um ihnen dadurch die Kriegslust zu be­ nehmen. Sie wandten sich also an die Lakedämonier und er­ klärten, sofern dem nicht etwa Bedenken entgegenstünden, wünschten auch sie in der Volksversammlung ein Wort zu sagen. Nachdem man ihnen das freigestellt, traten sie denn auch auf und redeten also:

„Wir sind allerdings nicht gesandt, um mit euren Bundes­ genossen zu streiten, sondern um die uns von unserer Stadt aufgetragenen Geschäfte zu erledigen; da wir jedoch von schweren Vorwürfen hören, die hier gegen uns erhoben werden, so treten auch wir hier auf, nicht um uns gegen die Beschuldigungen der Städte zu verteidigen - wärt ihr ja auch nicht die Richter, um zwischen uns und ihnen zu entscheiden -, sondern damit ihr euch in dieser ernsten Sache nicht etwa in blindem Ver­ trauen auf die Behauptungen eurer Bundesgenossen zu törichten Beschlüssen verleiten laßt; zugleich wollen wir alle den Schwätzern, die uns hier was am Zeuge flicken wollen, das Maul stopfen und euch beweisen, daß wir alle unsere Besitzungen redlich er­ worben haben und daß mit unserer Stadt denn doch nicht zu spaßen ist. Wozu von alten Zeiten reden, von denen man hier höchstens noch von Hörensagen, aber nicht mehr aus eigener Anschauung weiß. Dagegen können wir nicht umhin, von den Perserkriegen zu reden, die ihr selbst noch miterlebt habt,

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wenn ihr es auch wohl nachgrabe überdrüssig seid, sie euch immer wieder vorrücken zu lassen; denn damals haben wir unsere Haut fürs gemeine Beste zu Markte getragen, und da auch euch das mit zugute gekommen ist, werdet ihr uns schon ge­ statten müssen, darauf jetzt, soweit es im Interesse der Sache liegt, mit einigen Worten zurückzukommen. Es geschieht das nicht, um uns weiß zu waschen, sondern um euch einen Be­ griff davon zu geben, mit wem ihr es zu tun haben werdet, wenn ihr einen unüberlegten Beschluß faßt. Wir rühmen uns, bei Marathon allein gegen die Perser für Griechenland in die Bresche getreten zu sein, und dann, als sie zum zweiten Male kamen und wir uns ihrer zu Lande nicht erwehren konnten, mit Weib und Kind die Schiffe bestiegen und in der Schlacht bei Salamis mitgekämpft zu haben. Das allein aber hinderte sie, mit ihrer Flotte nach dem Peloponnes zu fahren und dort eine Stadt nach der anderen zu verwüsten. Denn bei der Größe ihrer Flotte wärt ihr alle miteinander nicht imstande gewesen, euch gegen sie zu wehren. Der beste Beweis ist der Perserkönig selbst, der sich nach der Niederlage seiner Flotte uns nicht mehr für gewachsen hielt und mit dem größten Teile seines Heeres schleunigst den Rückzug antrat.

„Damals also ist daS Schicksal Griechenlands durch die Flotte entschieden, und wir haben zum glücklichen Erfolge durch drei Dinge das meiste beigetragen; wir hatten die meisten Schiffe, den klügsten Feldherrn und die größte Opferwilligkeit. Denn beinah zwei Drittel von den vierhundert Schiffen gehörten uns, und unser Feldherr war Themistokles, der es hauptsächlich fertigbrachte, daß es in der Meerenge zur Schlacht kam, waS dann den glücklichen Erfolg herbeiführte. Habt ihr ihn doch selbst hier bei seinem Besuch, wie niemals sonst einen fremden Gast, gefeiert. Endlich haben wir auch die größte Opferwillig­ keit bewiesen. Da wir zu Lande keinen Beistand fanden und alles bis zu uns sich dem Feinde unterworfen hatte, mußten wir uns dazu verstehen, unsere Stadt zu verlassen und Hab und Gut aufzugeben. Unsere Bundesgenossen im Stich lassen wollten wir nicht, und da wir ihnen in der Zerstreuung nichts

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nützen konnten, begaben wir uns aufs Geratewohl zu Schiff, ohne euch nachzutragen, daß ihr uns nicht früh genug zu Hilfe gekommen wart. Wir dürfen also dreist behaupten, daß wir mehr für euch getan haben als ihr für uns. Solange uns noch zu helfen war, hattet ihr euch nicht blicken lassen. Wir dagegen hatten keine Stadt mehr, als wir uns aufmachten, und kaum noch Hoffnung, dermaleinst eine wiederzuhaben, als wir in den Kampf gingen, und trotzdem haben wir dann doch auch zu eurer Rettung das Unsrige beigetragen. Wären wir wie die anderen aus Furcht für unser Land auch zu den Persern übergegangen, oder hätten wir uns später in unser Schicksal ergeben und nicht gewagt, die Schiffe zu besteigen, so konntet ihr mit euren paar Schiffen nur einpacken, und den Persern wäre alles glatt nach Wunsche gegangen.

„Hätten wir mit unserer damaligen Opferwilligkeit und Klug­ heit nicht verdient, Lakedämonier, der Herrschaft wegen, die wir nun mal haben, in Griechenland nicht so scheel angesehen zu werden? Wir haben sie doch nicht mit Gewalt erworben, sondern weil ihr nicht mehr mitwolltet, als es galt, den Persern vollends den Rest zu geben, kamen uns die Bundesgenossen freiwillig mit der Bitte, den Oberbefehl zu übernehmen. Erst die Verhält­ nisse selbst haben uns dann später genötigt, das daraus zu machen, was inzwischen daraus geworden ist; hauptsächlich war es unsere eigene Sicherheit, dann unsere Ehre und schließlich auch unser Vorteil, waS unS dazu nötigte. Die meisten haßten uns, einige waren schon abgefallen und erst mit Gewalt wieder unterworfen, und auch eure Freundschaft zu unS war nicht mehr die alte, sondern durch Mißtrauen und Verstimmung getrübt, so daß es höchst bedenklich für uns gewesen wäre, locker zu lassen und dadurch neue Gefahren heraufzubeshcwören; denn sie würden alle zu euch übergegangen sein. Kann man es doch keinem verdenken, wenn er angesichts solcher Gefahren auf seine Sicher­ heit Bedacht nimmt.

„Ihr, Lakedämonier, führt euer Regiment ja auch so, daß ihr den peloponnesischen Städten Verfassungen in eurem Sinne aufzwingt. Hättet ihr damals den Oberbefehl bis zuletzt be­

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halten und dabei so viel Haß geerntet wie wir, so würdet ihr die Bundesgenossen auch nicht mit Sammethandshcuhen an­ gefaßt und, wolltet ihr nicht selbst zu Schaden kommen, nicht umhin gekonnt haben, die Zügel scharf anzuziehen. Wir haben also durchaus nichts Wunderbares oder gar Unerhörtes getan, wenn wir eine uns angebotene Herrschaft angenommen und sie dann auch behauptet haben, weil uns drei mächtige Trieb­ federn, Ehre, Furcht und Vorteil, dazu drängten. Sind wir doch nicht die ersten, die es so gemacht, vielmehr ist es in der Welt von jeher so gewesen, daß sich der Schwächere dem Stärkeren hat fügen müssen. Und nach unserer Meinung kam uns das zu, und der Meinung seid ihr früher selbst gewesen, bis ihr es neuerdings vorteilhaft fandet, den Rechtsstandpunkt ins Feld zu führen; durch den aber hat sich noch niemand ab­ halten lassen, unbedenklich zuzugreifen, wo sich ihm zur Aus­ breitung seiner Macht Gelegenheit bot. Wenn aber ein Volk trotz des dem Menschen nun mal angeborenen Bedürfnisses, über andere zu herrschen, dann doch mit Gerechtigkeit regiert, auch wo seine Macht ihm das Gegenteil gestatten würde, so sollte man das anerkennen. Wie milde unsere Herrschaft ge­ wesen ist, würde sich wahrscheinlich erst recht zeigen, wenn ein anderer an unsere Stelle träte; aber statt das anzuerkennen, macht man uns in seiner Verbissenheit selbst unsere Milde zum Verbrechen.

„Eigentlich vergeben wir uns schon was damit, daß wir unseren Bundesgenossen in den Austrägen und vor unseren eigenen Gerichten völlige Rechtsgleichheit zugestehen, und trotz­ dem jammern sie noch über das ewige Prozesiseren. Sie be­ denken gar nicht, weshalb man anderen Staaten, die auch aus­ wärtige Besitzungen haben und ein weit härteres Regiment über ihre Untertanen führen als wir, solchen Vorwurf nicht macht. Wer Gewalt brauchen kann, hat eben nicht nötig, die Gerichte anzurufen. Sie kennen es aber nicht anders, als daß sie von uns auf gleichem Fuße behandelt werden, und wenn sie mal bei einer gerichtlichen Entscheidung oder einer Anord­ nung der Regierung auch nur um ein Haarbreit schlechter weg­

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kommen, als sie es nach ihrer Meinung sollten, so danken sie uns nicht etwa, daß sie es bei uns immer noch so gut haben, sondern regen sich über eine solche Kleinigkeit mehr auf, als wenn wir uns von vornherein um kein Gesetz bekümmert und einfach vom Rechte des Stärkeren Gebrauch gemacht hätten. Dann freilich würden sie schon eingesehen haben, daß der Schwächere sich dem Stärkeren fügen muß. Aber, wie eS scheint, können die Menschen ein ihnen vermeintlich angetanes Unrecht schwerer ertragen als die drückendste Herrschaft; denn dabei glaubt man sich durch seinesgleichen übervorteilt, hierin dagegen erblickt man höhere Gewalt, die man eben über sich ergehen lassen muß. Von den Persern haben sie sich ganz andere Dinge ruhig gefallen lassen, unsere Herrschaft aber ist ihnen lästig. Kein Wunder, das Joch auf dem Nacken drückt am meisten. Solltet ihr uns wirklich besiegen und zur Herr­ schaft gelangen, so würdet ihr die Liebe, die man euch jetzt auS Furcht vor uns entgegenbringt, bald genug verlieren, wenigstens wenn ihr es immer noch so machtet wie damals während der kurzen Zeit eures Oberbefehls gegen die Perser. Bei euch zu­ lande hat man eben andere Gewohnheiten als anderswo, und obendrein richten sich eure Leute, einer wie der andere, sobald sie außer Landes sind, darnach so wenig wie nach dem, was sonst in Griechenland Landesbrauch ist.

„Faßt also keinen übereilten Beschluß; denn es handelt sich um keine Kleinigkeit. Laßt euch nicht durch Wünsche und Beklemmungen Dritter dazu drängen, euch für sie die Finger zu verbrennen. Bedenkt auch wohl, bevor ihr den Degen zieht, wie wenig man im voraus berechnen kann, was einem im Kriege begegnen mag. Dauert er länger, so muß man immer auf allerlei Wechselfälle gefaßt sein, von denen ihr so gut be­ troffen werden könnt wie wir, und wer kann wissen, wie der Hase läuft. Bei Beginn eines Krieges läßt man sich nur zu leicht im ersten Augenblick zu Schritten hinreißen, für die es später immer noch früh genug gewesen wäre, um dann erst hinterher durch Schaden klug zu werden. Da es dazu ja bis jetzt bei euch so wenig wie bei uns gekommen ist, können wir, solange[*]( I )

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es für uns beide noch Zeit zu vernünftiger Überlegung ist, euch nur dringend raten, den beschworenen Frieden nicht zu brechen, sondern unseren Streit, wie es im Vertrage vorgesehen ist, durch schiedsrihcterliche Entscheidung schlichten zu lassen. Wollt ihr nicht, nun denn, so rufen wir die Götter, die über den Eid wachen, zu Zeugen an, und wenn ihr Krieg anfangt, werden wir eurem Beispiel folgen und uns mit den Waffen in der Hand zu wehren wissen."

So die Athener. Nachdem die Lakedämonier sowohl die Beschwerden der Bundesgenossen als die Rede der Athener angehört hatten, ließen sie alle abtreten, um unter sich darüber zu beraten, was nunmehr zu tun sei. Die Mehrheit entschied sich übereinstimmend dafür, die Athener wären im Unrecht, und man müsse ihnen auf der Stelle den Krieg erklären. Da aber trat ihr König Archidamos auf, ein anerkannt kluger und be­ sonnener Mann, und sagte:s

„Ich habe selbst schon Kriege mitgemacht, Lakedämonier, und sehe auch unter euch hier manche, die schon alt und er­ fahren genug sind, um sich nicht, wie wohl die große Mehr­ heit hier, nach Krieg zu sehnen und ihn für ein Glück oder für ein Kinderspiel zu halten. Daß der Krieg, über den ihr jetzt verhandelt, ein gewaltiger werden wird, müßt ihr euch bei ruhiger Überlegung selbst sagen. Unseren Nachbarn hier im Peloponnes sind wir mit unserer Macht ja so ziemlich ge­ wachsen und können ihnen nötigenfalls auch leicht ins Land fallen. Aber mit Leuten in einem ferneren Lande, die zudem seetüchtig und mit allem aufs beste versehen sind, - großem Wohlstand, vollen Kassen, Schiffen, Pferden, Waffen, auch mit Menschen mehr als irgend sonstwer in Griechenland, - und überdies noch eine Menge steuerpflichtiger Bundesgenossen haben, - was sollen wir mit denen so ohne weiteres Krieg anfangen, und worauf können wir zählen, um darauf, unvorbereitet wie wir sind, solche Eile zu haben? Auf unsere Flotte? Damit sind sie uns überlegen, und eine brauchbare Flotte schafft man sich nicht im Handumdrehen. Auf unser Geld? Daran fehlt es uns erst recht. Unsere Kassen sind leer, und selbst den

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Beutel zu ziehen, ist man bei uns auch nicht sonderlich ge­ neigt.