History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

Unterdessen merkten die Syrakuser und ihre Verbündeten, als es Tag geworden, daß die Athener abgezogen waren, und im Heere hatte man Gylippos in Verdacht, er habe sie ab­ sichtlich entkommen lassen. Auch nahmen sie die Verfolgung der Athener in der Richtung, in welcher sie abgezogen waren, die sie unshcwer feststellen konnten, unverzüglich auf und holten sie um die Frühstückszeit wieder ein. Als sie auf die Truppen des Demosthenes stießen, welche Hintennach zogen und noch infolge des nächtlichen Schreckens nur langsam und ohne Ord­ nung von der Stelle kamen, fielen sie sofort über sie her, und es kam zum Gefecht. Die syrakusischen Reiter konnten sie um so leichter umfassen und auf einen Fleck zusammendrängen, da sie von den übrigen getrennt waren. Das Heer des Nikias

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war schon fünfzig Stadien voraus. Denn Nikias war schneller marschiert, da er glaubte, daß es in solcher Lage nicht darauf ankomme, unbedingt standzuhalten und zu kämpfen, sondern heilsamer sei, so rasch wie möglich weiterzuziehen und sich nur im äußersten Notfall auf eine Schlacht einzulassen. De­ motshenes dagegen mit dem Nachtrabe hatte die ganze Zeit einen schweren Stand gehabt, da die Feinde ihren Angriff immer zuerst auf ihn richteten. Als er sah, daß die Syrakuser hinter ihm her waren, hielt er es für richtiger, statt den Rück­ zug fortzusetzen, seine Leute zur Schlacht zu ordnen, verlor darüber aber so viel Zeit, bis er von ihnen eingeholt und um­ ringt wurde und er mit seinen Athenern in eine verzweifelte Lage geriet. Sie waren nämlich auf ein Feld zusammen- gedrängt, das mit vielen Älbäumen bestanden und rings mit einer Mauer umgeben war und auf beiden Seiten einen Ans­ gang hatte, wo sie nun von allen Seiten beschossen wurden. Auf diese Weise fochten die Syrakuser natürlich lieber als Mann gegen Mann in offener Schlacht. Denn in einem Kampfe auf Leben und Tod gegen Verzweifelte konnten die Athener eher auf Sieg rechnen als sie. Außerdem wollten sie ihre Kräfte schonen, da sie offenbar auch so schon gewonnen Spiel hatten, und glaubten, daß ihre Gegner auch durch solchen Kampf mürbe werden und sich ihnen ergeben würden.

Nachdem sie die Athener und ihre Verbündeten den ganzen Tag von allen Seiten beschossen hatten, und nun sahen, wie diese durch Wunden und sonstige Leiden bereits völlig erschöpft waren, ließen Gylippos und die Syrakuser und ihre Ver­ bündeten ihnen zunächst durch einen Herold ankündigen, die Jnselleute könnten, wenn sie wollten, unter Zusicherung der Freiheit zu ihnen übergehen. Wirklich ging auch die Mann­ schaft aus einigen, wenn auch nur wenigen Städten zu ihnen über. Darnach kam es auch mit den übrigen zu einer Über­ einkunft, wonach das ganze Heer des Demotshenes die Waffen streckte unter der Bedingung, daß niemand gewaltsam oder durch Einkerkerung oder Entziehung der nötigen Nahrung ums Leben gebracht werden solle. Im ganzen waren es sechstausend

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Mann, die sich ergaben. Alles, was sie an Geld bei sich hatten, mußten sie abliefern und in umgekehrte Schilde werfen. Es wurden vier Schilde voll, die man sogleich nach der Stadt brachte. Nikias aber erreichte mit seinem Heere an dem Tage den Erineos, ging über den Fluß und ließ es auf einer An­ höhe ein Lager beziehen.

Als die Syrakuser ihn am folgenden Tage einholten, teilten sie ihm mit, daß Demotshenes sich mit dem ganzen Heere ergeben habe, und forderten ihn auf, das ebenfalls zu tun. Er wollte das aber nicht glauben und erwirkte sich die Erlaubnis, erst einen Reiter abzuschicken, um sich davon zu überzeugen. Als dieser zurückkam und bestätigte, daß das Heer sich in der Tat ergeben habe, ließ Nikias Gylippos und den Syrakusern sagen, er sei bereit, ein Abkommen mit ihnen zu treffen und sich im Namen der Athener zur Erstattung der den Syrakusern erwahcsenen Kriegskosten zu verpflichten, wenn man ihm mit dem Heere freien Abzug gewähre. Bis zur Zahlung des Geldes würde er ihnen Athener als Geiseln stellen, und zwar je einen auf ein Talent. Gylippos und die Syra­ kuser gingen jedoch auf sein Anerbieten nicht ein, sondern griffen die Athener an, umringten sie auch hier von allen Seiten und beschossen sie bis in die Nacht. Beim Mangel an Lebensmitteln waren die Athener in schlimmer Lage. Gleich­ wohl beschlossen sie, die Stille der Nacht wahrzunehmen und abzuziehen. Auch nahmen sie wirklich schon die Waffen auf, als die Syrakuser das merkten und ihren Schlachtgesang an­ stimmten. Da die Athener einsahen, daß die Sache ausgekommeu war, legten sie die Waffen wieder ab, bis auf etwa dreihundert Mann, welche sich durch die feindlichen Feldwachen durch- schlugen und in der Nacht aufs Geratewohl das Weite suchten.

Als es Tag wurde, brach Nikias mit seinen Leuten auf. Die Syrakuser aber waren gleich hinter ihnen her und be­ schossen sie auch jetzt wieder mit Pfeilen und Speerwürfen. Die Athener suchten nun so schnell wie möglich den Assinaros zu erreichen, teils weil sie hofften, den beständigen Angriffen

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der Reiterei und des übrigen Kriegsvolks weniger ausgesetzt zu sein, wenn sie den Fluß erst hinter sich hätten, teils weil sie aufs äußerste erschöpft waren und sich nach Trinkwasser sehnten. Als sie an den Fluß kamen, stürzten sie ohne alle Ordnung hinein, und jeder wollte zuerst hinüber, auch drangen die Feinde schon- auf sie ein und ershcwerten ihnen den Über­ gang. Denn da sie gezwungen waren, sich in dichter Masse vorwärts zu schieben, so fielen sie ein übereinander, traten sich unter die Füße, und von Spießen und scharfen Gerätschaften durchbohrt kamen viele von ihnen gleich auf der Stelle um, oder wurden, ineinander verwickelt, von der Strömung fort­ getrieben. Inzwischen waren die Syrakuser auf das andere, abschüssige Ufer des Flusses vorgedrungen und beschossen die Athener von oben, während diese im Flusse tranken und sich in dem tiefen Flußbette selbst im Wege waren. Die Pelo­ ponnesier aber stiegen von oben in den Fluß hinunter und richteten hier unter ihnen ein furchtbares Blutbad an. Das Wasser wurde sogleich ungenießbar; trotzdem wurde es, mit Schlamm und Blut vermischt, wie es war, immer noch von vielen getrunken, und einer machte es dem anderen streitig.

Endlich, als im Flusse die Toten schon massenhaft über­ einanderlagen, und die Leute teils im Flusse, teils, soweit sie etwa entkommen, von der Reiterei zusammengehauen wurden, ergab sich Nikias an Gylippos, dem er sich lieber anvertrauen wollte als den Syrakusern. Er überließ es ihm und den Syrakusern, mit ihm zu machen, was sie wollten, bat aber, das Morden gegen seine Leute einzustellen. Hierauf befahl Gylippos, sie leben zu lassen und gefangen zu nehmen. Bis auf die, welche man schon heimlich beiseite geschafft hatte, wurden sie denn auch lebend eingebracht. Auch die dreihundert, welche sich in der Nacht durchgeschlagen hatten, wurden ver­ folgt und ebenfalls zu Gefangenen gemacht. Doch war die Zahl der öffentlich eingebrachten Gefangenen nicht sehr bedeutend, um so größer dagegen die Menge derer, welche heimlich weg­ geschafft und über ganz Sizilien verstreut wurden, da sie nicht wie die Leute des Demosthenes auf Grund einer Übereinkunft

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in Gefangenschaft geraten waren. Zudem war ein großer Teil des Heeres auf dem Platze geblieben Denn im ganzen sizilischen Kriege war keine Schlacht so blutig gewesen wie diese, und auch in den anderen zahlreichen Gefechten, welche das Heer auf dem Marsche zu bestehen gehabt hatte, waren nicht wenige gefallen. Immerhin gelang es vielen, durch die Flucht zu entkommen, entweder sogleich, oder hinterher aus der Sklaverei, wobei ihnen Katana als Zufluchtsort diente.

Nachdem die Syrakuser und ihre Verbündeten sich ge­ sammelt, nahmen sie alles, was ihnen an Gefangenen in die Hände gefallen war, sowie die erbeuteten Waffen mit und zogen wieder nach der Stadt zurück. Die Athener und deren Bundesgenossen, welche in Gefangenschaft geraten waren, brachten sie in die Steinbrüche, Nikias und Demosthenes aber ließen sie hinrichten, obgleich Gylippos damit nicht einverstanden war. Gylippos hoffte nämlich, hohen Ruhm damit einzulegen, wenn er den Lakedämoniern nun obendrein auch die feindlichen Feldherren mit einbringen könnte. Zufällig aber war der eine grade ihr gefährlichster Feind, der es ihnen auf der Insel und bei Pylos angetan, der andere der Mann, der sich ihrer dieser­ halb aufs wärmste angenommen hatte. Denn Nikias war damals, als er die Athener zum Abschluß des Friedens bewog, für die Herausgabe der auf der Insel gefangenen Lakedämonier lebhaft eingetreten. Dafür waren die Lakedämonier ihm freund­ lich gesinnt, und hauptsächlich aus diesem Grunde hatte auch er sich vertrauensvoll an Gylippos ergeben. In Syrakus aber fürchteten manche, die früher, wie erwähnt, Verbindungen mit ihm unterhalten hatten, er möchte darüber auf der Folter Aus­ sagen machen, die ihnen den Hals kosten würden, während andere, namentlich die Korinther, besorgten, bei seinem Reich­ tum könnte er vielleicht Leute finden, die ihm für ein Stück Geld zur Flucht verhülfen, und ihnen später von neuem zu schaffen machen. Die brachten die Bundesgenossen auf ihre Seite, und man ließ ihn hinrichten. Diese oder auch ähnliche Rücksichten wurden die Ursache, daß er durch Henkershand endete, obwohl grade er, dem zeitlebens die Tugend Richtschnur

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seines Handelns gewesen war, unter allen Griechen meiner Zeit ein solches Schicksal denn doch am wenigsten verdient hatte.

Die Gefangenen in den Steinbrüchen wurden von den Syrakusern die erste Zeit mit großer Grausamkeit behandelt. In enger, tiefer Schlucht massenhaft eingepfercht und nicht unter Dach, litten sie erst entsetzlich von Sonne und Hitze; dann wieder brachen infolge des mit dem Eintritt der kalten Herbstnächte verbundenen Temperaturwechsels Krankheiten unter ihnen aus, zumal sie bei der Enge des Raumes alles an dem­ selben Orte verrichten mußten und die Leichen der an ihren Wunden, den durch den Temperaturwehcsel verursachten Krank­ heiten oder aus anderen Gründen Gestorbenen haufenweis da­ lagen und einen unerträglichen Geruch verbreiteten. Außerdem wurden sie von Hunger und Durst gequält; denn sie erhielten acht Monate lang täglich jeder nur eine Kotyle Wasser und . zwei Kotylen Mehl. Dazu kamen alle möglichen, mit einem solchen Aufenthalt unausbleiblich verbundenen Beschwerden. Auf diese Weise brachten sie an die siebzig Tage alle zusammen zu. Dann behielt man nur die Athener und die sizilischen und italischen Griechen, welche den Feldzug mitgemacht hatten, dort zurück und verkaufte die übrigen als Sklaven. Im ganzen betrug die Zahl der Gefangenen, wenn es auch schwierig ist, sie genau festzustellen, doch mindestens siebentausend. Es war dies das folgenschwerste Ereignis, von dem Griechenland nicht nur in diesem Kriege, sondern meiner Ansicht nach im Verlauf der griechischen Geschichte überhaupt jemals betroffen worden ist, ebenso glänzend für die Sieger wie verhängnisvoll für die Besiegten. Denn diese hatten in jeder Hinsicht eine vollständige Niederlage und die schwersten Verluste erlitten und sozusagen den letzten Mann, ihr Heer und ihre Flotte verloren. Auch kamen von so vielen nur wenige wieder nach Hause. So viel über die Ereignisse in Sizilien.

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Als die Nachricht nach Athen kam, wollte man dort auch den angesehensten Kriegern, die selbst nur mit genauer Not davongekommen waren und zuverlässige Nachrichten vom Kriegsshcauplätze mitbrachten, lange nicht glauben, daß die ganze Unternehmung so völlig gescheitert sei. Nachdem man sich endlich doch davon überzeugt, richtete sich die Erbitterung gegen die Redner, die dazu geraten, als ob man nicht selbst auch dafür gestimmt hätte, aber auch gegen die Zeichendeuter, Wahrsager und alle, welche damals durch Prophezeiungen die Hoffnung erregt hatten, daß man Sizilien erobern würde. All und jedes trug dazu bei, den Athenern das Herz schwer zu machen, und das eingetretene Mißgeschick versetzte sie aufs äußerste in Schrecken und Bestürzung. Denn nicht nur emp­ fanden sie die Verluste der einzelnen und den so unersetzlichen Verlust, den die Stadt an Fußvolk, Reiterei und junger Mann­ schaft erlitten, mit tiefstem Schmerz, sondern sie sahen auch, daß sie aus den Werften nicht Schiffe genug, im Staatsschatze kein Geld und für die Flotte keine Seeleute mehr hatten, und gaben alle Hoffnung auf, sich unter diesen Umständen noch weiter behaupten zu können. Außerdem fürchteten sie, die Feinde in Sizilien würden nach einem solchen Siege mit ihrer Flotte sogleich vor dem Peiraieus erscheinen, ihre hiesigen, nunmehr ja doppelt so starken Feinde aber ihnen die Bundesgenossen abtrünnig machen und mit diesen zu Lande und zur See über sie hersallen. Gleichwohl beschlossen sie, soweit es ihre Mittel gestatteten, nicht nachzugeben, womöglich eine neue Flotte aus­ zurüsten und dazu Holz und Geld zusammenzubringen, auch sich der Bundesgenossen und namentlich Enboias zu versichern. In der Stadt aber sollte auf die größte Sparsamkeit Bedacht genommen und eine Behörde von älteren Männern eingesetzt werden, um die jeweilig zu ergreifenden Maßregeln vorher zu begutachten. Wie immer im ersten Schrecken, so war das ganze Volk auch jetzt willig und bereit, seine Pflicht zu tun.

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Und wie sie beschlossen, so gingen sie dann auch ans Werk. Damit endete der Sommer.

Infolge der großen Niederlage der Athener in Sizilien standen die Griechen im nächsten Winter gleich alle gegen sie ans. Die Neutralen glaubten sich jetzt auch ohne besondere Aufforderung am Kriege beteiligen und von selbst gegen die Athener auftreten zu müssen, da sie sämtlich überzeugt waren, daß diese nach einem Siege in Sizilien unfehlbar über sie hergefallen sein würden. Überdies nahmen sie an, der Krieg würde nicht lange mehr dauern, ihnen aber zur Ehre gereichen, auch daran teilgenommen zu haben. Die Bundesgenossen der Lakedämonier wiederum sehnten sich jetzt alle mehr noch als schon bisher danach, der ewigen Mühen und Plagen je eher je lieber überhoben zu werden. Besonders eilig aber hatten es die Untertanen der Athener damit, deren Herrschaft abzu­ schütteln, auch wenn ihre Kräfte dazu nicht ausreichten, da sie die Verhältnisse mit Leidenschaft beurteilten und nicht berück­ sichtigten, ob sie auch nur imstande sein würden, den Sommer über auszuhalten. Das alles diente dazu, die Politik der Lake­ dämonier um so zuversichtlicher zu machen, zumal sie darauf rechnen konnten, daß ihre Bundesgenossen aus Sizilien mit ansehnlicher Macht, zu der im Dränge der Not nun auch noch die Flotte gekommen war, im Frühjahr zu ihnen stoßen würden. Bei diesen in jeder Beziehung günstigen Aussichten hielten sie es für unbedenklich, den Krieg nachdrücklich aufzunehmen, in der Hoffnung, wenn sie ihn glücklich beendigt, solchen Ge­ fahren, wie sie ihnen von den Athenern nach der Unterwerfung Siziliens gedroht, überhoben zu sein und nach Vernichtung ihrer Macht selbst in den unbestrittenen Besitz der Hegemonie über ganz Griechenland zu gelangen.

Ihr König Agis brach dann auch gleich in diesem Winter mit einer Anzahl Truppen von Dekeleia auf, um bei den Bundesgenossen Geld für die Flotte aufzubringen. Den Oitaiern, jenen alten Feinden dort am Melischen Meerbusen, trieb er die Herden weg und preßte ihnen Geld ab. Die Achäer in der Phtiotis und die übrigen tkessaliscken Untertanen in jener

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Gegend nötigte er, trotz aller Einwendungen und Proteste der Thessaler, ihm Geld und Geiseln zu geben, die er nach Korinth in Gewahrsam brachte, und suchte sie zu bewegen, dem Bunde beizutreten. Die Lakedämonier aber bestimmten, die Bundes­ staaten sollten hundert Schiffe stellen, und zwar sie selbst und die Böotier je fünfundzwanzig, Phokier und Lokrer fünfzehn, Korinth fünfzehn, Arkadier, Pellene und Sikyoner zehn, und Megara, Epidauros, Troizeu und Hermione zehn. Überhaupt richteten sie sich darauf ein, den Krieg gleich bei Beginn des Frühjahres zu eröffnen.

Aber auch die Athener waren, wie sie das beschlossen hatten, in diesem Winter darauf bedacht, Schiffe zu bauen, und ver­ sahen sich dazu mit Holz, auch befestigten sie Sunion, damit ihre Getreideschiffe dort sicher vorbeikommen könnten. Den festen Platz an der lakonischen Küste, den sie auf der Fahrt nach Sizilien angelegt hatten, gaben sie auf und schränkten auch sonst aus Sparsamkeit alle unnötigen Ausgaben möglichst ein. Hauptsächlich hatten sie ein wachsames Auge auf die Bundesgenossen, um deren Abfall zu verhüten.

Während beide Teile so am Werk waren und sich wie zum erstenmal von neuem zum Kriege rüsteten, ershcienen in diesem Winter zuerst Gesandte der Euboier bei Agis, um wegen ihres Abfalles von den Athenern mit ihm zu verhandeln. Er ging auf ihre Anträge ein und ließ Alkamenes, Stenela'idas' Sohn, und Melanthos zur Übernahme des Befehls auf Euboia aus Lakedämon kommen. Die kamen auch mit etwa dreihundert Neodameden bei ihm an, und er machte schon Anstalt, sie nach der Insel überzusetzen. Inzwischen aber fanden sich auch Lesbier bei ihm ein, die ebenfalls abfallen wollten. Da die Böotier sich für sie verwandten, ließ Agis sich bereden, Euboia vorläufig aufzugeben, um zunächst den Aufstand der Lesbier zu unterstützen. Er gab ihnen Alkamenes, der eben nach Euboia abfahren wollte, zum Statthalter, die Böotier aber und Agis selbst versprachen ihnen je zehn Schiffe zu schicken. Bei alle­ dem war die lakedämonische Regierung nicht zugezogen worden. Denn so lange Agis mit seinem Heere bei Dekeleia stand,

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war er selbständig befugt, Truppenteile zu verschieben oder zusammenzuziehen und Gelder einzutreiben. Auch hörten die Bundesgenossen zu der Zeit im Grunde mehr auf ihn als auf die Regierung in Lakedämon; denn er mit seinem Heere war jeden Augenblick in der Lage, ihnen auf die Kappe zu kommen. So nahm er sich auch jetzt der Lesbier an. Die Chier und Ery­ thraier dagegen, welche ebenfalls abfallen wollten, wandten sich nicht an Agis, sondern nach Lakedämon. Zugleich mit ihnen erschien dort ein Gesandter des Tissaphernes, der da­ mals Satrap des Königs Dareios, Artaxerxes' Sohn, im Küstengebiete war; denn auch Tissaphernes wünschte mit den Peloponnesiern anzuknüpfen und versprach, ihnen Lebensmittel zu liefern. Der König hatte nämlich kürzlich die Steuern aus seiner Provinz von ihm gefordert, die er der Athener wegen von den griechischen Städten nicht erheben konnte und noch schuldig war. Nun hoffte er, nach Demütigung der Athener eher zu jener Steuer zu gelangen, zugleich aber die Lakedämonier zu Bundesgenossen des Königs zu machen, auch Amorgos, den natürlichen Sohn des Pissuthnes, der sich in Karien unab­ hängig gemacht hatte, dem ihm erteilten Befehle des Königs gemäß lebendig ausliefern oder hinrichten lassen zu können. Die Chier und Tissaphernes zogen also hierin einen Strang.

Um dieselbe Zeit kamen Kalligeitos, Laophons Sohn, auS Megara, und Timagoras, Athenagoras' Sohn, aus Kyzikos, welche beide aus ihrer Heimat verbannt waren und bei Pharna­ bazos Aufnahme gefunden hatten, als dessen Abgesandte nach Lakedämon, um für die Sendung einer Flotte nach dem Helles­ pont zu wirken. Denn wie Tissaphernes, so wünschte auch Pharnabazos die Städte in seiner Provinz der Steuern wegen zum Abfall von Athen zu bestimmen und von sich selber ein Bündnis der Lakedämonier mit dem König zustande zu bringen. Da beide, die einen für Pharnabazos, die anderen für Tissa­ phernes, unabhängig voneinander verhandelten, kam es unter ihnen in Lakedämon zu heftigem Streit, indem diese darauf drangen, Schiffe und Truppen zuerst nach Chios und Ionien, jene dagegen, sie zuerst nach dem Hellespont zu schicken. Die

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Lakedämonier waren jedoch überwiegend für Chios und Tissa­ phernes, zumal auch Alkibiades dafür eintrat, der mit dem dortigen Ephoren Endios von alters her durch Gastfreundschaft eng verbunden war, wie denn auch seine Familie dieser Gast­ freundschaft wegen den lakonischen Namen übernommen hatte. Denn Endios' Vater hieß Alkibiades. Indessen sandten die Lakedämonier Phrynis, einen Periöken, doch zunächst mal nach Chios, um sich an Ort und Stelle zu überzeugen, ob man dort wirklich so viel Schiffe hätte, wie man versicherte, und die Stadt überhaupt so leistungsfähig wäre, wie die Angaben darüber glauben machen wollten. Als dieser dann bei seiner Rückkehr bestätigte, daß es damit seine Richtigkeit habe, nahmen sie Chios und Erythrai sogleich in ihren Bund auf und be­ schlossen, ihnen vierzig Schiffe zu schicken, da nach den Ver­ sicherungen der Chier mindestens sechzig dort schon vorhanden waren. Anfangs wollten sie selbst ihnen unter Melankridas, dem Befehlshaber ihrer Flotte, gleich zehn davon schicken. Nachdem jedoch ein Erdbeben eingetreten war, beschlossen sie, nicht Melankridas, sondern Chalkideus hinzuschicken und statt der zehn Schiffe in Lakonien nur fünf anszurüsten. Damit endete der Winter und das neunzehnte Jahr des Krieges, welchen Thukydides beschrieben, hat.

Gleich im Beginn des nächsten Frühjahres drangen die Chier aus Furcht, die Athener könnten von den Abmachungen Wind bekommen, auf unverzügliche Absendung der Schiffe. Alle jene Verhandlungen waren nämlich hinter dem Rücken der Athener geführt. Infolgedessen schickten die Lakedämonier drei Spartiaten nach Korinth mit der Weisung, man solle die i Schiffe von drüben schleimigst in die athenische See holen und mit allen, sowohl den von Agis für Lesbos bestimmten wie den übrigen, sofort nach Chios abgehen. Im ganzen zählte die dortige Bundesflotte neununddreißig Segel.

Kalligeitos und Timagoras lehnten im Namen des Pharna­ bazos die Beteiligung an dem Zuge nach Chios ab; auch gaben sie die fünfundzwanzig Talente, die sie zur Ausrüstung der Flotte mitgebracht hatten, nicht heraus, dachten vielmehr,

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mit einer eigenen Flotte aufzutreten. Agis aber hatte schließ­ lich nichts dagegen, wenn die Lakedämonier zuerst nach Chios wollten, und in einem in Korinth zusammengetretenen Kriegs­ rate der Verbündeten wurde dann auch beschlossen, die Flotte unter Chalkidens, der in Lakonien die fünf Schiffe ausgerüstet, zuerst nach Chios zu schicken. Danach sollte sie, und zwar unter Befehl des Alkamenes, den ja schon Agis dazu aus­ ersehen hatte, nach Lesbos gehen und sich zuletzt nach dem Hellespont begeben, hier aber Klearchos, Rhamphias' Sohn, den Oberbefehl übernehmen. Auch sollte vorläufig nur die Hälfte der Schiffe über den Isthmus gebracht werden und gleich in See gehen, damit die Athener ihre Aufmerksamkeit wettiger auf die schon ausgelaufenen als auf die erst nach­ träglich herüber kommenden Schiffe richten möchten. Denn die Fahrt von dort wollten sie ganz offen antreten, weil sie die Athener für ohnmächtig hielten und verachteten, da sich von ihrer Flotte so gut wie nichts mehr blicken ließ. Und wie sie beschlossen hatten, so brachten sie auch gleich ein­ undzwanzig Schiffe hinüber.

Aber so eilig man es auch mit der Abfahrt hatte, erklärten doch die Korinther, sie könnten nicht mit, ehe die isthmischen Spiele, die damals grade stattfanden, vorüber wären. Agis wollte ihnen auch nicht ansinnen, gegen den isthmischen Frieden zu verstoßen, seinerseits aber die Fahrt auch ohne sie unter­ nehmen. Da die Korinther damit jedoch nicht einverstanden waren und die Zeit darüber verstrich, kamen die Athener nachgerade hinter die Schliche der Chier und schickten einen ihrer Feldherren, Aristokrates, nach Chios, um sie darüber zur Rede zu stellen. Als die Chier sich aufs Leugnen legten, ver­ langten die Athener, als Pfand ihrer Treue sollten sie ihnen Schiffe zur Bundesflotte schicken, und sie schickten ihnen auch iseben. Die Absendung der Schiffe aber erklärt sich daraus, daß die große Mehrzahl der Chier von den Verhandlungen überhaupt nichts wußte, die wenigen Eingeweihten aber, so­ lange sie ihrer Sache nicht sicher waren, sich die Feind­ schaft der Menge nicht zuziehen wollten, auf die Ankunft der

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Peloponnesier aber bei deren langem Zögern nicht mehr rechneten.

Unterdessen wurden die ifthmischen Spiele gefeiert, an denen auch die Athener, die man dazu eingeladen hatte, sich durch Festgesandte beteiligten und dabei Gelegenheit fanden, sich von den Umtrieben der Chier vollends zu überzeugen. Nach deren Rückkehr machten sie sich auch gleich fertig, damit die Flotte nicht heimlich von Kenchreiai ausliefe. Die Pelo­ ponnesier aber gingen nach dem Feste mit einundzwanzig Schiffen unter Alkamenes' Befehl nach Chios unter Segel. Die Athener fuhren anfangs mit einer gleichen Anzahl von Schiffen an sie heran und suchten sie in die hohe See zu locken. Da jedoch die Peloponnesier ihnen nicht lange nachkamen, sondern seit­ wärts abbogen, zogen auch sie sich zurück. Sie trauten näm­ lich den sieben Schiffen der Chier nicht, die sich mit unter ihren einundzwanzig befanden, stellten dafür später auch sieben andere ein und verfolgten die an der Küste entlang fahrenden Gegner bis nach Peiraios, einem entlegenen Hafen im Korinthischen, unmittelbar an der Grenze von Epidauros. Die Peloponnesier verloren auf offener See ein Schiff, gelangten aber mit den übrigen glücklich in den Hafen. Hier aber gerieten sie, als die Athener sie von der See mit der Flotte angriffen und auch Truppen ans Land setzten, arg ins Gedränge. Die Athener am Lande machten ihnen die meisten Schiffe leck und töteten Alkamenes, ihren Befehlshaber, verloren aber auch selbst einige Leute.

Darauf brachen sie den Kampf ab und ließen nur eine zur Beobachtung der feindlichen Flotte genügende Anzahl Schiffe zurück; mit den übrigen gingen sie bei der in der Nähe be­ findlichen kleinen Insel vor Anker, wo sie sich lagerten und um Verstärkungen nach Athen schickten; denn am folgenden Tage trafen die Korinther und bald nachher auch andere Ver­ stärkungen aus der Nachbarschaft zur Unterstützung der Pelo­ ponnesier bei den Schiffen ein. Da diese sahen, daß es ihnen schwer werde würde, sie in einer so öden Gegend zu bewachen, waren sie zweifelhaft, was sie tun sollten; erst wollten sie die

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Schiffe in Brand stecken, dann aber entschlossen sie sich, sie ans Land zu ziehen und dort durch ihr Landheer bewachen zu lassen, bis sich vielleicht eine günstige Gelegenheit böte, das Weite zu suchen. Agis aber schickte ihnen, als er die Nach­ richt davon erhielt, den Spartiaten Thermon. Die Lakedämonier hatten zuerst die Meldung erhalten, daß die Flotte vom Isthmus abgefahren sei; denn Alkamenes war von den Ephoren ange­ wiesen, ihnen, sobald das geschehen, einen reitenden Boten zu schicken, und wollten nun ihre fünf Schiffe unter Chalkideus, den Alkibiades begleiten sollte, sogleich abgehen lassen. Dann aber, als sie eben abgehen sollten, kam die Nachricht von der Flucht der Flotte nach dem Peiraios, und nun trugen sie aus Mißmut über das Fehlschlagen ihrer ersten Unternehmung im ionischen Kriege doch Bedenken, noch mehr Schiffe außer Landes zu schicken, ja sie wollten sogar ein paar, die schon ausgelaufen waren, wieder zurückrufen.

Als Alkibiades das erfuhr, redete er Endios und den übrigen Ephoren auch jetzt wieder zu, den Zug nur unbedenk­ lich zu unternehmen, indem er ihnen vorstellte, daß ihre Schiffe in Chios ankommen würden, bevor das Mißgeschick der Flotte dort bekannt geworden sei, und daß es ihm selbst nach der Landung in Ionien ein leichtes sein würde, die Städte zum Abfall zu bewegen, wenn er ihnen die Schwäche der Athener und den Eifer der Lakedämonier schildere, was man ihm eher als jedem anderen glauben würde. Endios selbst aber gab er noch unter vier Augen zu bedenken, wie rühmlich es für ihn sein würde, mit seiner Hilfe den Abfall Ioniens zu bewirken und ein Bündnis des Königs mit den Lakedämoniern zustande zu bringen und diese Ehre nicht Agis zu überlassen. Er selbst war nämlich damals mit Agis persönlich verfeindet. Nachdem er Endios und die übrigen Ephoren zu seiner Ansicht bekehrt hatte, machte er sich mit dem Lakedämonier Chalkideus und den fünf Schiffen auf die Fahrt, die dann auch rasch vonstatten ging.

Um dieselbe Zeit kamen auch die sechzehn peloponnesischen Schiffe aus Sizilien zurück, die dort den Krieg unter Gylippos mitgemacht hatten. Bei Leukadia wurden le von den sieben­

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undzwanzig attischen Schiffen, die dort unter Hippokles, Menip­ pos' Sohn, den Schiffen aus Sizilien aufpaßten, erwischt und übel zugerichtet, entkamen jedoch den Athenern sämtlich bis auf eins und gelangten nach Korinth.