History of the Peloponnesian War

Thucydides

Thucydides. Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Braun, Theodor, translator. Leipzig: Insel-Verlag, 1917.

Bei alledem wird man meine Darstellung der Ereignisse auf Grund der beigebrachten Beweise unbedenklich für glaub­ würdiger halten dürfen als das, was Dichter mit poetischer Übertreibung davon gesungen, oder Logographen, um ihrer Erzählung größeren Reiz zu geben, wohl auch mal auf Kosten der Wahrheit daraus gemacht oder an unglaubwürdigen und gradezu fabelhaften alten Geschichten darüber zusammengetragen haben. Denn darauf kann man sich verlassen, daß ich, soweit das für jene alten Zeiten überhaupt möglich war, nur aus den besten Quellen geschöpft habe. Nun pflegen die Menschen freilich jeden Krieg, den sie eben jetzt selbst zu führen haben, für den wichtigsten zu halten und erst, wenn er vorbei ist, auch die Vergangenheit wieder besser zu würdigen. Aber an­ gesichts der Tatsachen kann denn doch kein Zweifel darüber sein, daß der jetzige Krieg auch wirklich bedeutender gewesen ist als alle früheren.

Die verschiedenen Reden, so wie sie vor Beginn oder im Laufe des Krieges gehalten sind, wörtlich wiederzugeben, war

14
nicht wohl möglich, mochte ich sie nun selbst mit angehört oder durch Dritte Kenntnis davon erhalten haben. Ich gebe sie deshalb so, wie sie der betreffende Redner nach meiner Auffassung unter den jeweiligen Umständen hätte halten müssen, schließe mich dabei jedoch dem Gedankengange der wirklich gehaltenen Rede so eng wie möglich an. Die Begebenheiten des Krieges selbst habe ich nicht aufs Geratewohl oder nach Gutdünken aufgezeichnet, sondern ich habe nur Dinge auf­ genommen, die mir entweder aus eigener Anschauung bekannt waren oder über die ich bei anderen die sorgfältigsten Er­ kundigungen eingezogen hatte. Es war nicht immer leicht, den Sachen auf den Grund zu kommen, weil die Berichte der Augenzeugen darüber verschieden lauteten, je nachdem ihr Parteistandpunkt dabei mitsprach oder auch ihr Gedächtnis sie im Stich ließ. So wird das Buch seines nüchternen Inhalts wegen manchem Leser vielleicht langweilig vorkommen. Mir soll es genügen, wenn auch nur diejenigen, welche wissen möchten, wie es gewesen ist und mehr oder weniger zu allen Zeiten in der Welt zugehen wird, es für ein nützliches Buch halten. Dem Verfasser war es um ein Werk von dauerndem Wert, nicht um einen augenblicklichen Erfolg bei der Leserwelt zu tun.

Bis dahin war der Perserkrieg das wichtigste Ereignis gewesen, und doch war in ihm schon nach je zwei Schlachten zu Lande und zur See die Entscheidung gekommen. Dieser Krieg dagegen hat sehr lange gedauert, und Griechenland hat in ihm Leiden durchgemacht wie nie zuvor in einer gleichen Spanne Zeit. Niemals waren so viele Städte erobert und zerstört, sei es durch Barbaren, sei es durch die kriegführenden Mächte selbst - einige von ihnen wurden auch nach ihrer Einnahme mit anderen Einwohnern besetzt -, niemals so viel Menschen von Haus und Hof vertrieben und entweder durch den Krieg selbst oder in Parteikämpfen ums Leben gekommen. Dinge, von denen man bis dahin zwar wohl gehört, aber kaum jemals selbst was erlebt hatte, waren jetzt an der Tagesordnung. Gewaltige Erdbeben, die sich über einen großen Teil der Erde

15
erstreckten, Sonnenfinsternisse, welche häufiger eintraten, als man sich dessen von früher erinnerte, Zeiten großer Dürre mit Hungersnot im Gefolge, vor allem aber die furchtbare Pest, welche die Menschen so massenhaft hinraffte, das alles stellte sich in diesem Kriege miteinander ein. Den aber begannen die Athener und die Peloponnesier mit dem Bruch des dreißig- jährigen Friedens, den sie nach der Unterwerfung von Euboia miteinander geschlossen hatten. Um von vornherein der Frage zu begegnen, wie es in Griechenland zu einem so furchtbaren Kriege kommen konnte, führe ich zuerst die Ursachen und die Streitigkeiten an, welche den Bruch herbeiführten. Der eigent­ liche Grund, so wenig von ihm die Rede gewesen ist, war nach meiner Überzeugung die Furcht der Lakedämonier vor der wachsenden Macht Athens, die sie zum Kriege trieb. Die Gründe aber, worauf sich beide Teile für den Rücktritt vom Vertrage und den Wiederbeginn des Krieges vor der Welt beriefen, waren folgende.

Epidamnos ist eine Stadt, die man bei der Einfahrt in den Ionischen Meerbusen zur Rechten hat. Das Hinterland wird von Barbaren, den Taulautiern, einer illyrischen Völker­ schaft, bewohnt. Die Stadt ist eine Kolonie von Kerkyra und wurde gegründet unter Führung des Phalios, Eratokleides' Sohns, eines Herakliden aus Korinth, den man dazu, wie daS ja in solchem Fall alter Brauch war, aus der Mutterstadt berufen hatte. Doch waren auch einige Korinther und sonstige Angehörige des dorischen Stammes an der Gründung be­ teiligt. Im Laufe der Zeit war Epidamnos eine große und volkreiche Stadt geworden, dann aber hatte sie, angeblich nach langen inneren Kämpfen, in einem Kriege mit den benachbarten Barbaren schwere Verluste erlitten und ihre frühere Macht gutenteils eingebüßt. Kurz vor dem Ausbruch dieses Krieges Vertrieb das Volk die Aristokraten aus der Stadt, die sich darauf zu den Barbaren begaben und im Verein mit ihnen die Einwohner zu Wasser und zu Lande beraubten. In dieser ihrer Bedrängnis schickten die Epidamnier in der Stadt Ge­ sandte nach Kerkyra mit der Bitte, als ihre Mutterstadt möge

16
sie sie in ihrer Not nicht im Stich lassen, sondern einen Aus­ gleich zwischen ihnen und ihren vertriebenen Landsleuten herbeiführen und den Krieg mit den Barbaren beizulegen suchen. Die Gesandten trugen auch ihre Bitte im Heratempel in Kerkyra als Schutzflehende vor, fanden aber damit kein Gehör und mußten unverrichteter Sache wieder abziehen.

Als die Epidamnier sahen, daß auf Hilfe von Kerkyra nicht zu rechnen war, und sich nicht zu helfen wußten, schickten sie nach Delphi, um den Gott zu befragen, ob sie sich Korinth als ihrer Mutterstadt übergeben und versuchen sollten, von dort Hilfe zu erhalten. Der Gott riet ihnen auch, das zu tun und sich unter die Führung der Korinther zu stellen. Sie wandten sich also nach Korinth, um sich nach dem Ausspruch des Orakels dort als Tochterstadt zu übergeben, wiesen darauf hin, daß der Gründer ihrer Stadt aus Korinth gewesen sei, und baten, sie in der Not nicht im Stich zu lassen, sondern sich ihrer anzunehmen. Die Korinther erklärten sich dazu auch bereit, da sie Epidamnos mit Fug und Recht so gut als eine Kolonie von Korinth wie von Kerkyra ansehen zu können glaubten. Zudem haßten sie die Kerkyräer, die es als ihr Pflanzvolk an der schuldigen Rücksicht gegen sie fehlen ließen. Denn man gab ihnen dort bei festlichen Gelegenheiten nicht die schuldigen Ehren, ließ auch keinem Korinther den Vortritt beim Opfer, wie das in Kolonien sonst üblich ist, sondern behandelte sie von oben herab, weil man sich damals als Geldmacht den reichsten Griechenstädten an die Seite stellte, für den Krieg besser als andere gerüstet war und sich zuweilen rühmen konnte, die stärkste Flotte zu besitzen. Denn wie ihre Insel schon ehe­ mals von dem berühmten Seevolke der Phäaken bewohnt ge­ . Wesen war, so hatten sich auch die Kerkyräer besonders auf die Flotte gelegt und es zur See zu hoher Macht gebracht; denn bei Beginn des Krieges hatten sie nicht weniger als hundertundzwanzig Trieren.

War das alles den Korinthern ein Dorn im Auge, so schickten sie jetzt die erbetene Hilfe nicht mehr wie gern nach Epidamnos, stellten jedem frei, sich dort anzusiedeln, und ließen

17
eine Anzahl bewaffneter Amprakier, Leukadier und eigener Landeskinder zur Besetzung dorthin ziehen. Der Zug ging zu Lande nach Apollonia, einer korinthischen Kolonie, aus Furcht, die Kerkyräer könnten ihm den Seeweg verlegen. Die Kerkyräer aber waren außer sich, als sie von der Ankunft der neuen An­ siedler und der Truppen in Epidamnos und der Übergabe der Kolonie an die Korinther hörten. Sofort sandten sie fünfund­ zwanzig Schiffe und bald nachher noch ein zweites Geschwader nach Epidamnos und verlangten drohend die Wiederaufnahme der Vertriebenen sowie die Ausweisung der korinthischen Be­ satzung und der neuen Ansiedler. - Die aus Epidamnos ver­ triebenen Aristokraten hatten sich nämlich inzwischen nach Ker­ kyra begeben und hier bei den Gräbern der Vorfahren und der Stammverwandtschaft um ihre Zurückführung gebeten. - Die Epidamnier aber wollten von alledem nichts hören. Und nun eröffneten die Kerkyräer, denen sich jetzt auch die Illyrier angeschlossen hatten, in Gemeinschaft mit den Vertriebenen, deren Wiederaufnahme sie verlangten, mit vierzig Schiffen die Feindseligkeiten gegen Epidamnos. Sie legten sich vor die Stadt und boten sowohl den Epidamniern selbst wie den Fremden freien Abzug an, widrigenfalls sie alS Feinde behandelt werden würden. Als davon kein Gebrauch gemacht wurde, begannen sie, die Stadt, die auf einer Landzunge liegt, förmlich zu be­ lagern.

Sobald die Korinther durch Boten aus Epidamnos die Nachricht von der Belagerung erhalten hatten, rüsteten sie zum Kriege. Zugleich ließen sie öffentlich bekanntmachen, daß in Epidamnos eine Kolonie gegründet werden solle und jedem freigestellt werde, sich dabei zu gleichem Recht zu beteiligen. Wer keine Lust habe, gleich mitzufahren, und sich doch an der Gründung beteiligen wolle, könne zu Hause bleiben, habe solchen- falls aber fünfzig korinthische Drachmen zu hinterlegen. Auch fanden sich Leute genug, die entweder gleich mitfahren oder das Geld einzahlen wollten. Mit Rücksicht auf etwaige Hinder­ nisse, die ihnen auf der Fahrt von seiten der Kerkyräer be­ reitet werden könnten, erbaten sie sich von Megara Schiffe zum[*]( I )

18
Geleit. Megara stellte auch acht Schiffe, die sie geleiten sollten, und ebenso Paleis auf Kephallenia vier. Epidauros, an das sie sich auch gewandt hatten, stellte fünf, Hermione eins, Trotzen zwei, Leukas zehn und Amprakia acht. Theben und Phlius ersuchten sie um Geld, Elis um Geld und leere Schiffe. In Korinth selbst aber wurden dreißig Schiffe und dreitausend Hopliten eingestellt.

Als die Kerkyräer von diesen Rüstungen hörten, begaben sie sich mit lakedämonischen und sikyonischen Gesandten, deren gute Dienste sie erbeten hatten, nach Korinth und verlangten von den Korinthern die Abberufung der Besatzung und der Kolonisten aus Epidamnos; denn in Epidamnos hätten sie nichts zu schaffen. Sollten indes auch sie dort Ansprüche zu haben vermeinen, so möge die Sache einigen Städten im Pelo­ ponnes, über die man sich beiderseits vereinigt, zu schiedsrichter­ licher Entscheidung überwiesen werden, und wem die Kolonie dann zugesprochen werden würde, dem solle sie gehören. Auch sei es ihnen recht, wenn die Entscheidung dem Delphischen Orakel überlassen würde. Nur Krieg sollten sie darüber nicht anfangen, sonst würden auch sie gezwungen sein, sich anderswo nach neuen Freunden umzusehen, und zwar notgedrungen grade solchen, die den Korinthern recht unbequem sein würden. Die Korinther erwiderten ihnen, wenn sie ihre Schiffe und die Barbaren von Epidamnos zurückzögen, wollten sie sich die Sache weiter überlegen, vor Aufhebung der Belagerung aber würde es unter ihrer Würde sein, mit ihnen zu prozessieren. Dem­ gegenüber erklärten die Kerkyräer, dazu seien sie bereit, falls auch die Korinther ihre Leute aus Epidamnos zurückzögen; übrigens hätten sie auch nichts dagegen, wenn beide Teile in ihren jetzigen Stellungen blieben und bis zu richterlicher Ent­ scheidung der Sache einen Waffenstillstand schlössen.

Die Korinther aber wollten davon nichts wissen. Sobald ihre Schiffe bereit und die Bundesgenossen zur Stelle waren, ließen sie den Kerkyräern durch einen vorausgesandten Herold den Krieg erklären und gingen dann mit fünfundsiebzig Schiffen und zweitausend Hopliten nach Epidamnos unter Segel, um

19
den Streit mit Kerkyra mit den Waffen auszutragen. Die Schiffe befehligte Aristeus, Pellichos' Sohn,Kallikrates,Kallias' Sohn, und Timanor, Timanthes' Sohn, die Truppen Arche­ timos, Enrytimos' Sohn, und Jsarchidas, Jsarchos' Sohn. Als sie bei Aktion im Gebiet von Anaktorion angekommen waren, wo der Apollontempel steht, am Ausgange des Ampra­ kischen Meerbusens, schickten ihnen die Kerkyräer in einer Scha­ luppe einen Herold entgegen und ließen ihnen Halt gebieten. Zu gleicher Zeit bemannten sie ihre Flotte, nachdem sie die alten Schiffe versteift, um sie seefähig zu machen, und die übrigen ausgebessert hatten. Als der Herold von den Korinthern keine friedliche Antwort mitbrachte und sie ihre Schiffe bemannt hatten - im ganzen achtzig, denn vierzig lagen noch vor Epidamnos -, fuhren sie den Korinthern entgegen, stellten sich in Schlachtordnung und lieferten ihnen eine Schlacht. Auch er­ fochten sie einen glänzenden Sieg und vernichteten den Korinthern fünfzehn Schiffe. Das Glück wollte, daß auch das belagerte Epidamnos sich an demselben Tage ergab auf die Bedingung, daß die Fremden verkauft, die Korinther aber bis auf weiteres kriegsgefangen bleiben sollten.

Nach der Schlacht errichteten die Kerkyräer am Vorgebirge Leukimme auf Kerkyra ein Siegeszeichen und töteten alle ihnen in die Hände gefallenen Feinde bis auf die Korinther, die sie zu Gefangenen machten. Da die Korinther und ihre Verbün­ deten nach ihrer Niederlage wieder nach Hause gefahren waren, beherrschten die Kerkyräer von nun an alle Gewässer in der Runde. Sie fuhren nach Leukas, der korinthischen Kolonie, und verheerten das Land und steckten Kyllene, die Hafenstadt der Euer, in Brand, weil diese die Korinther mit Schiffen und Geld unterstützt hatten. Auch blieben sie nach der Schlacht noch längere Zeit Herren der See und fügten mit ihren Schiffen den Bundesgenossen der Korinther viel Schaden zu, bis dann die Korinther angesichts der Leiden ihrer Bundesgenossen Schiffe und Truppen aussandten, die sich bei Aktion und am thespro­ tischen Vorgebirge Cheimerion lagerten, um Leukas und die übrigen ihnen befreundeten Orte zu schützen. Die Kerkyräer

20
aber nahmen ihnen gegenüber mit Heer und Flotte Stellung bei Leukimme. Zu einem Angriff kam es jedoch von keiner Seite. Den ganzen Sommer standen sie sich einander gegen­ über und gingen dann bei Eintritt des Winters wieder nach Hause.

Die Korinther, die den unglücklichen Krieg mit Kerkyra nicht verschmerzen konnten, waren das ganze nächste und das folgende Jahr nach der Schlacht eifrig darauf aus, Schiffe zu bauen und ihre Flotte instand zu setzen. Auch sparten sie kein Geld, um im Peloponnes selbst und überall in Griechen­ land Seeleute zu werben. Als die Kerkyräer davon hörten, wurden sie doch bange, da sie keinem der in Griechenland be­ stehenden Bündnisse angehörten, auch sich weder in den Athe­ nischen noch den Lakedämonischen Bund eingeschrieben hatten. Sie beschlossen deshalb, die Athener um ein Bündnis anzu­ gehen und zu versuchen, ob sie von da nicht Hilfe erhalten könnten. Kaum aber hatten die Korinther davon gehört, als sie ebenfalls Gesandte nach Athen schickten, um nicht durch eine Vereinigung der athenischen Flotte mit der kerkyräischen Flotte verhindert zu werden, den Krieg nach Wunsche zu be­ enden. In einer zu dem Ende anberaumten Volksversammlung kamen beide Teile zu Worte, und zunächst ließen sich die Kerky­ räer folgendermaßen vernehmen.

„Mit Recht, Athener, fordert man von jedem, der, wie wir jetzt, einen anderen um Hilfe bittet, ohne sich dabei auf besondere Verdienste oder Bundesgenossenschaft berufen zu können, zunächst den Beweis, daß die Gewährung dieser Bitte auch ihm nützen, mindestens nicht schaden werde, und daß er dafür mit Sicherheit auf Dank rechnen könne. Vermag der Bittsteller ihn davon nicht zu überzeugen, so darf er sich nicht wundern, wenn er einen Korb kriegt. In der Meinung, euch in dieser Hinsicht volle Sicherheit bieten zu können, haben uns die Kerkyräer gesandt, euch um ein Bündnis zu bitten. Leider ist unsere bisherige Politik nicht darnach gewesen, uns ein An­ recht auf eure Hilfe zu erwerben, und wir sind dadurch eben jetzt in eine böse Lage geraten. Wir, die wir uns bis dahin

21
mit niemand freiwillig auf ein Bündnis eingelassen, sind jetzt hier, um vor fremden Türen selbst darum zu bitten. In dem bevorstehenden Kriege mit den Korinthern sind wir auf uns allein angewiesen, und was wir früher für weise Selbstbeschrän­ tung hielten, unsere Haut nicht in Koalitionskriegen für fremde Rechnung zu Markte zu tragen, erweist sich jetzt als eine fehler­ haste und schwächliche Politik. Allerdings haben wir in jener Seeschlacht die Korinther auch allein geschlagen, jetzt aber, wo sie uns besser gerüstet mit Verstärkungen aus dem Pelo­ pvnnes und ganz Griechenland zu Leibe wollen und wir keine Aussicht haben, uns ihrer mit eigenen Kräften zu erwehren, im Fall einer Niederlage aber in große Gefahr geraten würden, sind wir gezwungen, uns bei euch und überall nach Hilfe um­ zusehen, und man wird es uns zugute halten, wenn wir damit der Neutralitätspolitik entsagen, die wir bisher nicht in böser Absicht, sondern aus Irrtum befolgt haben.

„Wenn es sich jetzt so trifft, daß wir eurer Hilfe bedürfen, so kann das auch euch, falls ihr uns unsere Bitte gewährt, in mancher Hinsicht nur erwünscht sein, zunächst schon deshalb, weil ihr jemand helfen könnt, der Unrecht leidet und selbst niemand waS zu Leide tut, sodann aber, weil ihr, wenn ihr uns in dem Augenblick, wo alles für uns auf dem Spiel steht, nicht im Stich laßt, für alle Zeit zu größter Dankbarkeit ver­ pflichtet, und zu guter Letzt, weil wir nach euch die stärkste Flotte haben. Nehmt mal an, welch seltenes Glück ist es für euch und wie verdrießlich für eure Feinde, wenn eine Macht, die ihr nur zu gern für Geld und Gunst auf eure Seite gebracht hättet, jetzt von selbst kommt und sich euch ohne Gefahr und Kosten in die Arme wirft. Habt ihr doch auf diese Weise Gelegenheit, zu gleicher Zeit euren Edelmut vor der Welt zu zeigen, euren Freunden Wohltaten zu erweisen und eure Macht zu mehren. Das alles auf einmal ist kaum jemals einem in den Schoß gefallen, und es wird nicht leicht vorkommen, daß ein Staat einen anderen um ein Bündnis bittet, dem er an Macht und Ansehen ebensoviel zubringt, wie er sich selbst von ihm verspricht. Glaubt man hier etwa, daß es zu keinem

22
Kriege kommen werde, in dem wir euch von Nutzen sein könnten, so ist man im Irrtum und verkennt, daß die Lakedämonier es aus Furcht vor euch schon lange auf Krieg abgesehen haben, und daß die Korinther, eure bei ihnen so einflußreichen Feinde, nur erst mit uns fertig werden wollten, bevor ihr an die Reihe kommt. Sie wollen uns nur nicht beide zu gleicher Zeit zu Feinden haben und Zeit gewinnen, um entweder erst unS un­ schädlich zu machen oder wenigstens sich selbst fester in den Sattel zu setzen. Darum nehmt die Freundeshand an, die wir euch bieten, damit wir zuerst auf dem Platze sind, statt hinterher das Nachsehen zu haben.

„Sollten sie behaupten, es sei unrecht von euch, ihnen ihre Kolonie abwendig zu machen, so mögen sie sich gesagt sein lassen, daß jede Kolonie ihre Mutterstadt hochhält, solange sie gut behandelt wird, sich aber von ihr lossagt, wenn man sie unter die Füße tritt. Denn man schickt keine Kolonisten dazu aus, damit sie Sklaven der Daheimgebliebenen werden, sondern um gleiches Recht mit ihnen zu genießen. Daß sie uns aber solches Recht nicht zugestehen, liegt auf der flachen Hand; denn als wir ihnen vorschlugen, unseren StreitumEpidamnos richter­ lich austragen zu lassen, wollten sie darauf nicht eingehen, sondern ihre Ansprüche lieber mit Waffengewalt durchsetzen. Und wenn sie es so mit uns, ihren Anverwandten, machen, so mag das auch euch eine Lehre sein, euch nicht von ihnen hinters Licht führen zu lassen, oder ihnen in Dingen, die sie gradezu von euch verlangen, zu Willen zu sein. Mit Liebenswürdig­ keiten gegen seine Feinde kommt man nicht weit; je kürzer man sie hält, um so besser.

„Auch verstößt es keineswegs gegen euren Vertrag mit den Lakedämoniern, wenn ihr uns in euren Bund aufnehmt; denn es heißt darin: Jedem griechischen Staate, der weder dem einen noch dem anderen Bunde angehört, soll es freistehen, sich einem von beiden anzuschließen. Es wäre ja auch unerhört, wenn sie die Mannschaft für ihre Schiffe nicht nur aus den ihnen verbündeten, sondern auch aus anderen griechischen Staaten, ja selbst aus euren Besitzungen nehmen dürften und uns ver­

23
bieten könnten, eurem Bunde beizutreten oder uns sonstwo nach Hilfe umzusehen, oder wenn sie euch die Gewährung unserer Bitte zum Verbrechen machen wollten. Weit eher hätten wir Grund, uns zu beschweren, wenn ihr sie uns nicht gewähren . wolltet. Denn uns, die wir in Gefahr und nicht eure Feinde sind, würdet ihr abweisen, die Feinde aber, die euch zu Leibe wollen, gewähren lassen und ihnen sogar gestatten, ihre Streit­ kräfte aus eurem Reiche zu ergänzen. Und das wäre sehr un­ recht. Entweder müßt ihr ihnen die Werbung bei euch ver­ bieten oder auch uns irgendwie unter die Arme greifen, wo­ möglich uns offen als Bundesgenossen annehmen und uns mit eurer Flotte zu Hilfe kommen. Wie wir schon angedeutet, bieten auch wir euch mancherlei Vorteile. Vor allem haben wir beide dieselben Feinde, und das ist ja doch der beste Kitt eines Bündnisses, und zwar Feinde, denen es nicht an Macht fehlt, uns unseren Übergang zu euch entgelten zu lassen. Auch sind wir keine Landmacht, sondern bringen euch eine Flotte mit, und eS kann euch nicht gleichgültig sein, daß euch die entgeht, wenn ihr das euch angebotene Bündnis von der Hand weist. Womöglich solltet ihr überhaupt nicht leiden, daß jemand außer euch eine Flotte hätte, wenn ihr das aber nicht hindern könnt, wenigstens den, der die stärkste hat, auf eure Seite zu haben suchen.

„Solltet ihr unsere Vorschläge zwar an sich für vorteil­ haft halten, aber doch Bedenken tragen, darauf einzugehen, weil darin ein Vertragsbruch liegen könnte, so können wir euch versichern, daß diese Bedenken auf den Gegner erst recht Ein­ druck machen werden, wenn die nötige Macht dahintersteht, einen mächtigen Feind aber wenig rühren würden, wenn ihr euch ohne sie lediglich darauf verlassen wolltet, uns die Tür gewiesen zu haben. Auch handelt es sich jetzt keineswegs nur um Kerkyra, sondern nicht minder um Athen; dem aber wäre schlecht damit gedient, wäre man hier kurzsichtig genug, sich lange zu besinnen, für den bevorstehenden, ja im Grunde schon auS­ gebrochenen Krieg sich das Bündnis eines Landes zu sichern, auf dessen Freundschaft oder Feindschaft so viel ankommt.

24
Kerkyra liegt besonders günstig für die Fahrt nach Italien und Sizilien; es kann einer von dort kommenden Flotte den Weg nach dem Peloponnes versperren und einer nach drüben gehenden als Stützpunkt dienen und bietet auch sonst noch mancher­ lei Vorteile. Kurzum, es kommt alles darauf hinaus, daß ihr uns nicht im Stich lassen dürft. In Griechenland gibt eS nur drei Flotten von Bedeutung, eure, unsere und die korinthische. / Laßt ihr eS zur Vereinigung der beiden kommen und die Korinther uns erst mal in den Sack stecken, so habt ihr es nachher mit Kerkyräern und Peloponnesiern zugleich zu tun; geht ihr aber mit uns ein Bündnis ein, so könnt ihr den Kampf durch unsere Flotte verstärkt gegen sie aufnehmen."

So redeten die Kerkyräer, nach ihnen aber die Korinther folgendermaßen: „Da die Kerkyräer nicht nur über Aufnahme in euren Bund geredet, sondern auch behauptet haben, daß sie unwürdig von uns behandelt und widerrechtlich mit Krieg überzogen würden, so müssen auch wir, bevor wir zur Sache kommen, zunächst auf beides eingehen, damit ihr von vornherein wißt, was wir wollen, und daß ihr guten Grund habt, ihre Bitte abzulehnen. Sie sagen, aus weiser Selbstbeschränkung hätten sie sich bis­ her mit niemand auf ein Bündnis eingelassen. Dem ist nicht so; sie haben das nicht aus Rechtlichkeit, sondern in böser Ab­ sicht getan. Sie wollten auf ihren schlechten Wegen keine Bundesgenossen zu Zeugen bei sich haben, vor denen sie sich hätten schämen müssen. Auch macht es die glückliche Insellage ihrer Stadt ihnen um so eher möglich, wo sie anderen unrecht tun, ihr eigener Richter zu sein, wenn sie durch keine Bundes- verträge gebunden sind; denn sie selbst kommen selten in die Lage, fremde Häfen aufzusuchen, während andere vielfach ge­ zwungen sind, Kerkyra anzulaufen. Die ehrbare Neutralitäts­ maske haben sie nicht angenommen, um sich nicht an fremdem Unrecht beteiligen zu müssen, sondern um auf eigene Hand Unfug treiben, andere, wo sie die Macht haben, vergewaltigen oder, wo es niemand merkt, übervorteilen und bei jeder Gelegen­ heit unverschämt zugreifen zu können. Wären sie wirklich die

25
Biedermänner, wie sie behaupten, so hätten sie als solche um so eher ihr Licht leuchten und Recht Recht sein lassen sollen, je weniger andere ihnen beikommen können.

„So aber haben sie sich weder gegen uns noch gegen andere benommen. Obgleich unsere Kolonie, haben sie sich völlig von uns getrennt und führen jetzt Krieg mit uns, indem sie sagen, sie seien nicht dazu ausgesandt, um schlecht von uns behandelt zu werden. Wir aber sagen, daß auch wir sie nicht ausgesandt haben, um uns von ihnen mit Füßen treten zu lassen, sondern um unseren Rang als Mutterstadt ihnen gegen­ über zu behaupten und die uns gebührenden Ehren zu genießen. Alle unsere anderen Kolonien geben uns diese Ehren, und niemand hält lieber zu unS als unsere alten Landsleute. Wenn aber die anderen alle mit uns zufrieden sind, so beweist das eben, daß sie keinen Grund haben, allein mit uns unzufrieden zu sein, und daß wir uns nur infolge ausgesuchter Beleidi­ gungen zu diesem unnatürlichen Kriege gegen unsere eigene Tochterstadt entschlossen haben. Ihnen hätte es Ehre gemacht, selbst wenn wir gefehlt, unsere Empfindlichkeit zu schonen, uns aber zur Schande gereicht, solcher Bescheidenheit gegenüber dann doch Gewalt zu gebrauchen. In ihrem Übermut aber und auf ihren Reichtum pochend, glauben sie sich alles gegen uns erlauben zu können, und so haben sie jetzt auch Epidamnos, das uns gehört und um das sie sich, solange es in Not war, nie bekümmert hatten, als wir ihm zu Hilfe kamen, eingenommen und sich gewaltsam angeeignet.

„Weiter sagen sie, sie seien bereit gewesen, sich einer schieds­ richterlichen Entscheidung zu unterwerfen. Aber das hat ja nichts zu bedeuten, wenn einer das erst vorschlägt, nachdem er sein Schäfchen schon geschoren und nichts mehr davon zu be­ fahren hat. Da muß man sich doch, ehe man zu den Waffen greift, mit dem Gegner auf gleichen Fuß stellen. Sie aber sind mit dem schönen Vorschlage eineS Schiedsgerichts erst hervorgetreten, als sie die Stadt schon belagerten und über­ zeugt waren, daß wir dem nicht ruhig zusehen würden. Und nicht genug an dem dort begangenen Unrecht, jetzt kommen sie

26
auch hierher und möchten euch gern zu ihren Bundesgenossen, sagen wir gleich, zu ihren Mitschuldigen machen und in ihrem Streit mit uns von euch in Schutz genommen werden. Damals hätten sie kommen sollen, als sie noch nichts zu fürchten hatten, nicht erst jetzt, wo sie es mit uns verdorben haben und eS ihnen an den Kragen geht. Damals in ihrer Macht habt ihr von ihnen nichts gehabt, und jetzt in der Not sollt ihr ihnen helfen. Damit aber würdet ihr euch uns gegenüber gleich ihnen ins Unrecht setzen, auch wenn ihr an ihren Vergehungen keinen Teil habt. Hätten sie sich seinerzeit mit euch eingelassen, so würde ihnen das jetzt von selbst zugute kommen.

„Damit haben wir euch bewiesen, daß wir ein Recht haben, uns über sie zu beschweren, sie dagegen Räuber und Schelme sind. Nun müssen wir euch auch noch zeigen, daß ihr nicht das Recht habt, sie zu Bundesgenossen anzunehmen. Wenn es nämlich in dem Vertrage heißt, daß es den unein­ geschriebenen Staaten freistehen solle, sich nach Belieben einem der beiden Bündnisse anzuschließen, so ist das nicht so gemeint, daß sie das auch dann dürfen, wenn es einem Dritten zum Schaden gereicht, sondern es bezieht sich nur auf den Fall, wo einer Schutz begehrt, ohne sich damit bestehenden Verpflich­ tungen zu entziehen, und der um Schutz angegangene Staat, falls er nur sonst vernünftig handelt, nicht zu besorgen hat, dadurch aus dem Frieden zu fallen und in Krieg verwickelt zu werden. Das aber habt ihr zu gewärtigen, wenn ihr nicht auf uns hört; denn ihr würdet als ihre Beschützer auch unsere Feinde werden, statt daß ihr jetzt Frieden mit uns habt. Denn geht ihr mit ihnen, so sind wir selbstvertsändlich genötigt, euch so gut wie sie zu bekämpfen. Wollt ihr korrekt handeln, so müßt ihr neutral bleiben oder aber mit uns gemeinschaftliche Sache gegen sie machen. Mit Korinth habt ihr doch wenigstens Frieden, zwischen Kerkyra und euch dagegen hat niemals, auch nur für kürzere Zeit, etwas Derartiges bestanden. Führt es nicht ein, abgefallene fremde Orte in Schutz zu nehmen! Damals, als die Samier von euch abgefallen und die Meinungen im Peloponnes geteilt waren, ob man ihnen beistehen solle, haben

27
wir uns auch nicht gegen euch erklärt, sondern entschieden dafür ausgesprochen, daß es keinem verwehrt sein dürfe, seine Bundes­ genossen im Zaume zu halten. Nehmt ihr jetzt dieses Volk in Schutz, das sich so ungebührlich gegen uns benimmt, so werdet ihr erleben, daß eure Bundesgenossen erst recht zu uns über­ gehen. Eure Neuerung würde also mehr zu eurem eigenen als zu unserem Schaden gereichen.