History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

Athener: „Bei vernünftiger Überlegung keineswegs. Denn es handelt sich für euch nicht darum, eure Tapferkeit zu be­ weisen und einen Kampf mit gleichen Waffen ehrenvoll zu bestehen, sondern um Sein und Nichtsein und um die Not­ wendigkeit, euch einem ungleich Mächtigeren nicht zu wider­ setzen."

Melier: „Bekanntlich aber ist das Glück im Kriege manchmal auch dem Schwachen günstig, und die Verschiedenheit der beiderseitigen Kräfte gibt nicht unbedingt den Ausschlag. Wenn wir uns gleich ergeben, haben wir überhaupt nichts mehr zu hoffen; greifen wir aber zu den Waffen, so bleibt uns wenigstens die Hoffnung, glücklich durchzukommen."

Athener: „Gewiß, Hoffnung ist ein Trost in der Gefahr, und sie wird dem Mächtigen, der sich auf sie verläßt, wenn auch vielleicht schädlich, aber doch nicht verderblich werden.

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Wer aber mit ihr, weil sie ihm goldene Berge verspricht, sein alles aufs Spiel setzt, wird erst durch Schaden klug und dann zu spät inne, wie trügerisch sie ist. Euch fehlt die Macht, und euer Schicksal hängt an einem Haar, seht euch also vor, daß es euch nicht auch so geht, und macht es nicht wie der ge­ meine Mann, der auch da, wo noch menschliche Hilfe möglich ist, wenn er bei einer Krankheit an die bewährten Mittel nicht mehr glaubt, sich auf Wunderkuren nnd dergleichen trügerische Hoffnungen verläßt."

Melier: „Auch wir, das könnt ihr glauben, sehen die Schwierigkeit ein, bei so ungleichen Mitteln den Kampf gegen eure Macht und euer Glück aufzunehmen; wir vertrauen jedoch auf unser Glück, daß die Gottheit uns nicht wird unterliegen lassen, da wir eine gerechte Sache gegen einen Gewaltakt ver­ treten. Sofern es uns aber selbst an Macht fehlt, rechnen wir auf die Hilfe der Lakedämonier, die uns als ihre Stammes­ genossen schon anstandshalber werden beistehen müssen. So ganz unbegründet ist unser Vertrauen demnach nicht."

Athener: „Was die Gunst der Gottheit anlangt, so glauben wir, daß es auch uns daran nicht fehlen wird, denn wir verlangen und tun nichts, was dem Glauben der Men­ schen an die Gottheit oder dem, was sie untereinander selbst für recht halten, widerspräche. Unseres Erachtens gilt nämlich in der ganzen Welt, bei der Gottheit, wie wir glauben, unter Menschen erfahrungsmäßig, eben ein für allemal das Recht des Stärkeren. Wir haben dieses Recht weder zuerst eingeführt, noch zuerst davon Gebrauch gemacht; aber wie wir es alS ein immer anerkanntes und für alle Zeit gültiges vorgefunden haben, so handeln wir auch jetzt darnach und zweifeln nicht daran, daß ihr wie jeder andere es bei gleicher Macht auch so machen würdet. Also, was die Gottheit anlangt, haben wir keinen Grund, eine Niederlage zu fürchten. Wenn ihr aber auf die Lakedämonier rechnet und hofft, daß sie euch schon anstandshalber beistehen würden, so wünschen wir euch Glück zu eurer Unschuld, beneiden euch aber nicht darum! DaS Verhalten der Lakedämonier untereinander und gegenüber ihrem

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heimischen Gesetze ist zwar im allgemeinen löblich, aber über ihre auswärtige Politik wäre manches zu sagen, mit einem Worte, daß unter allen uns bekannten Völkern keinS so un­ verhohlen wie sie, alles was ihnen genehm, für erlaubt hält, und was ihnen vorteilhaft ist, für Recht erklärt. Bei solcher Denkart könnt ihr jetzt in eurer mißlichen Lage denn doch schwerlich auf sie rechnen."

Melier: „Doch; grade dieser Denkart wegen rechnen nnr um so fester darauf, daß sie um ihres eigenen Vorteils willen sich hüten werden, ihren Feinden zu Gefallen das Ver­ trauen ihrer Freunde in Griechenland dadurch zu vershcerzen, daß sie uns Melier, ihr Pflanzvolk, im Stiche lassen.'

Athener: „Ihr glaubt also nicht, daß Vorteil auf Sicher­ heit sieht, eine ehrliche und anständige Politik aber Gefahren mit sich bringen kann. Die Lakedämonier sind im allgemeinen wenig geneigt, sich auf Gefahren einzulassen."

Melier: „Wir glauben aber, daß sie sich für uns um so lieber und unbedenklicher als für andere Gefahren aus­ setzen werden, da wir ihnen im Peloponnes so nahe vor der Tür liegen, und sie bei unseren verwandtschaftlichen Gesin­ nungen auf uns sicherer als auf andere zählen können."

Athener: „Wer einem anderen im Kriege zu Hilfe kommen soll, verläßt sich aber nicht auf Gesinnungen, die dieser ihm entgegenbringt, sondern auf die wirklichen Macht- mittel, die er in die Wagschale werfen kann. Und grade die Lakedämonier sehen darauf noch mehr als andere. We­ nigstens führen sie ihre auswärtigen Kriege aus Mißtrauen in ihre eigene Macht nie ohne zahlreiche Bundesgenossen. ES ist also nicht wahrscheinlich, daß sie bei unserer Übermacht zur See hier nach der Insel herüberkommen werden."

Melier: „Sie könnten aber auch andere schicken. DaS kretische Meer ist groß, und deshalb ist es für den Mächtigen schwieriger, jemand zu erwishcen, als für den Verfolgten, ihm unbemerkt zu entkommen. Schlimmstenfalls könnten sie sich auch gegen euer Land wenden oder gegen eure Bundes­ genossen, die euch nach dem Zuge des Brasidas noch geblieben

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sind, und dann hättet ihr nicht um ein Land, wo ihr nichts zu suchen habt, sondern um das Gebiet eurer Bundesgenossen und für euer eigenes Land zu kämpfen."

Athener: „Sollte es wirklich dazu kommen, so wißt auch . ihr doch aus Erfahrung, daß die Athener noch nie aus Furcht vor anderen Schwierigkeiten eine Belagerung aufgegeben haben. Nachdem ihr uns aber gesagt, ihr wolltet mit uns darüber verhandeln, was zur Sicherung eures Landes ge­ schehen könnte, nimmt uns wunder, daß ihr euch in dieser langen Unterredung noch mit keinem Worte über Mittel und Wege geäußert habt, von denen man sich sonst Hilfe in der Not verspricht. Die wirksamste Hilfe, auf die ihr hofft, steht weit aus, eure eigenen Kräfte aber sind zu gering, um euch damit auch nur gegen die euch schon jetzt gegenüberstehende Macht zu behaupten. Es wäre deshalb sehr unklug von euch, wolltet ihr nicht noch einen vernünftigeren Entschluß fassen, wenn ihr uns habt abtreten lassen. Fallt nur nicht etwa gar auf die Ehre hinein, die den Menschen so oft in Gefahren verderblich geworden ist, die sie voraussehen mußten und sich nur durch schimpfliche Unvernunft selbst zugezogen hatten. In der Tat ist schon mancher, obwohl er voraussah, wie das enden würde, durch den verführerischen Klang deS Wortes Ehre verleitet worden, sich freiwillig rettungslos ins Verderben zu stürzen, und mehr durch eigene Torheit als durch Unglück zuschanden geworden. Seid also vernünftig und hütet euch davor. Glaubt nicht, es ginge gegen eure Ehre, den Widerstand gegen eine Großmacht aufzugeben, die nichts weiter von euch verlangt als den Anschluß an ihren Bund und die Entrichtung einer Abgabe von eurem Lande, in dessen Besitz ihr auch ferner bleiben sollt. Noch habt ihr die Wahl zwischen Krieg und Sicherheit; laßt euch nicht durch Ehrgeiz zu einer verkehrten Wahl verleiten. Wer seinesgleichen die Zähne zeigt, sich mit dem Mächtigeren zu stellen weiß und mit dem Schwächeren säuberlich verfährt, kommt am besten durch. Nun überlegt euch die Sache, wenn wir abgetreten sind, und beherzigt dabei wieder und wieder, daß eS sich diesmal[*]( II )

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um euer Vaterland handelt, dessen Glück und Untergang von eurer jetzt zu fassenden Entschließung abhängt."

Hierauf verließen die Athener die Sitzung. Die Metier aber, jetzt unter sich, beschlossen in dem Sinne, wie sie sich schon vorher ausgesprochen hatten, und gaben ihnen folgende Antwort: „Wir stehen noch jetzt nickt anders wie vorher, Athener, und können die Unabhängigkeit unseres seit sieben­ hundert Jahren bestehenden Gemeinwesens nicht im Hand­ umdrehen aufgeben, werden vielmehr im Vertrauen auf die Gottheit, die uns bisher in Schutz genommen hat, und auf menschliche Hilfe, namentlich von seiten der Lakedämonier, unser Heil versuchen. Wir bieten euch Frieden und Freund­ schaft an, wünschen aber im Kriege neutral zu bleiben und fordern euch hiermit auf, nach Abschluß eines uns beiden an­ nehmbaren Vertrags unser Land zu verlassen."

Das war die Antwort der Melier. Die Athener aber sahen damit die Verhandlungen als abgebrochen an und er­ widerten ihnen: „Nach diesem Beschluß seid ihr unseres Er­ achtens doch die einzigen, denen ein Sperling in der Hand nicht lieber wäre als die Taube auf dem Dache. Ihr meint, eben alles, was ihr euch wünscht, wäre auch nur gleich da. So gewiß ihr euer Glück und eure Hoffnungen auf die Lake­ dämonier setzt, so gewiß werdet ihr die Rechnung ohne den Wirt gemacht haben."

Hierauf kehrten die Gesandten der Athener ins Lager zurück. Da die Melier sich auf nichts einlassen wollten, er­ öffneten die athenischen Feldherren nun sogleich die Feind­ seligkeiten und schlossen ihre Stadt ringsum mit einer Mauer ein, woran sie die Arbeit nach Städten verteilten. Später fuhren die Athener mit dem größten Teile ihres Heeres wieder ab, ließen aber eine aus Bürgern und Bundesgenossen be­ stehende Besatzung zurück, um die Stadt von der Land- und Seeseite zu bewachen, welche dort blieb und die Belagerung fortsetzte.

Um dieselbe Zeit fielen die Argeier in das Gebiet von Phlius ein, wurden aber von den Einwohnern und ihren

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eigenen Flüchtlingen auS einem Hinterhalt überfallen und ließen gegen achtzig Tote auf dem Platze. Die Athener fügten den Lakedämoniern durch Beutezüge von Pylos vielen Schaden zu. Indessen nahmen die Lakedämonier daraus keinen Anlaß, den Frieden für gebrochen zu erklären und Krieg anzufangen; sie ließen jedoch öffentlich bekanntmachen, daß auch bei ihnen Beutezüge gegen die Athener erlaubt sein sollten. Die Korinther fingen wegen gewisser besonderer Streitigkeiten Krieg mit den Athenern an, woran sich die übrigen Pelo­ ponnesier aber nicht beteiligten. Die Melier eroberten bei einem nächtlichen Überfall ein Stück der Einschließungsmauer der Athener in der Nähe ihres Lagermarktes, töteten eine Anzahl Leute und schafften, was sie konnten, an Lebensmitteln und sonstigen Bedürfnissen in die Stadt, zogen sich dann aber zurück, ohne den Angriff zu erneuern. Die Athener aber paßten seitdem besser auf. Damit endete der Sommer.

Im folgenden Winter wollten die Lakedämonier ins Argeiische einfallen; da jedoch ihr Opfer beim Überschreiten der Grenze ungünstig ausfiel, kehrten sie wieder um. Wegen dieses ihres Vorhabens faßten die Argeier gegen einige ihrer Mitbürger Verdacht, ließen auch mehrere festnehmen, während andere sich dem durch die Flucht entzogen. Um dieselbe Zeit eroberten die Melier nochmal an einer anderen Stelle ein Stück der hier nur schwach besetzten Mauer der Athener. Infolgedessen kamen später unter PhilokrateS, DemeaS' Sohn, neue Verstärkungen aus Athen, und die Melier, die nunmehr hart belagert und außerdem durch Verrat in ihrer Mitte be­ droht wurden, mußten sich den Athenern auf Gnade und Ungnade ergeben. Die Athener aber töteten alle Männer, die ihnen in die Hände fielen, und verkauften Weiber und Kinder als Sklaven. Das Land behielten sie für sich und besetzten eS bald nachher mit fünfhundert Kolonisten.

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